„Rettung des Hoffnungslosen“

Der Frankfurter Germanist Hartmut Scheible veröffentlicht in „Kritische Ästhetik“ Herzstücke seiner bisherigen Publikationstätigkeit

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht immer ist ein Klappen- und Umschlagstext der Beachtung wert, doch im Fall der „Kritischen Ästhetik“ des emeritierten Frankfurter Germanisten Hartmut Scheible schon; denn man darf annehmen, dass hier nicht schnöder Verkaufszweck, sondern sehr bewusste programmatische Absicht des Autors die Wahl bestimmt hat. Also steht auf dem Umschlag des hier zu besprechenden Sammelbandes zu lesen: „Sollten die Menschen sich beschränken auf das Streben nach Glückseligkeit (im Sinne des Guizot zugeschriebenen Aufrufs Enrichissez-vous, der das Verhältnis des Kapitalismus zu Vernunftzwecken auf die kürzestmögliche Formel bringen wird) und in der Immanenz des vernunftlosen Naturzusammenhangs befangen bleiben wollen, so wird sich herausstellen, daß die Möglichkeit, in dieser Immanenz als ein Naturwesen unter anderen auf Dauer zu verharren, ihnen nicht gegeben ist. Die Regression ist möglich, Leben in der Regression nicht.“

Scheibles Buch stellt frühere – in der Regel für diese Veröffentlichung überarbeitete – Texte oder Buchauszüge zusammen (bei einem Text – „Adorno 2003“ – handelt es sich um eine Erstpublikation) und ist, wie verlautet, vom Verlag Königshausen & Neumann anlässlich des 70. Geburtstag des Autors auf den Markt gebracht worden.

Das Zitat des Umschlagstextes entstammt dem langen Kapitel „Die Emanzipation des Ästhetischen durch Kant. Geschmack und Gemeinsinn“, welches wiederum Scheibles „Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter“ (1984) entnommen ist. Dieses große Werk, das man wohl als Vorläuferwerk bezeichnen darf, hatte mit dem Satz geschlossen: „Die Wahrheit über die Realität auszusprechen, ohne dabei die Möglichkeit zu ersticken, über diesen Zustand hinauszudenken: diese paradoxe Forderung ergeht an die Kunst der Gegenwart. Ob sie sie zu erfüllen vermag, ist so offen wie die Frage, ob es möglich sei, ohne Hoffnung auf Transzendenz die Wirklichkeit zu transzendieren.“

Hier also – im Hinblick auf die apokalyptisch-aporetischen Gedanken Adornos – die Frage, wie der Kunst ein Transzendieren ohne Hoffnung auf Transzendenz möglich sei; dort – im Hinblick auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ – das Postulat, nicht in der Immanenz (des kapitalistischen Naturzusammenhangs) zu verharren. Mit dieser metaphysisch-geschichtsphilosophischen Perspektivierung wäre wohl der Raum des Scheible’schen Ästhetik-Denkens nicht schlecht erschlossen. Und wenn der Klappentext unverzagt von „Kapitalismus“ und dem in der Kritischen Theorie wohlbeheimateten „Naturzusammenhang“ spricht, mag das als Indiz dafür gelten, dass – bei aller Distanz – Scheibles Rezeption der Frankfurter Schule, speziell der „Ästhetischen Theorie“ Adornos, nicht folgenlos geblieben ist.

Warum jedoch „Kritische Ästhetik“? Deshalb, weil, wie der Autor in seiner Einleitung ausführt, die ästhetikgeschichtliche Entwicklung es so erzwungen hat: Zwar sei der objektive Idealismus Hegels unrettbar „erledigt“, welcher der Kunst ihren – vernunftaffinen – Status im Ganzen des weltgeschichtlichen Prozesses habe noch zuweisen können; nichtsdestoweniger aber und gerade infolge der Entsubstantialisierung der Wirklichkeit sei der Kunst die Last der – letztmöglichen – Wahrheitsträchtigkeit aufgebürdet worden. Da aber die Kunst Wahrheit einer dem Wesen nach ideenlosen Welt sein sollte, wurde sie zum bloßen Schein, zum Schein eines nicht existierenden Seins, und der Ästhetizismus setzte sich zu Gericht über die Wahrheit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Wahrheit. Scheible schreibt: „Je krasser zutage tritt, daß hinter der Welt der Erscheinungen keine Idee steht, desto unversöhnlicher wird die Kritik, die die Kunst an der Realität übt, bis schließlich die Kunst zur einzigen Instanz wird, die ein Gegenüber zur Welt, wie sie ist, abgibt. Diesen Weg der kritisch gewordenen Ästhetik in seinen bedeutendsten Repräsentanten nachzuzeichnen ist das gemeinsame Thema der in diesem Band versammelten Arbeiten.“

Bei den von Scheible angesprochenen „bedeutendsten Repräsentanten“ handelt es sich gemäß der Reihenfolge seines Inhaltsverzeichnisses um Immanuel Kant, Georg Simmel, Georg Lukács, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, wobei der letztgenannte fast die gesamte zweite Hälfte des Buches bespielt. Ja, Hartmut Scheible hatte 1989 die bei Rowohlt erschienene Adorno-Bildmonografie verfasst, und in diese Bildmonografie waren seinerzeit Teile aus dem hier aufgenommenen Aufsatz „Dem Wahren Schönen Guten. Adornos Anfänge im Kontext“ importiert worden.

Scheible entwirft ein mit Gelehrsamkeit recherchiertes Panorama der geistigen Situation der Zeit der Weimarer Republik, in der unterschiedlichste Ideengebilde wie etwa die Soziologie Max Webers, die resignative Kulturtheorie Oswald Spenglers, der Neukantianismus (Adornos Lehrer Hans Cornelius), jüdischer Messianismus mit marxistischen Aspirationen (Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Georg Lukács), Expressionismus und insbesondere auch die musikalischen Neuerungen Arnold Schönbergs und Alban Bergs (Adornos Kompositionslehrer) in einem Modernitätsagglomerat aus Modernismen und Antimodernismen neben-, gegen- und ineinanderstanden und die Seele des hochgeistigen und hochsensiblen jungen Intellektuellen Theodor Wiesengrund zu dem formten, was später unter dem Markennamen „Adorno“ Parolencharakter bekommen sollte.

Am Ende steht – nach Stalinismus, Auschwitz und Hiroschima – das Ende: „[M]it Adornos Ästhetik wird der letzte Rest dieser Offenheit [i. e. der freisetzenden „ästhetischen Idee“ aus der „Kritik der Urteilskraft“ Kants] verschwunden sein“. Heute gilt, so Hartmut Scheible, Adorno zitierend: „ [K]ein Kurzschluß hilft, und was hilft, ist dicht zugehängt.“

Dieses resignative Urteil stammt aus Adornos allerletzter Arbeit „Marginalien zu Theorie und Praxis“ von 1969. Er starb im selben Jahr und hinterließ eine enorm heikle Erbschaft, die, so der Rezensent es richtig versteht, Hartmut Scheible nicht auszuschlagen gewillt war.

Jetzt, 2012, beschließt Emeritus Scheible sein Vorwort zur „Kritischen Ästhetik“ mit der zuversichtlicher stimmenden Sentenz: „Glücklicherweise braucht jedoch das letzte Wort Adornos über die Ästhetik nicht zugleich das letzte Wort über die Kunst zu sein.“ Es will scheinen, als konvergiere die „Kritische Ästhetik“ am innigsten da mit Adornos „Ästhetischer Theorie“, wo es um die Pointierung des „Nichtidentischen“ geht, also um die Hinneigung zu jenen Momenten innerhalb eines konstruktiven Zusammenhangs, die sich vereinnahmender rationaler Verwaltung, dem Machtanspruch eines wie auch immer gegebenen Ganzen, widersetzen. Hier mag man sich fragen, warum der dänische Philosoph Sören Kierkegaard im Denken Scheibles kein größeres Gewicht zugestanden bekommt.

Scheible mag Adornos „These der Einheit von ästhetischer Theorie und Gesellschaftstheorie“, welche der Kunst in hoffnungslosen Zeiten den Atem nimmt, nicht unterschreiben. Demgegenüber erkennt er ein utopisches Ferment in Kants „ästhetischen Ideen“, insofern die subjektive Einbildungskraft in ihnen ihren Spielraum findet; und zwar so, „daß, was über die Begriffe hinausgeht, unverloren bleibt“. Trotzdem appelliert die „Kritik der reinen Urteilskraft“ nicht an die produktive Willkür individuell-„genialischen“ Eigensinns, sondern an den in „eine[r] neue[n], zwangfreie[n], den Menschen gemäße[n] Sittlichkeit“ gründenden Gemeinsinn.

Mit den Worten des Kapitels „Was ist eigentlich rettende Kritik? Bemerkungen zu Berg, Benjamin und Adorno“ formuliert: Auch Scheible spricht dem „Motiv der Rettung des Hoffnungslosen“ „zentrale Bedeutung“ zu. Da aber von „Rettung“ (es ist dies eine theologisch tingierte Vokabel) nur unter der Voraussetzung der Unterscheidung zwischen Schein und scheinloser Wahrheit gesprochen werden kann und da zur Unterscheidung beider ein „theologische[r] Hintergrund“ vonnöten wäre, verrennt sich der „Kritischen Ästhetik“ zufolge die – bloß kryptotheologische – Kritische Theorie in eine „endlose Serie von Negationen“.

Inzwischen, knapp drei Dekaden nach dem Erscheinen von „Wahrheit und Subjekt“, ist mehr und mehr öffentlich geworden, dass Max Horkheimer und Adorno im schlicht menschlichen Verständnis alles andere als integre Personen waren; – ein Befund, den Hartmut Scheible wohl in seinem Entschluss bestärkte, mit solchen Personen nichts mehr zu tun haben zu wollen. Eine der vielen Ungeheuerlichkeiten, welche Scheibles Vertrauen in die Hinnehmbarkeit von Ein- und Auslassungen der Vertreter der Frankfurter Schule nachhaltig zerstört haben wird, bringt er in der letzten Fußnote zum Aufsatz „Adorno 2003“. Adorno hatte am 26. September 1943 im US-Exil an die Eltern geschrieben: „Ich habe nichts gegen die Rache als solche, wenn man auch nicht deren Exekutor sein möchte – nur gegen deren Rationalisierung als Recht und Gesetz. Also: möchten die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für Juden.“ Am 1. Mai 1945 kommentierte Adorno die Situation im fernen Deutschland: „Alles ist eingetreten, was man sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt, Millionen von Hansjürgens und Utes tot.“

Das für mich vielleicht berührendste und feinste Kapitel in Hartmut Scheibles „Kritische Ästhetik“ befasst sich in Form eines Exkurses mit Gustav Graf Schlabrendorf. Der Exkurs ist übertitelt „Civis civitatem quaerens. Gustav Graf Schlabrendorf und die Sprache der Republik“. Dieser 1750 in Stettin geborene Mann wird von der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ als „philanthropischer Sonderling“ bezeichnet, was allein ausreichen könnte, Sympathie zu empfinden. Der aufklärerische und fromme Menschenfreund lebte ab 1789 in der französischen Hauptstadt, stand den Girondisten nahe und entkam nur knapp dem Schafott. Selbstlosigkeit und Freigebigkeit zeichneten den aus seiner Einsiedelei die Revolutionsereignisse unbestechlich beobachtenden „Diogenes von Paris“ ebenso aus wie eine ausgeprägt republikanische Gesinnung: „[D]enn der Mensch entbehrt des höchsten Lebensreizes, wenn er nicht einem freien Gemeinwesen in tätiger Mitwirkung und höchster Selbständigkeit angehören kann.“

Früh schon ahnte Schlabrendorf den Despotismus Napoleons voraus und dechiffrierte die „Trivialisierung“ der Volksfeste als Indizien republikanischen Niedergangs. Er sah „vielerlei kleine Buden für Gaukler, Taschenspieler, Possenreißer, Pantalonen und Skaramuze erbaut“ und erkannte darin die Absicht der „Entmündigung des Volkes“. Der Graf kultivierte seinen Geist in ähnlichem Maße, wie er auf seine äußere Erscheinung nicht achtgab. Er starb am 21. August 1824, und da er über keine Barmittel mehr verfügte, musste die preußische Gesandtschaft für sein Begräbnis aufkommen.

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Hartmut Scheible: Kritische Ästhetik. Von Kant bis Adorno.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
382 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826044854

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