Auf altbekannten, neuen Wegen…

Bernhard Hangartner hat einen kleinen, aber feinen Führer durch Richard Wagners Zürich herausgegeben

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So bekannt Richard Wagners zweite Schweizer Heimat ist – das Tribschener Idyll am Luzerner Ufer des Vierwaldstätter Sees, wo Wagner mit Cosima und den gemeinsamen Kindern zwischen 1869 und 1872 weilte – so wenig bekannt sind die einzelnen Stationen seiner Zürcher Jahre, die Zeit von Mai 1849 bis August 1858, die Wagner als politischer Flüchtling in der Limmatstadt verbracht hat.

Genau diese Zeit rekonstruiert der vorliegende Stadtführer und beruft sich dabei auf das Konzept der Gedächtnisorte, also jener Örtlichkeiten, die Schauplatz besonderer historischer Begebenheiten sind. Das Ziel des Stadtführers ist allerdings nicht nur die Erkundung der historischen und aktuellen Topografie, sondern auch die Vermittlung neuer Einsichten in das Wagner’sche Werk, das den Zürcher Jahren grundlegende Impulse und Vorarbeiten verdankt. Hervorgegangen ist der Stadtführer als Teil der Arbeitsergebnisse des über mehrere Jahre am Musikwissenschaftlichen Institut durchgeführten Forschungsprojektes „Musik in Zürich – Zürich in der Musikgeschichte“.

Das Bändchen rekonstruiert Wagners Zürcher Exiljahre in mehr oder weniger chronologischer Folge in dreizehn Stationen, die sowohl anhand einer Kurzbeschreibung als auch einer längeren Erläuterung vorgestellt werden und durch historisches Bildmaterial illustriert sind. Ein kurzer biografischer Abriss, der Wagners Leben bis zu den Dresdner Aufständen von 1849 skizziert, leitet den Rundgang ein. Vervollständigt wird das kleine, kompakte Œuvre durch vier Kapitel, die thematisch geordnete Hintergrundinformationen bieten zu Wagners Freundeskreis, seinen Zürcher Schriften, seinen Kompositionen jener Jahre und zu den Reisen, die er während dieser Zeit unternommen hat. Ergänzt wird das Büchlein durch eine detaillierte Zeittafel, eine Bibliografie, Kartenmaterial zur Übersicht und zwei kleine Register zum schnellen Auffinden von Orten und Personen.

Wagner kommt 1849, nach einigen Umwegen und eher zufällig, in das kleine, nur rund 17.000 Einwohner zählende Zürich, das ihn auf Anhieb entzückt. Eigentlich ist er auf der Durchreise nach Paris und will nur ein paar Tage bleiben, um sich die nötigen Reisedokumente zu besorgen. Als er diese durch die Vermittlung seines in Zürich ansässigen Freundes Alexander Müller bekommt, reist er zunächst weiter nach Paris. Doch in der Seine-Metropole findet Wagner nicht den erhofften Anklang, und so kehrt er an die Limmat zurück, um den Sommer (Juli bis September 1849) im Hause seines Freundes zu verbringen.

Wie schon mehrmals zuvor in seiner Geschichte ist Zürich auch jetzt ein beliebtes Ziel zahlreicher Deutscher, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen entschließen, an die Limmat überzusiedeln. Immerhin hat die Schweiz soeben erst die Gründung ihrer Bundesstaaten (1848) erlebt, während in Deutschland die Revolution kläglich gescheitert ist. Entsprechend lebens- und farbenfroh zeigt sich das künstlerische und intellektuelle Leben. Zudem ist Zürich, obwohl nicht Hauptstadt, ein bedeutendes wirtschaftliches Zentrum, das in den 1850er-Jahren einen rasanten Aufschwung erlebt. Wagner ist nicht nur von der Stadt und der Umgebung angetan, sondern spürt auch die geballte Energie, die sich hier sammelt. Deshalb überredet er seine noch immer in Dresden harrende Frau Minna, ihm nach Zürich zu folgen. Als sie eintrifft, quartieren sich beide vorübergehend in einem Stadthaus ein, siedeln aber bald darauf nach Hottingen über, wo sie den Winter 1849/50 verbringen. Im April 1850 ziehen sie für die nächsten eineinhalb Jahre in den Abendstern, die sogenannte Villa Rienzi im damaligen Vorort Enge.

Wagner lebt in Zürich als Exilierter und als freischaffender Künstler, der von einer Reihe von teilweise recht großzügigen Freunden auch finanziell sehr unterstützt wird. Diese Jahre gelten als seine produktivsten überhaupt. Hier verfasst er seine Zürcher Kunstschriften, die die Grundlage für sein weiteres Schaffen bilden, und hier vollzieht er auch den Schritt weg von der Oper und hin zum Musikdrama als Gesamtkunstwerk, ohne das Wagner in der heutigen Rezeption undenkbar ist.

1853 wird für Wagner ein wegweisendes Jahr im doppelten Sinne: Einerseits finden, rund ein Vierteljahrhundert vor Bayreuth, im Aktientheater die ersten Wagner-Festspiele statt. Diese Aufführung ist ein Ereignis, das Wagner nicht nur persönlich und künstlerisch beflügelt, sondern das im Nachhinein auch richtungsweisend wird für seine weitere Arbeit; in seiner Schrift „Ein Theater in Zürich“ hat dieses Ereignis denn auch seinen schriftlichen Niederschlag gefunden. Andererseits aber wird gerade in diesem Jahr auch der Steckbrief erneuert, der Wagner seit 1849 die Einreise nach Deutschland unmöglich macht. Es wird noch bis 1862 dauern, bis er die volle Amnestie erhält und nach Deutschland zurückkehren kann.

Sein heute wohl bekanntestes Zürcher Domizil bezieht Wagner im April 1857 – das sogenannte „Asyl“, ein ehemaliges Sommerhaus auf dem Gabler (seit 1882: Villa Schönberg), in unmittelbarer Nachbarschaft zu der kurz zuvor errichteten Villa Wesendonck (heute: Museum Rietberg) auf dem Zürcher grünen Hügel. Die Aussicht dürfte Wagner ebenso inspiriert haben wie die Nähe zu der von ihm sehr verehrten Mathilde Wesendonck. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten vertont er fünf ihrer Gedichte und es entstehen die heute vor allem in der Orchesterfassung von Felix Mottl bekannten Wesendonck-Lieder. In seinem „Asyl“ empfängt er im September Hans und Cosima von Bülow, die sich auf ihrer Hochzeitsreise befinden. In diesen Tagen hat er die drei Frauen auf dem Zürcher grünen Hügel vereint, die, ungeachtet seiner verschiedenen Liebschaften, sein Leben bestimmen (werden): seine Noch-Ehefrau Minna, seine Muse und Freundin Mathilde Wesendonck und seine spätere Geliebte, Ehefrau und Mutter seiner Kinder, Cosima. Ihr dürfte Wagner in jenen Tagen allerdings noch nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, denn noch ist er zu sehr mit Mathilde beschäftigt, und wohl auch mit Minna, denn die Ehe der Wagners wird die Zürcher Jahre nicht überleben. Es kommt nicht nur zum Bruch mit Mathildes Ehemann Otto, über Jahre hinweg großzügiger Freund und Gönner Wagners, sondern auch zur endgültigen Zerrüttung mit Minna, von der er sich allerdings nie scheiden lässt. Dennoch trennen sich hier ihre Wege: Minna kehrt zurück nach Dresden, während sich Wagner im August 1858 nach Venedig aufmacht.

Alles in allem ist das Büchlein ein kompakter Abriss der Zürcher Jahre, die sich dem Wagner-Kenner zwar sogleich erschließen, die aber dennoch die eine oder andere Überraschung bereithalten. Wer Wagners Biografie (noch) nicht so gut kennt, bekommt einen spannenden Einblick in diese künstlerisch so produktiven und wegweisenden Jahre.

Und selbst wer Zürich zu kennen glaubt, wird bei seinem nächsten Aufenthalt in der Limmatstadt sicher den einen oder anderen Besuch einplanen und Altbekanntes in einem neuen Licht sehen. Darüber hinaus enthält die mitgelieferte Bibliografie noch einige weitere Wegweiser, mit denen sich dieser Stadtrundgang fast beliebig ausdehnen lässt.

Mit diesem schön gestalteten und inhaltlich durchaus anspruchsvollen Bändchen ist endlich ein Themen-Führer erschienen, der selbst leidlich Eingeweihten noch etwas zu bieten hat – weit über die Verweise auf Gedenktafeln und Wohn- und Wirkungsstätten hinaus bietet es einen kompakten Überblick über das kulturelle Leben im Zürich der 1850er-Jahre. Richard Wagner spielt darin eine nicht unerhebliche, aber beileibe nicht die einzige Rolle.

Titelbild

Bernhard Hangartner (Hg.): Durch Richard Wagners Zürich. Ein Stadtrundgang.
Mit Beiträgen von Eva Martina Hanke und Laurenz Lütteken.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
71 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783866001565

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