Der Meißel des Weiblichen

In sieben eleganten Essays schreibt José Ortega y Gasset über die erzieherische Funktion der Frau und über die Liebe zur Welt

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel „Über die Liebe“ wird manchen Leser in die Irre führen, denn zwar ist in dem zuerst 1933 veröffentlichten Bändchen wiederholt von Liebe und Verliebtheit die Rede, aber tatsächlich kreisen die einzelnen Aufsätze wohl eher um eine Philosophie der Kultur. Wie entsteht Kultur, und welchen Anteil hat die Frau daran? Fast jedes der sieben Aufsätze der Sammlung versucht diese Frage aus einer anderen Perspektive zu beantworten. Und schließlich, in den beiden letzten Essays, wird auch das Bild des Philosophen entworfen, den Ortega sich als einen kultivierten, sprachmächtigen, der Fülle des Lebens zugewandten Menschen denkt.

Der erste Essay des Bandes, „Vom Einfluß der Frau auf die Geschichte“, ist der argentinischen Schriftstellerin Victoria Ocampo gewidmet, die 1924 ein Buch über Dantes „Göttliche Komödie“ veröffentlicht hatte. Ortegas Essay ist ein offener Brief an die mit ihm eng befreundete Dame und schildert, wie die Frau die Erzieherin des Mannes wird, wie nämlich der Mann „durch den irrealen Meißel des Weiblichen zu einem neuen Menschen umgeschaffen“, sprich kultiviert wird. Hier wie später wird deutlich, dass Ortegas Bild der Frau nicht unbedingt auch jenes der Frauen von heute ist. Zeigen diese sich davon überzeugt, im Gegensatz zu Männern multitaskingfähig zu sein, so denkt der spanische Philosoph, dass die Aufmerksamkeit „der Frau zusammengefaßter, mehr bei sich selbst und geschmeidiger ist. […] Die Seele der Frau bewegt sich sozusagen um eine einzige attentionale Achse, die in jeder Epoche ihres Lebens auf einem einzigen Gegenstand ruht.“

In dem zweiten Essay, der sich mit einem Frauenporträt aus der Hand von Jorge Inglés beschäftigt, gelingt es Ortega, von dem mittelalterlichen Bild einer auf Knien betenden Dame zunächst auf den Flirt und sodann auf Don Juan zu sprechen zu kommen. Für ihn liegt das nahe, denn „Don Juan“, so schreibt er, „liebt die Nonne.“ Anschließend widmet er sich Johannes dem Täufer, den er als Intellektuellen nimmt, und seiner Begegnung mit Salome. „Rhythmischen Schrittes, schwingenden Leibes, rabenhaft das hebräische Antlitz, geht sie durch die Legende, und über dem erstarrten Kopf mit den gläsernen Augen krümmt sich ihre Seele, raubgierig wie ein Falke oder ein Geier…“ Wie man sieht, war Ortega ebenso Dichter wie Philosoph, ein Autor, der eine Dame mit kokettierender Bescheidenheit über sich selbst sagen lässt, er sei „nicht ohne Beredsamkeit“. Tatsächlich ist es ihm nie gelungen, hölzern oder langweilig zu schreiben, aber sonst beherrscht er sämtliche Stilebenen – nicht allein den ganz hohen Ton, den er nur gelegentlich anschlägt, sondern auch Sarkasmus und Ironie. Letztere wird dem entzückten Leser im Meisterstück der Sammlung demonstriert, dem „Gespräch beim Golf“. Auf den ersten Blick ist das die ironisch erzählte Geschichte eines Picknicks am Rande eines Golfplatzes, zu dem den Professor elegante Damen, Nymphen genannt, aus seiner Studierstube entführt haben sollen, woraufhin er sich, in sein Schicksal ergeben, im mokanten Smalltalk übt. Ein zweiter Blick zeigt aber, dass es sich um eine leichtfüßige Variante von Georg Simmels „Individuellem Gesetz“ handelt, das bei Ortega mit einem indischen Wort Dharma heißt und „Nebeneinander verschiedenster Lebensbestimmungen“ bedeutet.

In „Züge der Liebe“, dem mit Abstand umfangreichsten Essay des Bandes, nimmt sich Ortega vor, den Liebesakt zu „prüfen wie der Entomologe ein Insekt, das er im Dickicht gefangen hat.“ Es versteht sich von selbst, dass mit Liebesakt keinesfalls der Geschlechtsverkehr gemeint ist, denn Ortega gebraucht eine phänomenologische Terminologie und hatte bei der Niederschrift seiner Essays offensichtlich sehr viel Scheler im Hinterkopf. Aber trotz seines Respekts vor diesem – sein Interesse richtet sich weder auf Emotionstheorien noch auf Sexualität als vielmehr auf Verhaltensweisen und Einstellungen, die im Leben eines hochkultivierten Menschen eine Rolle spielen. Von besonderem Interesse ist ihm hier die Verliebtheit, die er mit Mystik auf der einen und Hypnose auf der anderen in Verbindung bringt. Er geht von der nicht eben neuen Tatsache aus, dass die Sprache der Mystik auf Vokabeln der Erotik zurückgreift, bleibt aber dabei nicht stehen, sondern zeigt, dass Verliebtheit und Mystik auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. In beiden Fällen nimmt das Bewusstsein dieselbe hohle Form an, die weder dem Weltmann noch dem Philosophen Ortega gefallen kann. Leben, so schreibt er, „heißt angeregt werden“, und für jeden Menschen und für den Philosophen zumal ist ein offener Sinn ebenso essentiell wie die Disziplinierung des Denkens. Dem Mystiker wie dem Verliebten fehlen bereits Maß und Klarheit, aber vor allem mangelt es ihnen an der Offenheit und Bereitschaft zu neuen Erfahrungen. Mit dieser Beschreibung zeigt Ortega per negationem, was für ihn den Philosophen ausmacht, der als vielseitig gebildeter, weltoffener, sich umschauender Mensch zum Gegensatz des Mystikers wird. Egon Friedells fast gleichzeitig niedergeschriebener Sentenz, Kultur sei „Reichtum an Problemen“, hätte er zweifellos zugestimmt.

Es ist die Technik des Mystikers, sich auf etwas ganz Nichtiges zu konzentrieren, um seinen Geist zu entleeren und damit auf Gott vorzubereiten, und in ähnlicher Weise wollen Verliebte nur noch angefüllt sein von dem Bild der oder des Geliebten. So ist ihre Aufmerksamkeit nicht mehr umfassend, ihr Geist nicht länger offen, und deshalb spricht Ortega von dem „hermetisch verschlossenen Hohl unserer Aufmerksamkeit“. Was dieser Philosoph erstrebenswert findet, ist ganz im Gegensatz dazu ein auf sinnerfüllte Dinge gerichtetes, gespanntes Bewusstsein, nicht ein Blick ins Nirgendwo, und so werden Mystiker wie Verliebte von ihm in Worten umschrieben, die seine Abneigung nur zu deutlich machen: Die Lippen sind „halbgeöffnet zu einem universalen Lächeln, das unaufhörlich von den Mundwinkeln tropft. Es ist die Geste des Toren – und die des Betörten. Da es kein äußeres und inneres Objekt hat, um sich darauf zu richten, verliert unser Bewußtsein seine Zucht und Haltung.“

Der letzte Essay ist „Schweigen, das große Brahman“ überschrieben, aber er handelt viel mehr vom Reden und vom Schreiben, und wie bei der Liebe geht es Ortega wieder um die Philosophie. Er spricht über die „nuova scienza“ seiner eigenen Zeit, die philosophische Anthropologie, die es nur dann zur Blüte bringen könne, wenn ein jeder seine Erfahrungen zu Papier bringe. „Nur die Zusammenfassung vieler Sehstrahlen, die auf einen Gegenstand gerichtet sind, gibt diesem seine Rundheit.“ In ähnlicher Weise, wie er sich vom Mystiker und von allen Verliebten absetzt, grenzt sich der große Autor Ortega y Gasset damit vom Schweigen ab.

Titelbild

José Ortega y Gasset: Über die Liebe.
Übersetzt aus dem Spanischen von Helene Weyl.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
200 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045782

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