Ich kann nicht lügen

Michael Frayn begeistert mit einem Roman über einen Hochstapler

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben eines Hochstaplers ist ja so einfach: Man steht am Flughafen, gerade angekommen, und da hält eine bezaubernde junge Dame ein Schild hoch, auf dem steht: „Dr. Norman Wilfred.“ Ja, und dann kann man nicht anders: Man ist einfach Dr. Wilfred. Die Gelegenheit ist zu günstig. Und wer weiß, was sich ergibt. Wenn es gut geht, hat man Glück gehabt. Wenn es schlecht ausgeht (und es geht eigentlich immer schlecht aus), hat man wenigstens ein bisschen Spaß gehabt.

So in etwa denkt Oliver Fox. Und als er auf dem kleinen Flughafen auf der griechischen Insel Skios die „dezent gebräunte, dezent blondierte“ Nikki Hook sieht, die sich nur einmal einen atttraktiven Vortragenden wünscht, den sie abholen und betreuen muss, deren Herz dann schon einen kleinen Satz gemacht hat, als sie ihn gesehen hat, die schon dachte „Wenn ich ganz fest dran glaube, dass er es ist, dann ist er es vielleicht“ – da kann er nicht anders: Er bleibt stehen und lächelt sie an: „O nein! dachte Nikki. Er ist es!“ Und als sie fragte: „Dr. Wilfred?“, konnte er nur sagen: „Ich kann nicht lügen.“

Die Kunst des Hochstapelns ist nämlich vor allem, die Erwartungen des anderen nicht zu enttäuschen. Man wird zu dem, den alle sehen wollen. Und wenn sie es glauben, kann man den größten Stuss erzählen. Wenn man es charmant genug macht, denken sie nur, man wäre vielleicht ein wenig exzentrisch oder ein bisschen zu tiefgründig für den Normalverstand. Also glaubt jeder, dass er wirklich Dr. Wilfred ist. Weil er es glauben will. Und weil sich niemand die Blöße geben will, laut zu sagen, dass das ja doch Stuss ist, was der da erzählt.

Und so wird Oliver Fox als berühmter Wissenschaftler zur renommierten Fred-Toppler-Stiftung mitgenommen, und der richtige Dr. Wilfred steigt in ein griechisches Taxi und wird in ein Haus gefahren, von dem er annimmt, es sei das Gästehaus. Oliver bekommt gesagt, welche Terrassentür nachts noch offen ist (nämlich die von Nikki), und Dr. Wilfred entspannt sich in einer Badewanne und wartet auf seinen Koffer. Der ist nämlich verschollen.

Und damit beginnt ein noch größeres Durcheinander im neuen Buch von Michael Frayn. Denn aus Versehen hat Oliver diesen Koffer mitgenommen, dummerweise denkt Georgina, die in dem Haus wohnt, in dem Dr. Wilfred ist, ihr Geliebter Oliver wäre angekommen, und wird hysterisch, als sie dem Falschen gegenübersteht. Und dann kommt noch Annuka Vos dazu, auch eine Geliebte von Oliver, und auch Georginas Freund taucht kurz auf und wieder ab. Zwei weitere Koffer, zwei fast gleichaussehende Taxifahrer, die Tagung mit lauter Reichen und Erfolgreichen, die Versuche von Oliver, mit Nikki ein Verhältnis anzufangen, und seine Versuche, aus der Situation herauszukommen, das alles ist ein philosophisches Durcheinander von Existenzen, Lebensentwürfen und zerplatzenden Seifenblasen.

Denn Frayns Buch ist nicht nur eine sich immer mehr überschlagende Komödie, sondern auch ein Spiel um Identitäten und Lebensläufe. Schon am Anfang überlegt Oliver, was wohl wäre, wenn sein Name wirklich Dr. Oliver wäre: Wäre er dann nicht vielleicht ein solider Landarzt, fröhlich und gutmütig? „Es konnte so sein oder aber anders oder ganz anders, als irgend jemand es sich vorstellen konnte – und alles hing ab von dem endlos in Bewegung befindlichen Treibsand, wer wer war und wann er wer war und wo.“ Und einmal entfleucht Dr. Wilfred die Formulierung: „Der Taxifahrer hat mir gesagt, dass ich Oliver Fox bin.“ Nicht gedankenschwer und tiefgründelnd, sondern leicht und witzig, frivol und mit Esprit spielt Frayn all diese Fragen durch: Das ist die hohe Kunst der Unterhaltung, wie man sie sich wünscht.

Titelbild

Michael Frayn: Willkomen auf Skios. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
288 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239760

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