Die Halbwertszeit von Geschichte

Rudolph Herzog erzählt in seiner Monografie „Der verstrahlte Westernheld“ vom Irrsinn des Atomzeitalters

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde durch kaum einen Diskurs so stark geprägt, wie durch den so genannten „Kalten Krieg“ – einen Konflikt, dessen Wurzeln bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges (und der russischen Revolution) zurückreichen und in dessen Rahmen sich die Welt in drei „Blöcke“ aufteilte: Den „Westen“ und seine Verbündeten (die NATO-Staaten), den „Osten“ (mit dem Warschauer Pakt) und die blockfreien Staaten, deren politischer Einfluss im Gefüge zwischen den Supermächten stets ein Zünglein an der Waage bildete. Neben dem „ideologischen Sprengstoff“, der die Basis des Systemkonfliktes bildete, waren es vor allem verschiedene Medientechnologien (insbesondere der Computer) und ein neuer Waffentypus (die Kernwaffen), die den Zündstoff für ein ständig erwartetes „Heißwerden“ des Kalten Krieges boten.

Eine Geschichte des Kalten Krieges, wie sie etwa als politische Strukturgeschichte von Lewis Gaddis erzählt wurde, ließe sich auch als Ereignisgeschichte formulieren, bei der die Medien oder die Waffen die Perspektive vorgeben. Auch kulturwissenschaftlich und -historisch ist der Kalte Krieg lägst thematisiert (in den sogenannten Cold War Studies). So ist zum Beispiel im vergangenen Jahr im Goldmann-Verlag ein Sammelband zu verschiedenen Themenbereichen des Kalten Krieges erschienen. Nun hat der Regisseur und Sachbuchautor Rudolph Herzog eine Monografie vorgelegt, die den „Irrsinn aus dem Atomzeitalter“ (so der Untertitel) anhand jüngerer und jüngst veröffentlichter militärischer Berichte historiografiert.

Das Atomzeitalter ist darin nicht nur, aber vor allem durch Kernwaffen definiert. Herzog erzählt die Geschichte der Atombomben-Erfindung, insbesondere der Entwicklung von Uran-Zentrifugen, die den Fissionssprengstoff so weit anreichern, dass sich damit eine so genannte „kritische Masse“ bilden lässt, die zu einer Kettenreaktion fähig sind. Die Proliferation dieser Technologie – und das verbindet die Geschichte der Atomwaffen mit ihrer Gegenwart – hat die Welt unsicher gemacht. Nicht nur die „offiziellen Atommächte“, sondern zahlreiche Einzelstaaten sind so mittlerweile in den Besitz von Kernwaffen gekommen. Neben der Atombombe (im engeren Sinne) sind andere Kernwaffen aber mindestens ebenso problematisch geworden und haben ihre ganz eigene historische Spur gezogen – allen voran die Wasserstoffbombe, die auf ein Design Edward Tellers zurückgeht, der mit dieser Technologie nicht nur Leben zerstören, sondern allen Ernstes sogar Landformung an verschiedenen Stellen der Erde betreiben wollte: Herzog referiert minutiös die Projekte und Idee Tellers, einen Hafen in Alaska gegen alle Proteste der Bewohner jener Gegend mit Fusionsbomben zu sprengen. Darüber hinaus dokumentiert er die Technologie der „schmutzigen“ Bomben, die Radioaktivität verbreiten, ohne durch den Explosionsdruck allzu große Schäden hervorzurufen. Ähnliches wurde mit der Kobaltbombe und mit der Neutronenbombe angedacht.

Gerade durch die zahllosen Kernwaffentests in allen Ecken der Welt sind die Spuren des Kalten Kriegen noch bis heute (mit Hilfe von Geigerzählern) auffindbar. Zur Zeit der Tests, deren Beschränkung und Einstellung ein wichtiges politisches Ziel der Blöcke war, waren diese Spuren teilweise so stark, dass ihnen etliche Menschen zum Opfer gefallen sind – teilweise, weil die Wirkung von Radioaktivität noch gar nicht vollständig bekannt war, teilweise, weil die Geheimhaltungspolitiken dazu führten, dass Testareale als solche nicht erkennbar waren. Die Tatsache, dass sich durch Bomben freigesetzte Strahlung zudem nicht auf einen Ort beschränken lässt, sondern durch den so genannten „Fall-Out“ in sämtliche Himmelsrichtungen verweht, führte zu weitreichenden Verstrahlungen. Nicht nur wurde Mittel- und Westeuropa durch Tschernobyl auf diese Weise mit radioaktiven Isotopen kontaminiert, auch die oberirdischen Tests in den USA, in der Südsee, in Australien und der ehemaligen Sowjetunion haben ihren Fall-Out über weite Landstriche gestreut. Der Titel von Herzogs Buch „Der verstrahlte Westernheld“ spielt auf eine solche Begebenheit an, in der eine komplette Filmcrew – teilweise mit Wissen der Beteiligten – in radioaktivem Staub und Sand drehte, was Jahre später zu dutzenden mutmaßlichen Strahlentoten führte.

Tschernobyl ist eines der entscheidenden Kapitel der nicht-militärischen Kernenergie-Geschichte gewesen, das die Notwendigkeit einer atomaren „Abrüstung“ des militärischen wie auch zivilen Sektors deutlich gemacht hat. Herzog zieht eine gerade argumentative Linie von bekannten und weniger bekannten Kraftwerk-GAUs, vergessenen oder gestohlenen radioaktiven Elementen, Kernbrennstäben, medizinischen Präparaten bis in die Gegenwart von Fukushima, um deutlich zu machen, dass die Geschichte, die er erzählt, noch kein Ende gefunden hat. Allein die verschollenen und verloren gegangenen Bomben (sogenannte „Broken Arrows“) stellen archäologische Relikte einer jüngeren Vergangenheit dar, die ganz unvermutet in die Gegenwart „platzen“ könnte – etwa, indem die Bomben in den Händen von Terroristen wieder auftauchen.

Das Material, auf dem Herzog sein Buch basiert, stammt nach eigener Angabe zumeist aus mittlerweile geöffneten Verschlusssachen des Kalten Krieges. Der so genannte „Freedom of Information Act“, nach dem in den USA selbst brisantestes Material irgendwann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden musste, formuliert nämlich selbst so etwas wie eine Halbwertszeit – allerdings für Geheimnisse. Nach und nach öffnen sich nun die Archive und zeigen, dass der Kalte Krieg historisch betrachtet durchaus die Qualitäten einer „Büchse der Pandora“ hatte. Dieser warnende Gestus ist dem Text an allen Stellen deutlich anzumerken; Herzog verbindet seine historischen Darstellung an zahlreichen Stellen mit politischen Analysen der Vergangenheit und der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der „Atompolitik“.

Und trotzdem ist dem Text auch eine heimliche Faszination anzumerken. Diese mag wohl in der spezifischen Angstqualität des Gegenstandes begründet liegen: Herzog ist zu einer Zeit aufgewachsen, als der Kalte Krieg noch eine reale Tatsache war. Seine Kindheit dürfte von den Schatten der bedrohlichen Block-Konfrontation ebenso überzogen gewesen sein, wie seine Jugend vom letzten Aufbäumen des Konfliktes in der Reagen-Ära (NATO-Doppelbeschluss, SDI, Pershing-2-Stationierung) und dem darauf folgenden Ende des Kalten Krieges. Aus der Psychoanalyse wissen wir, dass wir an den Ängsten unserer Kindheiten im späteren Erwachsenenleben auf recht ambivalente Weise „hängen“ – sie stellen mit die intensivsten Gefühlserinnerungen in unserer Biografie dar. So bildet der Kalte Krieg bei nicht wenigen „Zeitzeugen“ aus heutiger Perspektive eben auch einen „emotionalen Fluchtpunkt“, an dem sich konkrete Ängste festmachen lassen. Darüber hinaus wird diese Zeit nicht selten auch als die vielleicht letzte, in der es noch „eindeutige Positionen“ gegeben hat, verklärt: Die in den 80er-Jahren einsetzende Postmodernisierung sämtlicher Lebensstile (und damit nicht selten die Ironisierung von allem – bis hin zur Politik) stand eine vormalige ideologische Eindeutigkeit gegenüber, die auch Halt gegeben hat.

Damit soll nicht behauptet werden, dass Herzogs „verstrahlter Westernheld“ diese Haltung offen zum Programm macht. Aber die anekdotische Darstellung, die Auswahl der Beispiele, die Akribie, mit der im Buch neben der Waffen- und „Stoff“-Geschichte eben auch eine Mentalitätsgeschichte erzählt wird, und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Anekdoten, die teilweise ja auch biografische Marksteine darstellen, so oft einen Fluchtpunkt ins Heute bekommen, rufen diese zugegeben sehr biografistisch-intentionalistische Lesart hervor. Und diese Annahme soll auch keineswegs als negativer Kritikpunkt zu verstehen sein, denn wenn ein Essayist mit seinem Text Aufmerksamkeit für Thema stiften will, tut er gut daran, den Leser nicht bloß auf der Seite der Rationalität abzuholen, sondern die Fakten immer auch mit Emotionen zu flankieren, damit seine Intention auch „spürbar“ werden kann. Das gelingt Herzog, dessen Buch auf (un-)heimliche Art spannend, unterhaltsam und humorig ist, grandios. Es ist damit auch ein nicht unwichtiger Beitrag zu einer Mentalitätsgeschichte des Kalten Krieges.

Titelbild

Rudolph Herzog: Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter.
Galiani Verlag, Köln 2012.
255 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710549

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