Jedem Drama wohnt ein Anfang inne

Claude Haas und Andrea Polaschegg haben einen Sammelband zum „Einsatz des Dramas“ herausgegeben

Von Thomas BoykenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Boyken

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie beginnt ein Drama? Dass mit dem Anfang des Dramas mehr als nur der Einsatz der Dramenhandlung vollzogen wird, ist eine nachvollziehbare These, die der Ausgangspunkt für den Sammelband „Der Einsatz des Dramas“ ist. Neben der Frage nach dem Wie scheint aber noch eine ganz andere Frage ebenso virulent zu sein: Wo beginnt eigentlich ein Drama? Ist es die erste Rede einer Figur? Ist es der erste Satz der Regiebemerkung? Ist es das Personenverzeichnis oder der Titel? Oder beginnt das Drama, wie beispielsweise Friedrich Schillers „Wallenstein“-Trilogie (die von den Autoren eingangs als Exempel angeführt wird), eigentlich sogar mit dem Prolog, der vielfach einen metadramatischen Anfang bedeutet? Ein wenig überraschend ist es doch, dass diese zentralen Fragen nur am Rande reflektiert werden. Gleichwohl handelt es sich bei „Der Einsatz des Dramas“ um einen sehr lesenswerten Sammelband. Dies hat mehrere Gründe.

Zunächst sind die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag bemüht, die Orientierung im Sammelband zu erleichtern, indem sie ausführlich auf die einzelnen Beiträge eingehen und diese miteinander in Beziehung setzen. Daneben sind zwei inhaltliche Gründe hervorzuheben, die den Band anregend und aufschlussreich machen: Zum einen applizieren weder die Herausgeber noch die Beiträge Theorien auf die dramatischen Texte, sondern gehen (zumeist) vom konkreten literarischen Text aus. Dabei wird in der Einleitung schnell klar, dass Haas und Polaschegg einen alternativen Zugang zu dem „narratologischen Paradigma“ zahlreicher aktueller literaturwissenschaftlicher Studien vorschlagen. Ob transgenerisch-narratologische Studien tatsächlich zu einer Verengung von literaturwissenschaftlichen Perspektiven führen, wie Haas und Polaschegg behaupten, sei dahingestellt. Dass die Adaption erzähltheoretischer Analysekategorien auch für die Dramentheorie fruchtbar sein kann, zeigt z.B. die Dissertation von Holger Korthals, und schließlich gibt es auch – im engen Sinne – Narrationen im Drama, beispielsweise als Botenbericht. Dem ungeachtet ist den Autoren sicherlich zuzustimmen, wenn sie konstatieren, dass im Vergleich zur „terminologisch feinjustierte[n] Erzähltheorie […] die Entwicklung der Dramentheorie während der letzten vierzig Jahre als wenig vital“ zu bezeichnen ist.

Zum anderen werden über die einzelnen Beiträge verschiedene Funktionspotentiale des Dramenanfangs herausgearbeitet, die über eine Einzelinterpretation des jeweiligen Dramas oft hinausgehen. Dies zeigt sich bereits in der Einleitung: Haas und Polaschegg gelingt es, einen kritischen Blick sowohl auf literaturwissenschaftliche Forschungsansätze zum Drama als auch auf wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen zu werfen. Denn nicht nur Gustav Freytags ‚Pyramidenmodell‘ „zeugt überdeutlich von der enormen Suggestionskraft räumlich-tektonischer Konzeptionalisierungen des dramatischen Textes. Für eine Auseinandersetzung mit dem Dramenanfang ist die Dominanz dieser bildlich-räumlichen Wissenschaftsmetaphorik insofern ebenso signifikant wie folgenreich, als die Dramenforschung damit ihren textuellen Gegenstand von Phänomenen her formalisiert, die selbst über keine Anfänge verfügen.“ Trotz ihrer Kritik an Wissenschaftsmetaphorik sind auch Haas und Polaschegg nicht frei vom bildlichen Sprachgebrauch, wenn es mehrmals darum geht, das Forschungsdesiderat nun endlich „bei Lichte zu besehen“ und es „auszuleuchten“, obwohl der Dramenanfang doch die Tendenz habe, sich „blind zu machen“.

Die einzelnen Beiträge des Sammelbands nähern sich dem von Haas und Polaschegg beschriebenen Forschungsdesiderat auf je individuelle Weise, zumeist ausgehend von Einzelfallanalysen. Die Gliederung orientiert sich locker an dem Untertitel des Bandes („Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik“) und macht dementsprechend drei Kapitel auf. An den einzelnen Beiträgen fällt zunächst auf, dass viele mit der aristotelischen Definition des Anfangs beginnen. Solche Redundanzen sind zum einen sicherlich schwer zu vermeiden, belegen zum anderen aber, wie einflussreich die aristotelische Definition bis heute zu sein scheint. Insgesamt eröffnen die Einzelstudien ein breites Feld, das von der attischen Tragödie bis zu den Dramen Samuel Becketts reicht. Der Schwerpunkt des Sammelbands liegt jedoch auf Dramen des 18. Jahrhunderts.

Der erste Beitrag geht dabei zeitlich am weitesten zurück. Martin Hose untersucht an attischen Tragödien des 5. und an Komödien des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, wie in den Prologpartien eine spezifische Plausibilität, „die gerade von der lebensweltlichen Wahrscheinlichkeit different ist“, erzeugt wird. Auch Antje Wessels beschäftigt sich mit dem Prolog. Sie arbeitet heraus, wie er in den Komödien des Plautus den Bühnenraum herstellt. Der Prologsprecher werde dabei zu einer Mittlerfigur, die nicht gänzlich dem Raum angehört, den er selbst erst erzeuge. Während Orsolya Kiss anhand Johann Christoph Gottscheds „Sterbendem Cato“ und Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ die Funktion des Dramenanfangs zur Charaktergestaltung untersucht, widmet sich Michael Ott den Anfängen von Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ und „Prinz Friedrich von Homburg“ unter metadramatischem und kulturgeschichtlichem Blick. Seine Grundthese, dass Kleists Dramen mit den etablierten Grundmustern der Exposition brechen, ist plausibel, auch wenn Otts Argumentation, wie er selbst bemerkt, eine gewisse Nähe zur Assoziation besitzt. Den Abschluss des ersten Kapitels bildet Karin Hoffs Beitrag. Hoff zeigt, wie der Anfang in Strindbergs Stücken eine Umstellung vom Dialog zum stummen Spiel vollzieht, was sie sowohl auf den Wandel von naturalistischer zur expressionistischen Darstellung innerhalb Strindbergs Werk als auch auf literarische Entwicklungen in Europa zurückführt.

Die folgende Sektion ist mit insgesamt sechs Artikeln die umfangreichste, wobei hier eine größere inhaltliche Diversität entsteht. Während Lars Friedrich Becketts „Endspiel“ primär einer raum-analytischen Betrachtung unterzieht, macht Juliane Vogel zwei Prologtypen bei Euripides auf. Hier rücken, wie schon beim Beitrag von Wessels, die deiktischen Funktionen prologischen Sprechens ins Zentrum. Den einzigen theaterwissenschaftlich ausgerichteten Beitrag liefert Helga Finter, die ausgehend von Michel Foucaults Begriff der Heterotopie die Medienangebote in der Aufführungspraxis der italienischen Renaissance untersucht, wobei die „Intermedien“ (etwa Musik und Tanz) auf eine neue Auffassung vom Menschen verwiesen. Inwieweit sich in den Anfängen der Dramen bereits eine literarische Anthropologie manifestiert, ist auch eine Frage, die von Andrea Polaschegg behandelt wird. Zunächst führt Polaschegg in ihrem instruktiven Beitrag aus, dass in den einschlägigen dramenpoetischen Schriften um 1800 der Anfang besonders hervorgehoben werde. Das erklärte Ziel sei, den Dramenanfang zum Verschwinden zu bringen, um eine ‚lückenlose‘ Illusion zu gewährleisten. Dieser „dramatische Modus“ sei nicht gattungsspezifisch, sondern trete um 1800 gattungsübergreifend im bürgerlichen Trauerspiel, im Briefroman und im dramatischen Roman auf. In den genannten Textsorten manifestiere sich so eine spezifische Auffassung vom Menschen, indem der Zuschauer in die „Beobachtungstechnik zu Zwecken der Menschenkunde“ eingeführt werde. Im Gegensatz zu Polaschegg geht Johannes F. Lehmann dann auf die „konzeptionelle Schriftlichkeit“ von Dramen ein, wobei er zu der Folgerung gelangt, dass je mehr „das Drama dezidiert Lesedrama ist, desto stärker und gleichsam theatraler […] die Momente der leitmotivischen Verdichtung am Anfang bzw. der Selbst- und Medienreflexion“ seien. Den medientheoretischen Aspekt untersucht auch Dirk Niefanger. In seinem sehr lesenswerten und klar argumentierenden Beitrag rücken die Paratexte des Dramas als metadramatische Anfänge in den Fokus. Erhellend sind vor allem die Vorüberlegungen Niefangers, wo ein Drama eigentlich anfängt (erstaunlicherweise ist dies der einzige Beitrag, der diese Reflexion explizit unternimmt). Niefanger favorisiert eine dezidiert literaturwissenschaftliche Perspektive, wenn er vom Drama als Lesetext ausgeht. Im Folgenden macht er fünf Typen metadramatischer Anfänge aus (Titel und Titelblätter, Widmungen und Zueignungen, Vorreden und Vorberichte, Prologe und Vorspiele, Anmerkungen und Fußnoten), wobei er diese als ersten Aufriss über das breite Spektrum möglicher Varianten versteht.

Das letzte Kapitel versammelt vier Artikel, die sich im weitesten Sinne mit den politischen Deutungspotentialen des Dramenanfangs befassen. Claude Haas stellt anhand von Pierre Corneilles „Le Cid“ den Zusammenhang von Staats- und Dramenform dar; den Bezug zum Thema des Sammelbands stellt Haas erst recht spät her. So kommt er erst am Ende auf „Corneilles Überlegungen zum Phänomen des Dramenanfangs“: Der Souverän sei in der tragédie classique ebenso unbegründbar wie der Dramenanfang, womit eine „proabsolutistishce Stoßrichtung“ aufscheine. Im Gegensatz hierzu stellt Ethel Matala de Mazza am Beispiel von Jean Racines „Bérénice“ ein souverintätskritisches Moment, das explizit im Dramenanfang manifest werde, heraus. Auch der strukturanalytische Beitrag von Oliver Simons ist nur locker mit dem Thema des Sammelbands verbunden. Simons untersucht Georg Büchners „Dantons Tod“ auf die Frage, wie „sich eine neue Republik entwerfen“ kann, „ohne Repräsentationsmuster zu kopieren“. Den Begriff des „Gründungsdramas“ verwendet auch Steffen Martus, dessen Beitrag den Band mit einer Analyse der verschiedenen Fassungen von Schillers „Räubern“ beschließt, womit über die Dramen Schillers ein Bogen von der Einleitung bis zum letzten Beitrag geschlagen wird. Die verschiedenen Überarbeitungen, die Schiller an seinem Erstling vornimmt, deutet Martus als Zeichen für den Anfang der Autorschaft Schillers im literarischen Feld. Die vielfältigen Überarbeitungen zeugten davon, dass Schiller zum „Virtuosen des Anfangs und des Neuanfangs“ werde. Die Bildung eines spezifischen Publikums sei dabei das Ziel der Schiller’schen Dramen, womit erneut eine literar-anthropologische Perspektive in Anschlag gebracht wird.

Der Sammelband leistet das, was ein Sammelband im Hinblick auf ein komplexes und vielfältiges literarisches Phänomen zu leisten vermag: Das Forschungsfeld wird förmlich ausgemessen; eine kongruente Perspektive entsteht am Ende allerdings nicht wirklich. Dafür sind die einzelnen Beiträge in ihren Ansätzen, Gegenständen und Argumentationslinien zu unterschiedlich. Dennoch versammelt der Band eine Reihe überzeugender, kluger und anschlussfähiger Artikel. Es bleibt abzuwarten, ob die Untersuchung des Dramenbeginns ein Anfang im Sinne Aristoteles’ ist, der den Anfang als das, „was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht“, definiert hat.

Titelbild

Claude Haas / Andrea Polaschegg (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik.
Rombach Verlag, Freiburg i. Br. 2012.
342 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783793096801

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