Du musst dein Leben notieren

Mit „Zeilen und Tage“ gewährt Peter Sloterdijk unterhaltsame Einblicke in sein Alltagsdenken

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oftmals befindet sich in Notizen, die auf Tausenden Zetteln verstreut sind, die Essenz eines ganzen Lebens. Thomas Bernhard hat dies im literarischen Feld immer wieder thematisiert. Dass sich Notizen als Merkmale, Schriftzeichen oder Etiketten hervorragend eignen, das Denken und mit ihm das Leben hinter dem Denken zu ordnen und schließlich auch zu präsentieren, zeigt der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk in seiner neuesten Veröffentlichung, die im Untertitel den dargestellten Zeitraum abgrenzt: „Notizen 2008-2011“.

Sloterdijks erzählte Zeit von drei Jahren wird jedoch vom Titel weit überspannt, wenn man „Zeilen und Tage“ einerseits als Anspielung auf Hesiods um 700 v. Chr. entstandenes, episches Mahngedicht „Werke und Tage“, andererseits auf Marcel Prousts 1896 erschienenes, erstes Buch „Freuden und Tage“ versteht; so treffen sich griechischer und französischer Dichter im Denkkerker eines deutschen Philosophen.

„Zeilen und Tage“ ist sicherlich Sloterdijks persönlichstes Buch, weswegen es keineswegs dem üblichen Fachpublikum vorenthalten ist. Nein, mit diesem sehr gut lesbaren, oft verblüffend verständlichen, an vielen Stellen sehr elegant, treffend und plastisch geschriebenen Gedankenkonvolut gelingt dem Autor, dem „unfrisierbaren Oger, den man gelegentlich in nächtlichen Fernsehsendungen gesehen hat“ (7. August 2008), die Gratwanderung zwischen U- und E-Literatur (sofern eine derartige Trennung noch aufrechtzuerhalten ist), zwischen philosophischer Abhandlung, aphoristischer Weisheit und humorvoller Alltagsbeschreibung mit Bravour.

Die Worte „vitam continet una dies“, die Samuel Johnson, damals Hilfslehrer in Market-Bosworth, Leicestershire, seinem Freund Edmund Hector im Jahre 1732 klagend zukommen ließ, treffen in keinster Weise auf das höchst abwechslungsreiche Leben Peter Sloterdijks zu, das jedermann nur staunend zur Kenntnis nehmen kann: In seinen „datierten Notizen“ – so die eigene Klassifizierung des Autors – enthält kein einziger Tag das ganze Leben, immer ist der Vielbeschäftigte in neuen, weiteren Gedanken, an anderen Orten unterwegs. Sein Habitat ist der Heterotopos.

Sloterdijks Reisepensum dieser drei Jahre umfasst neben den ‚Heimatstationen‘ Karlsruhe und Wien, an denen der größte Teil der Notizen entstanden ist, nicht weniger als 82 weitere Orte, darunter Paris, Sils Maria, Monte Carlo, New York City, Mailand und Abu Dhabi. Kein Wunder also, dass sich auch resigniert klingende Einträge wie der folgende finden: „Sprunghaftes Leben, von Hotel zu Hotel, bis man den Ortswechsel nur noch an den verschiedenen Farben der Marmorbäder festmacht.“ (6. April 2011)

Der Leser begleitet den Denker und Permanentanalysten auf Schritt und Tritt, von Vorbereitungen zu Vorträgen, Seminaren oder Büchern, über Radtouren im In- und Ausland, Preisverleihungen, Traumaufzeichnungen, ein Abendessen in Gegenwart Königin Beatrix’ I., Hotelaufenthalte, wobei Sloterdijk einmal, am 27. Mai 2010, vom Concierge für einen Busfahrer gehalten wird, bis hin in den privaten Raum eines OP-Saals, in den es den Notierenden Anfang Dezember 2010 verschlägt: „Man trinkt einen Schierlingsbecher auf Zeit“, so seine Umschreibung der Anästhesie.

Oft stehen einzelne Zitate von Theokrit über Karl Marx und Albert Camus bis hin zu John Cage, Hugo von Hofmannsthal und Jaques Derrida unkommentiert, mahnend, neben längeren Passagen (der längste Eintrag ist mit gut sieben Seiten ein Auszug aus einer Festrede auf Bruno Latour, 28. September 2009), und man hat den Eindruck, als wäre Sloterdijk betrübt, auf ein solch treffendes Bonmot nicht selbst gekommen zu sein. Doch fast ebenso oft belehrt er den Leser eines Besseren, indem er eigene Aphorismen anführt, die sich in Qualität und Pointiertheit nicht hinter denen Nietzsches oder Ciorans verstecken müssen: „Akut-Anthropologie: Die Gattung wird immer dicker. Die adipöse Dynamik der Menschheit ist ein Verfall, der als Zunahme erscheint“, heißt es am 21. Juli 2009.

Die philosophischen Ausführungen, die oftmals von Lektüreeindrücken, von Büchern, Zeitungen oder Fernsehdokumentationen (bevorzugt auf arte), ja sogar vom KLM-Bordmagazin, ausgelöst werden, erinnern in ihrer Luzidität an Hans Blumenbergs Vignetten, etwa wenn Sloterdijk am 17. Januar 2011 auf knapp einer Seite den Bogen spannt vom Ausdruck „Fossile Brennstoffe“ über Max Weber, Wilhelm Ostwald und Martin Heidegger, um zu resümieren: „Ein realiter transzendierendes Wesen wäre physikalisch von der Ressourcenknappheit emanzipiert. Es wäre ökonomisch mit der Vollmacht zur Verschwendung ausgestattet und könnte sich existentiell an Unsterblichkeit orientieren.“ Hier sieht man die Fortführung der Metaphorologie am Werk.

Sloterdijks Allesnotieren ist ein Alleskommentieren der originellsten Art. Doch die knapp 640 Seiten zeigen keineswegs die volle Ernte dreier Jahre. Wie man aus der Vorbemerkung erfährt, überwiegt das Ausgelassene „das Beibehaltene etwa im Verhältnis drei zu eins“. Es handelt sich demnach um ein Kondensat, ein subjektives Best-of, das auch als objektives Meisterwerk wahrgenommen wird, auch wenn – so Sloterdijk zu seinen Auswahlkriterien – Merkwürdiges, Amüsantes, Peinliches oder Belangloses nicht immer klar zu identifizieren waren. Gerade die Kategorienverwechslungen machen die Lektüre der bearbeiteten Notizen zu einer höchst abwechslungsreichen.

Am 16. Februar 2009 vermerkt Sloterdijk, wohl unter Einfluss der tristen Situation in Boston: „Seit jeher lag es mir fern, für meine Arbeit Interesse wecken zu wollen, ich stamme aus einer Zeit, in der die Autoren dummerweise dachten, die Leser müßten sich auf den Weg zu den Büchern machen, nicht die Verfasser auf den Weg zu den Lesern.“ Dass der Autor mit „Zeilen und Tage“ Leserströme erwarten dürfte, steht fest. Mit seinen Notizen wird er ein neues Publikum erschließen, das dieses Buch als Einleitung und Hinführung in beziehungsweise als Annäherung an die Gedankenwelt eines oftmals als hermetisch oder quacksalberisch apostrophierten okulten Philosophen nimmt. Nie stand jemandem die „Peinlichkeit des Ich-Sagens“ so gut: Peter macht beste Werbung für Sloterdijk.

Titelbild

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
639 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423424

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