Allein gegen die Welt: Vom Werden eines Dichters
Hermann Hesses Briefe 1881-1904
Von Norbert Kuge
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRechtzeitig zum 50. Todestag des Dichters Hermann Hesse legt der Suhrkamp-Verlag den ersten der auf 10 Bände angelegten großen Ausgabe der Briefe von Hermann Hesse vor. Dieser Band mit circa 300 Briefen umfasst den Zeitraum von 1881 bis 1904, also von seiner Kindheit bis zu seinem ersten großen Erfolg als Dichter.
In einem sehr ausführlichen und informativen Vorwort erläutert der ausgewiesene Hesse-Experte und Herausgeber unzähliger Texte von und über Hesse, Volker Michels, die Auswahlprinzipien des Bandes. Zwar war gerade diese Zeit bisher schon durch die beiden Bände „Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundertzehn“ sehr gut dokumentiert, aber Volker Michels hatte zusammen mit seiner Frau seit den siebziger Jahren im Nachlass von Hermann Hesse geforscht und mit Zeitungsanzeigen nach Briefen von ihm gesucht und so war eine große Anzahl von bisher unbekannten Briefen zusammengekommen. Um Doubletten zu vermeiden, hat er die Briefe, die schon in der erwähnten Ausgabe abgedruckt waren, nur in Auszügen publiziert und bei unwichtigen Briefen ganz weggelassen. Es sind ausschließlich Briefe Hesses publiziert, nur im Anhang sind zum besseren Verständnis der Briefe manchmal einige Gegenbriefe abgedruckt. Zudem wird im Anhang über die meisten Briefempfänger informiert.
Was macht diese Briefedition so überaus interessant und spannend? Es sind Zeugnisse der Entwicklung eines sensiblen Kindes in einem religiösen Umfeld, der den erwarteten Werdegang im Sinne der Familie und Religion verweigert, sich stattdessen zum Dichter berufen fühlt und diesen Weg auch gegen alle Widerstände geht. Diesen schweren Weg von dem zunehmend schwierigen und rebellischen Jugendlichen bis zum erfolgreichen Dichter dokumentieren diese Briefe, und der Leser kann viele Motive des späten Hesse bereits in diesen frühen Zeugnissen entdecken. Es beginnt ganz unspektakulär aber bezeichnend mit einem Brief des 4-jährigen Hermann an seinen Vetter Hermann Gundert, den seine Mutter für ihn schrieb und in dem er stolz verkündete, dass er dem Doktor, der seine Zunge sehen wollte, weil er schrecklichen Husten hatte, diese nicht gezeigt und er auch nicht den bitteren Tee getrunken habe. Schon der Vierjährige zeigte schon den Eigensinn, für den der reife Dichter berühmt werden sollte.
Dann geht es nach 3 kurzen Mitteilungen 1890 weiter, jetzt nehmen Schule und sein Lernpensum den Raum der Briefe ein. Hesse befand sich bei Rektor Bauer in Göppingen zur Vorbereitung auf das Württembergische Landexamen, die Voraussetzung, um dann in einem Seminar wie Maulbronn auf Kosten des Landes Württemberg das Abitur zu erwerben und Pfarrer zu werden. Gerade die Berichte aus dieser Zeit und auch spätere Briefe belegen, dass Hesse durchaus Spaß am Lernen haben konnte, wenn der Unterricht nur abwechslungsreich und interessant war, dann kann er sogar fröhlich und stolz dem Großvater in Litauen einen in lateinischer Sprache verfassten Brief schreiben. Die Mühen des Lernens haben sich gelohnt, Hesse besteht das Landexamen als 28. und geht nach Maulbronn, wo in einem alten mittelalterlichen Kloster das Seminar untergebracht ist.
Auch hier nimmt zu Beginn alles seinen normalen Gang, nichts deutet auf eine Katastrophe hin. Hermann berichtet den Eltern und Vettern in durchaus originellen und lustigen Briefen von seinen Studien, beschreibt ausführlich den streng geregelten Tagesablauf und charakterisiert seine Stubenkollegen. Auch legt er immer wieder kleine verfasste Gedichte bei und scheint sich durchaus wohlzufühlen. Dann der bekannte Schock und Bruch im Leben des jugendlichen Hesse, er flieht ohne äußeren Anlass aus Maulbronn und wird bereits am nächsten Tag von einem Gendarm aufgegriffen und nach Maulbronn zurückgebracht. Nun beginnt die Leidenszeit des jungen Hermann Hesse und es folgen erschütternde, verzweifelte, aber durchaus berührende Briefe und Berichte des psychisch und physisch außer sich geratenen Jugendlichen.
Er klagt über Kopfschmerzen, Überlastung, klagt die Eltern wegen ihrer Strenge und Religiosität an, beschafft sich einen Revolver und will sich erschießen. In diesen Briefen sind viele der Motive, Ansichten und Umstände bereits verzeichnet, die er später in Romanen wie in „Unterm Rad“, in der Kurzprosa „Kindheit eines Zauberers“ und im „Kurzgefassten Lebenslauf“ sowie in anderen Texten aufgreift und dichterisch umsetzt. Diesen Briefen, und seinen darin ausgedrückten Problemen und dem Leid kann sich der Leser nicht entziehen.
Sicher überzieht der Jugendliche die Vorwürfe an die Eltern, die in ihrem pietistischen Glauben verankert und mit der Rebellion des Jugendlichen völlig überfordert sind. Dies sieht Hesse in späteren Briefen ein, bittet immer wieder um die Liebe der Mutter und versöhnt sich mit seinen Eltern, ohne jedoch von seinem Weg abzugehen. Seine Religion ist die Dichtung, ob die Eltern dies akzeptieren oder nicht. Doch zuerst muss er noch die unzumutbaren Zustände in der Heilanstalt Stetten ertragen, von wo er wiederum wütende und sarkastische Briefe an die Eltern, insbesondere an den Vater schreibt und erneut Selbstmordabsichten äußert.
Ganz hart trifft es ihn, dass in Maulbronn die Eltern seines besten Freundes von diesem verlangen, den Kontakt zu dem Rebellen abzubrechen. Hesse fühlt sich völlig allein, unverstanden, leidet unter Kopfschmerzen und verzweifelt selbst manchmal an seinem psychischen Zustand. Am ehesten äußert noch der Großvater Verständnis für sein Verhalten. Als verrückt abgestempelt, fühlt er sich allein und hasst die Welt, wie er in einem Brief an den Vater schreibt. Nachdem die Eltern ein Einsehen haben und ihn wieder nach Hause holen, wird er nach Cannstatt auf das dortige Gymnasium geschickt, das er mit der mittleren Reife beendet.
Ein weiteres Verbleiben auf dem Gymnasium ist wegen dauernder großer Kopfschmerzen unmöglich. Auch den anschließenden Versuch einer Ausbildung als Buchhändler bricht er nach wenigen Tagen ab. Erst ein Praktikum in der Calwer Uhrenfabrik Perrot vermag überraschenderweise die Psyche des jungen Hesse etwas zu beruhigen. Aus dieser Zeit stammt auch sein Respekt vor den Handarbeitern, während er den politischen Organisationen der Arbeiterbewegung skeptisch gegenübersteht. Daneben beginnt er auch sein ausgedehntes, ja exzessives Lesen der Literatur. Was er von nun an und in den nächsten Jahren alles liest, ist kaum zu glauben. Die deutsche Literatur des Sturm und Drang rezipiert er, vor allem Klassik, aber auch Romantik und aktuelle Autoren. Natürlich aber auch die Klassiker der Weltliteratur, von Dostojewski über Tolstoi, Cervantes, Dickens, bis hin zu Shakespeare. Diese Lektüre verweist bereits auf die späteren Rezensionen und Lektüreeindrücke, deren Niederschrift fast ein Drittel seines Werkes ausmachen werden, hier ist die Wurzel dieser Leidenschaft. Genau wie auch das Briefeschreiben immer ein Herzstück seiner literarischen Produktion sein wird, circa 40.000 Briefe wird dieser Bestand schließlich umfassen. Erst schreibt er vornehmlich an die Eltern, an Freunde aus dem Seminar oder an den ehemaligen Lehrer Dr. Kapff und andere Familienmitglieder. Später kommen Briefe an Freunde, Verleger und an andere Schriftsteller wie Stefan Zweig hinzu.
Seit seiner Ausbildung als Buchhändler sind die Briefe aber wesentlich gelassener, berichten über die Arbeit als Buchhändler, über die anderen Mitarbeiter und vor allem über seine Lektüre. In diesen Briefen zeigt er eine für sein Alter und Ausbildung überraschende Reife und Sicherheit in seinem Urteil und auch in der Bandbreite seiner Lektüre. Schnell wird Goethe sein absolutes Vorbild, während er Schiller als zu heftig charakterisiert. Von der dieser Einstellung wird er nicht mehr abweichen.
Immer wieder schickt er auch Gedichte oder sogar Veröffentlichungen, aber von seiner Mutter kam kein Lob, sondern die Aufforderung, sein Dichten in den Dienst Gottes zu stellen. Dies ist jedoch für ihn unmöglich geworden.
Zwischenzeitlich taucht immer mal wieder die Absicht auf, nach Brasilien auszuwandern, was jedoch aus finanziellen Gründen unmöglich ist. Je mehr er durch seine Tätigkeit und seinen Verdienst unabhängig wird und auch literarisch Erfolg hat, verschwindet diese Option aus seinem Horizont. Als er dann 1903 den „Peter Camenzind“ schreibt und im S. Fischer Verlag damit seinen ersten großen Erfolg hat, man kann im heutigen Sinne von einem Bestseller sprechen, sieht er seine Zukunft endgültig im deutschen Sprachraum und in der Literatur. Der vorliegende erste Briefband zeigt noch einmal den Hermann Hesse, wie er von vielen gesehen wird, als jugendlichen Rebell und unbeirrbaren Verfechter des Eigensinns. Aber dieser Autor ist mehr als das, hier zeigt sich die Bandbreite seiner Themen und Probleme, auch durch realistische Selbsteinschätzungen, wie sein Desinteresse an Politik und an Geselligkeit. An den Briefen lässt sich diese Entwicklung ablesen und viele Motive des späteren Werks können bereits hier erkannt und besser verstanden werden. Es wäre schön, wenn diese Briefe viele Leser motivieren könnten, einen großen deutschen Schriftsteller neu oder wiederzuentdecken. Diese Briefausgabe, die wie alle Briefbände Hesses hervorragend kommentiert ist, kann nur jedem Leser empfohlen werden.
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