Lies, um zu leben!
"Eine Geschichte des Lesens" von Alberto Manguel
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieses nach seinem Erscheinen mit Recht viel gelobte Buch ist das Werk eines Universalgelehrten und eines begnadeten Erzählers zugleich. Es ist keine spröde Historie des Lesens von den Anfängen bis zur Gegenwart, sondern eine kunstvoll durchkomponierte Ansammlung von Geschichten. Sie bewegt sich zwischen ganz unterschiedlichen Zeiten und Kulturen hin und her und umfaßt nicht zuletzt die sehr persönliche Leserbiographie des Autors.
Das Buch simuliert damit den Akt des Lesens. Die Theorien darüber, wie dieser Akt funktioniert, haben eine eigene Geschichte. Manguel erzählt auch sie. Anders als es sich Empedokles und Aristoteles vorstellten, ist das Lesen, wie neurolinguistische Forschungen inzwischen gezeigt haben, kein fließender Prozeß, bei dem die Augen den Zeilen kontinuierlich folgen. Vor etwa einem Jahrhundert entdeckte der französische Augenarzt Émile Javal, daß der Blick auf der Seite umherspringt. "Um dem Zeichensystem eine Botschaft zu entnehmen", faßt Manguel zusammen, "nähere ich mich ihm zunächst in ziemlich sprunghafter Weise, mit wild umherzuckenden Augenbewegungen, dann rekonstruiere ich den Zeichencode, indem ich ihn eine Kette von Neuronengruppen durchlaufen lasse, die sich je nach Art der Lektüre anders zusammensetzt, und ich färbe den so entstehenden Text ein - mit Emotionen, Empfindungen, Eingebungen, Kenntnissen, Seele - , und alles hängt davon ab, wer ich bin und wie ich zu dem wurde, der ich bin."
Etwas von diesem Prozeß versucht die Komposition des Buches nachahmend zu veranschaulichen. Das erste Kapitel trägt paradoxerweise die Überschrift "Die letzte Seite", und hier erzählt der Autor eben davon, wie er zu dem wurde, der er ist. Der 1948 in Buenos Aires geborene, in England aufgewachsene Manguel ist kanadischer Staatsbürger. Er lebte und arbeitete in Paris, Mailand, London und Toronto, war Verlagslektor, Dozent, Übersetzer (ins Englische, Spanische und Französische), schrieb Essays, Kurzgeschichten und einen Roman ("Im siebten Kreis", 1991), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Ein Zuhause fand dieses Kind einer wenig seßhaften Diplomatenfamilie in der Literatur. Ohne larmoyante Untertöne lassen die autobiographischen Anteile des Buches durchblicken, daß die Suche nach dem Glück beim Lesen auch eine Leidensgeschichte zur Voraussetzung hat. Das Lesen gab "dem über mich verhängten Alleinsein einen Sinn, denn nach der Rückkehr nach Argentinien im Jahr 1955 verbrachte ich meine ganze Kindheit von der Familie getrennt, betreut vom Kindermädchen in einem abgelegenen Teil des Hauses. [...] Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einsam gewesen zu sein. Eher war es so, daß ich die Spiele und Gespräche der Kinder, mit denen ich selten genug zusammentraf, weit weniger aufregend fand als die Abenteuer und Gespräche in meinen Büchern."
In der Geschichte jedes einzelnen Lesers wiederholt sich etwas von der kollektiven Geschichte der lesenden Menschheit. Eine Fülle von Aspekten tut sich da auf: Der Prozeß des Lesenlernens, die Verschiebungen vom lauten zum leisen, vom gemeinschaftlichen zum einsamen Lesen, die Körperhaltung der Lesenden oder die Orte des Lesens, die Geschichte des Papiers, der Schrift und der Buchgestaltung, die Organisation des Wissens in Bibliotheken, die Metaphorik des Lesens, der die ganze Welt als Buch erscheint, das Prestige des Buches als Zeichen gleichsam göttlicher Weisheit, Bücherverbote und Bücherverbrennungen - davon und über vieles mehr gibt Manguel reichhaltige Auskünfte.
Das liebevoll illustrierte Buch, mit dem der Autor nebenbei das Lesen von Bildern lehrt, ist vor allem auch eine Fundgrube wunderbar anschaulicher Zitate und Anekdoten. Was beispielsweise die Geschichte des Lesens mit der Geschichte von Geschlechterdifferenzen zu tun hat, dokumentiert folgende Warnung eines mittelalterlichen Moralisten: "Es schickt sich nicht für Mädchen, Lesen und Schreiben zu lernen, falls sie nicht Nonnen werden wollen, da sie sonst von einem bestimmten Alter an Liebesbriefe schreiben und empfangen könnten."
Wenn Manguel auf die Orte des Lesens in der freien Natur oder im Haus zu sprechen kommt, schreibt er gleichsam im Vorübergehen eine kleine Geschichte des Schlafzimmers, das sich erst im 19. Jahrhundert zu einem privaten Refugium der Ruhe entwickelte. In einer Zeit, in der das Schlafzimmer noch Schauplatz gesellschaftlicher und geselliger Rituale war, warnte ein französischer Pädagoge: "Es ist zutiefst unsittlich und verderblich, im Bett müßig zu plaudern oder zu tändeln". Und für die gesamte Christenheit formulierte er die Anstandsregel: "Tut es nicht gewissen Personen nach, die dort lesen und andere Dinge treiben; haltet euch nur im Bett auf, wenn es dem Schlafe dient, und eure Tugend wird davon den Nutzen haben."
In dem Kapitel "Bücher stehlen" erzählt Manguel, der selbst nicht unangefochten war vom Umschlagen der Bücherleidenschaft in kriminelle Energien, über den 1803 in Florenz geborenen Grafen Libri, einen "der größten Bücherdiebe aller Zeiten". Die Geschichte der "Bibliokleptomanie" ist so alt wie die des Buches selber. Die Bücherdiebe konnten auch nicht von Drohungen abgehalten werden, wie sie eine Inschrift in der Bibliothek des Klosters San Pedro in Barcelona aussprach: "Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Der Schlagfuß soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht."
Manguels Buch ist ein Plädoyer für das Plaudern. Das "Geplauder erscheint mir noch heute als eine der spannendsten Methoden, über Bücher zu reden." Anschaulichkeit ist diesem Freund aller Lesenden wichtiger als abstrakte Theorie. Theorielos ist dieses Buch allerdings nicht. An den Berufungen auf Borges, dem der junge Manguel eine Zeit lang als Vorleser diente, auf Umberto Eco, Roland Barthes, Jacques Derrida oder Paul de Man zeigt sich das intellektuelle Umfeld, aus dem es kommt. Ihm entspricht es, daß dieser große Liebhaber des Lesens und des Buches sich keineswegs als nostalgischer Verächter neuer Medien geriert. "Es ist interessant, wie oft ein technologischer Fortschritt dem Überkommenen, statt es zu verdrängen, eher neue Impulse verleiht und uns Reize bewußt macht, die wir früher übersehen oder nicht für wesentlich erachtet hätten. [...] Wer den Fortschritt der Computertechnik als bücherfeindliches Teufelswerk ansieht (wie etwa Sven Birkerts in seinen dramatisch betitelten Gutenberg-Elegien), huldigt der Nostalgie auf Kosten der Erfahrung." Die Verbreitung der Schrift hat die mündliche Verständigung nicht beseitigen können, die Druckkunst nicht die Handschrift. Und so werden die elektronischen Medien nicht das Buch ersetzen.
Manguel dekonstruiert auch sonst gerne dichotomische Denkmuster und Werthierarchien. Die Unterscheidungen von Wissenschaft und Erzählung, Gelehrsamkeit und Unterhaltung, Text und Bild, richtigen und falschen Lesarten werden von ihm genauso aufgelöst wie jener vermeintliche Gegensatz, auf den dieses Buch immer wieder zu sprechen kommt: der zwischen Lesen und Leben. "Lies, um zu leben." Diese Aufforderung Flauberts ist eines der Motti, denen sich Manguels Buch verschrieben hat.
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