„Von Nilpferden und anderen Menschen“

Der wunderbare Band liefert einen Querschnitt durch das zwischen 1925 und 1958 entstandene, fotografische Werk des Flaneurs und „Momentknipsers“ Friedrich Seidenstücker

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Fotos waren hinreißend. Einzelbilder, keine Serien. Jedes Bild ein Treffer. […] Alltag, gesehen von einem Talent“, schreibt Roland Klemig in einem 1975 erschienenen Text über seine Entdeckung von Friedrich Seidenstückers Nachlass vier Jahre zuvor bei einem Berliner Trödler. Klemig, von 1966 bis 1986 erster Leiter des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz, war auf dessen Fotos aufmerksam gemacht worden. Ein westdeutscher Verlag plante ein „Buch über das Verhalten von Tieren beim Liebesspiel“ und fragte ihn, ob er dafür Bilder eines gewissen Seidenstücker besorgen könne. Am nächsten Tag erhielt er zufällig Besuch von einem Zoologen und nannte den Namen des Fotografen. Werner Kourist kannte Seidenstücker nicht nur vom Namen, „,der beste Tierfotograf, den es je gab‘ (nach Hedda Walther)“, sondern er hatte sogar das Vorkaufsrecht für dessen Fotos, aber nicht das nötige Geld. Sie einigten sich: „Er gibt mir die Adresse des Nachlassverwalters, wir kaufen die Fotos, erhalten die Nutzungsrechte für das geplante Buch, anschließend bekommt er die Tierporträts. Der Rest, wenn er was taugt, bleibt bei uns im Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz“, so Klemig.

Er taugte. Zusammen mit dem Teil, der an Kourist ging, umfasst das gesamte Bildarchiv Friedrich Seidenstückers rund 14.000 Abzüge. Seit den 1970er-Jahren ist sein Werk durch eine Vielzahl an Ausstellungen und mehrere Bildbände zugänglich und bekannt geworden. Ende 2011 fand die erste große Retrospektive unter dem Titel „Von Nilpferden und anderen Menschen“ mit fast 240 Arbeiten in der Berlinischen Galerie statt. Der gleichnamige Katalog umfasst beinahe 300 Abbildungen, die meisten in Schwarzweiß, einige wenige in Farbe. Außerdem enthält er Texte von Fotohistorikern, die Seidenstückers Themen untersuchen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Fotografen, vor allem aber das Besondere seines Werks herausarbeiten. Trotz der Materiallage im Nachlass, die nach wie vor Fragen aufwirft, nach der Entstehungszeit von Fotos, authentischen, von Seidenstücker vorgegebenen Bildtiteln und der Veröffentlichung in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, ist es, so schreibt Ulrich Domröse, Leiter der Fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie, in seinem Prolog, das Ziel der Publikation, „substanzielle Auskünfte über die Entstehungszusammenhänge seiner Arbeiten [zu] geben und einige sich immer weiter fortschreibende Fehler in der Rezeption seines Werkes [zu] revidieren.“

Tatsächlich geben die gut zu lesenden, mitunter beinahe literarischen Texte dem Leser eine Vielzahl an Hintergrundinformationen, wenn auch in einigen die Interpretation, was Seidenstücker mit seinen Bildern gemeint haben könnte, etwas übertrieben erscheint. Dennoch, inklusive der kürzeren Texte aus dem Anhang, in denen die Entdeckungs- und Aufarbeitungsgeschichte des Nachlasses erzählt wird, ermöglichen sie es dem Interessierten, der Seidenstückers Fotos kennt, ihm auch als Mensch und Fotograf näher zu kommen und sein Werk einzuordnen.

„Von Nilpferden und anderen Menschen“ versammelt seine Fotografien von 1925 bis 1958. Der Schwerpunkt liegt auf der Zwischenkriegszeit, in der Seidenstücker am erfolgreichsten war. Blättert man im Katalog, fallen einem, was die Motive angeht, gewisse Ähnlichkeiten zu anderen Fotografen auf, die ebenfalls im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gearbeitet haben: Eugène Atget und Heinrich Zille, Sasha Stone und Germaine Krull, František Drtikol und Marianne Breslauer.

Seidenstücker war ein Flaneur, der das Straßenleben – im doppelten Sinne – als „Momentknipser“ einfing. Ihn interessierte der Alltag der Menschen, ihre Berufe, ihre Freizeitbeschäftigungen, wobei der Zoo eine wesentliche Bedeutung hatte. Er selbst war ein leidenschaftlicher Besucher des Zoologischen Gartens in Berlin, wo er ab 1903 wohnte. 1882 in Unna geboren, absolvierte er zuerst eine Ausbildung an einer Ingenieursschule in Hagen, die er ab 1903 in der Reichshauptstadt fortsetzte. Zwei Jahre später schrieb er sich für Bildhauerei ein und besuchte die Tiere oft, um sie zu zeichnen. Als er Ende der 1920er-Jahre die temporeichere und lukrativere Arbeit als Fotograf aufnahm, hatte er das Glück, dass Verlagshäuser wie Ullstein oder Scherl großes Interesse an Tieraufnahmen hatten und er so seine Passion zu Geld machen konnte. Die Fotografieerlaubnis des Berliner Zoos ließ ihm dabei große Freiheiten, die er nutzte und in zahlreiche, heimlich gemachte Schnappschüsse von Tieren und Menschen umsetzte.

Was seine Zoofotos auszeichnet, ist eine subtile Komik. Christoph Ribbat spricht in seinem Beitrag über „Seidenstückers Witz“ über dessen „unauffällige[n] Blick auf das Auf-dem-Lot-Geratene“. Zu sehen sind Besucher, die die schrägsten Positionen einnehmen, um Kamele, Pelikane oder Affen zu fotografieren oder zu streicheln. Deren Blick ist oft ein fast menschlicher, der ihr Gegenüber verwundert anschaut. Die Aufnahmen zeigen Seidenstückers großes Einfühlungsvermögen in die Tiere. Seine Porträts ähneln denen von Menschen. Und sie erinnern einen mit ihrem verschmitzten Humor immer wieder an Loriot und seine Zeichnungen. In den „Wahren Geschichten“ (1959) findet sich etwa ein Ehemann, dessen Frau vor seinen Augen von einem Nashorn zuerst geschluckt wird, um angeekelt schnell wieder ausgespieen zu werden. „Erfahrene Zoologen bestätigen die Annahme, daß gerade plumpe Tiere häufig die feinsten Zungen besitzen“, lautet der Kommentar.

Seidenstücker holt die Tiere auf eine Ebene mit den Menschen, zeigt den Dialog zwischen beiden Seiten, der auf einigen seiner Bilder durch Gitter stattfindet. Die Tiere sind eingesperrt und neugierigen Blicken ausgesetzt. Es finden sich aber auch Fotos, auf denen Seidenstücker die Perspektive der Tiere einnimmt und so die Menschen hinter den Käfiggittern als Gefangene zeigt oder als besondere Gattung kenntlich machen will. Dabei bilden die rund 7.000 Aufnahmen von Tieren und dem Zoo fast die Hälfte seines Archivbestands. Zwei Jahre vor seinem Tod im Dezember 1966 bezeichnete sie Seidenstücker in einem Brief als die Hauptwerke seines fotografischen Schaffens und Erfolges.

Doch die Bilder, mit denen er später nach seiner Wiederentdeckung berühmt geworden ist, zeigen keine Gorillas, (See-)Elefanten oder Bären, sondern junge, hübsche Frauen, die über Pfützen springen. Seidenstückers andere Leidenschaft waren sie, die „Neuen Frauen“, die nach dem Ersten Weltkrieg emanzipiert und Bein zeigend durch die Städte liefen. Vor allem sportelnde Frauen scheinbar hatten es dem bis auf eine kurze Verlobung lebenslang Alleinstehenden angetan. Man sieht Schwimmerinnen, die gerade aus dem Becken steigen, eisessende Radfahrerinnen oder eine blonde Bogenschützin im engen Sportdress. Auch finden sich einige Frauenakte in Schwarzweiß. In der Kriegs- und Nachkriegszeit hat Seidenstücker solche Fotos dann in Farbe gemacht.

Stadtaufnahmen gibt es nach 1933 weniger. Die rigiden Gesetze der Nationalsozialisten sowie der Wegfall eines Großteils der Auftraggeber, vor allem von Ullstein, haben Seidenstücker das Land entdecken lassen. Man sieht Wälder und Seen in der Schorfheide, merkwürdig gewachsene Bäume und – damals eine Seltenheit – Fotos, die die Verschmutzung der Umwelt offenbaren. Aus der Zeit der Weimarer Republik finden sich dagegen eine Vielzahl an Bildern von Menschen aus den verschiedensten Berufen, die der Fotograf bei ihrer Tätigkeit abgelichtet hat: Droschkenkutscher und Gasriecher, Schlachter und Kohlenträger, Bauarbeiter und Fischverkäufer. Diese Aufnahmen sind fast fotografische Pendants zu Franz Hessels Flaneur-Texten, wie etwa in seinem „Spazieren in Berlin“ (1929), in dem er humorvoll wie kritisch Momentaufnahmen aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit liefert.

Hatte Seidenstücker seine fotografische Arbeit Ende der 1930er-Jahre eingeschränkt und in seine Wohnung verlagert, begann er 1943 die Zerstörung Berlins durch alliierte Luftangriffe festzuhalten. Zuerst die Schäden im Zoologischen Garten, nach dem Ende des Krieges in der gesamten Hauptstadt und in Potsdam. Waren die Fotos aus den 1920er- und 1930er-Jahren geprägt von einem Berlin voller Menschen, die arbeiten und in Eile sind, pausieren und ihre Zeit im Zoo verbringen, stehen in den Bildern der „Stunde Null“ eher die Trümmer und Ruinen im Mittelpunkt. Die Gebäude muten wie Kulissen für Kriegsfilme an und erinnern an Texte wie Gottfried Benns Novelle „Der Ptolemäer“ (1949) oder Hermann Kasacks Roman „Die Stadt hinter dem Strom“ (1947).

Dennoch, Seidenstücker porträtiert nach 1945 auch die Menschen und wie sie versuchen, ihr Leben in den Schuttbergen zu ordnen. Man sieht Kinder auf Panzerketten spielen, Künstler den abgeholzten Tiergarten malen, Berliner auf dem Kurfürstendamm bummeln oder eine Hochseil-Artistengruppe bestaunen, „Fräuleins“ mit US-Soldaten im Café des Zoos sitzen oder stolze Rotarmisten vor der Kamera posieren. Über 500 Bilder hat Seidenstücker vom zerstörten Berlin gemacht. Nach dem Krieg begann er auch wieder als Pressefotograf zu arbeiten, er konnte aber an die Erfolge der Vorkriegszeit nicht mehr anknüpfen. 1962, anlässlich seines 80. Geburtstags, fand im Kunstamt Wilmersdorf die erste und einzige Ausstellung zu seinen Lebzeiten statt. Er starb 84-jährig, kurze Zeit nachdem er in ein Pflegeheim gezogen war.

Die Fotos, die in den Katalog „Von Nilpferden und anderen Menschen“ aufgenommen wurden, sind, wie Roland Klemig in seinem Text über die Entdeckung der Fotos aus dem Nachlass schrieb, „Kleinbildkunstwerke“. Sie fangen den Alltag der Menschen, die besondere Atmosphäre des Augenblicks, meisterhaft ein. Seidenstücker ging es nicht um radikale Neuerungen, auch wenn er gelegentlich experimentierte. Ihn interessierte das Gewöhnliche und Unspektakuläre, das mitunter sehr poetische, aber auch witzige und ungewollt komische Szenen hervorbringt. Zugleich dokumentieren seine Fotos die Entwicklung Berlins von der quirligen, lebenslustigen Metropole der „Goldenen Zwanziger“ bis zur kulissenhaften, ausgestorbenen Trümmerstadt in der „Stunde Null“.

Der Band liefert einen spannenden Querschnitt durch das fotografische Werk des Berliner Einzelgängers, Bummlers und „Momentknipsers“ Friedrich Seidenstücker, kontextualisiert es und verschafft nicht nur der Fotowissenschaft neue Erkenntnisse. Die bilingual, auf deutsch verfassten und ins Englische übersetzten Beiträge erweitern zudem den Kreis derjenigen, die sich mit dem Fotografen befassen möchten. Der Anhang mit weiteren Texten, einer Biografie, einer Bibliografie, einem Verzeichnis der Ausstellungen sowie einem der ausgestellten Werke komplettiert die gebundene, aufwendig gestaltete Ausgabe.

Titelbild

Friedrich Seidenstücker: Von Nilpferden und anderen Menschen.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2011.
328 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783775731317

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