Der Mensch sei dem Menschen Durchschnittsware und Massentier?
Franz Kafkas Werkwelten als Experimente im thanatologischen Sprach-Labor der Moderne
Von Marie-Luise Wünsche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZeitzeugenschaften eines ‚poeta juris‘?
Am 21.VI. 1913 hält Franz Kafka jenen viel zitierten autoreflexiven ‚Seufzer‘ fest, dessen erster Satz dem amerikanischen Schriftsteller und Juristen Louis Begley als Titel seiner Kafka-Biografie aus dem Jahre 2008 (ins Deutsche übersetzt 2009) diente: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.“
„Die ungeheure Welt“, dieser Ausdruck ist ebenso wenig selbsterklärend wie die Formulierung das „ungeheure Ungeziefer“, als das sich Gregor Samsa gleich mit dem ersten Satz seiner Erzählung „Die Verwandlung“ „eines Morgens“ selbst wiederfindet. Beide Fügungen verweisen wohl auf Charakteristisches vieler oder mindestens einiger Texte, die wir mit dem Namen Franz Kafka verbinden, bedürfen jedoch, wenn nicht der (hermeneutischen) Auslegung, so aber zumindest der (diskursanalytischen) Kontextualisierung oder einer Methodenkombination aus diesen und anderen kulturwissenschaftlichen Techniken des Texterschließens. Gerade solchen methodischen ‚Hybriden‘ verdankt die heutige Kafka-Forschung ihre interessantesten Ergebnisse.
Wie also kann das gelesen werden, das adjektivische Linksattribut „ungeheure“? Als Synonym von „grausam“, „scheußlich“ oder „furchtbar“? Warum steht dann nicht eines jener anderen, eben gerade hier angeführten Adjektive dort? Hat es nur rhythmisch-klangliche Gründe, hat es Gründe eines begrenzten Wortschatzes oder darf und soll man es bedeutungsunterscheidend zu allen Adjektiven ähnlichen Sinns lesen? Gilt das auch dann, wenn man mehr die performative und nicht die metaphorische Ebene der Sprache fokussieren möchte, wie das etwa linguistisch, diskursanalytisch, systemtheoretisch oder semiotisch motivierte Arbeiten anvisieren?
Oder zielt das „Ungeheure“, als Adjektiv verwendet, am Ende auf ein ganzes Programm des Autors, nachdem akribisch und detailverliebt eine folgenschwere Wende im Selbstverständnis des modernen Gesellschaftsvertrages im Medium der Schrift beobachtbar würde? Und handelt es sich dabei um eine (irreversible) Verschiebung, die dazu führte, dass sich der Mensch in seinen Menschenbildern nicht mehr als geheuer, sondern als ungeheures Wesen entwirft? Oder kann ein Mensch, der nicht mehr das etwas andere Tier im Sinne von Aristoteles ist, sondern nunmehr der etwas andere Primat im Sinne Darwins und Lamarcks, sich noch geheuer sein?
Ist eine inkludierte Grenze, die der Mensch sich zunächst als dem Menschen äußerlich vorstellte, und die zwischen seiner Art und den Arten der anderen Tiere verlief, die er sich aber um 1900 herum immer deutlicher als in ihm selbst verlaufende Grenze vorzustellen beginnt, die sozusagen das Animalisch-allzu Animalische in ihm und an ihm markiert, nicht per se eine ungeheure? Generiert sich nicht so, am Leitfaden moderner (Pseudo-)Naturwissenschaften und deren unbeweisbar bleibenden Axiomen entlang, eine „ungeheure Welt“, in der der Mensch mittels einiger weniger gedanklicher Operationen einige von sich zum Unmenschen, gar zum „Ungeziefermenschen“ (dies ein Begriff von Markus Jansen) stigmatisieren kann? Welche Bedeutung erlangt Kafkas Wissen um die Modifizierungen in der Selbstwahrnehmung des Menschen, die aus zahlreichen technischen und medizinisch-naturwissenschaftlichen Paradigmenwechseln seiner Zeit resultierten, für sein Schreibprojekt als Dichter der Nacht?
Dass Schreiben als Prozess für Franz Kafka eine so existenzbegründende und existenzsichernde Hoch-Zeit war, wie eben dieses Schreiben als Produkt für seine heutigen Leser und Leserinnen zur Hoch-Zeit von Lektüren wird, bei denen man stets zutiefst irritiert und dadurch ebenso angerührt liest, das steht wohl außer Frage. Zur Diskussion dagegen steht im Grunde mit Beginn der Forschungsbeiträge zu diesem ‚Schreibleben‘, ob es eher ein Input aus der Welt sei, mittels eines „von fast allen lokalen Einflüssen gereinigten Pragerdeutsch“ (Wagenbach) oder ein Output aus dem ansonsten hermetisch verschlossenen Seelenleben eines Poeten, der Goethe schätzte und eventuell dessen „Lust am Hervorbringen“ nicht nur im Tagebuch notierte, sondern ins Kafkaeske überführen wollte?
Oder ist Kafkas selbstversicherndes Schreiben am Ende beides zugleich, ist es, in Kafkas Worten, „Beobachtung des Parterres“, wozu es der Undergroundsprache bedarf, auch des Neuarrangierens von andernorts bereits schriftlich fixierter Wissensarchive der Moderne und zugleich „Form des Gebets“? Ist es dann also, dieses Schreiben in der Nacht und gegen die Verpflichtungen des Büroalltags, wenngleich zunehmend mittels eines dort eingeübten Verfahrens, wofür Benno Wagner, der Mitherausgeber der amtlichen Schriften Franz Kafkas, mehrfach votierte, mehr ein „Stolpern“ und „Zögern“, einem „stehenden Sturmlauf“ zwischen (Um-)Welt und antizipierendem Subjekt gleich, als ein Seelenauskehren mit Tinte und Bleistift? Ist es ein „stehender Sturmlauf“, der in einem Spannungsraum zwischen so verhassten, so auszuhaltenden Antithesen sich vollzog, als Schreiben, das nach Möglichkeit „jeden Tag zumindest eine Zeile gegen“ Kafka und damit zugleich gegen das Menschenbild seiner Zeit „gerichtet“ halten soll „wie man Fernrohre […] gegen den Kometen richtet“? Genug nun und Schluss jetzt mit den Fragen über Fragen.
Während die frühere Kafka-Forschung mehrheitlich eher den Wert des Schreibens Kafkas aus des Dichters Abkapselung von der Welt und vor allem von zeitpolitischen und sozialen Veränderungen zu erklären und heraus zu deuten suchte, ist die gegenwärtige Kafka-Forschung etwa seit den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren des letzten Jahrhunderts, zunehmend gerade eher dort besonders effizient, wo sie kulturwissenschaftliche und sozialhistorische Kontextualisierungen vornimmt. Dergestalt wird es möglich, das Werk innerhalb eines Koordinatensystems in Bezug zu einer ganzen Reihe von lokalen, gesellschaftlichen und religiösen, also kulturwissenschaftlich höchst relevanten Parametern zu setzen.
Die Rolle des Autors bleibt natürlich nach wie vor entscheidend, doch weniger als Urheber seiner genuin individuellen Fantasiestücke, sondern mehr als Zeitzeuge, der, beobachtend und handelnd, in ein Geflecht von nicht mehr wirklich durchschaubaren, vorgegebenen Institutionen und Umwelten involviert ist und diese mittels verschiedener Schreibverfahren in ein literarisches Spiel von sozialpolitischem und sprachphilosophischem Ernst verwandelt. Innerhalb dieses Spiels verlaufen dann auch Kreuzungen und Knotenpunkte von allerlei Diskursen, die außerhalb des Spielrahmens weiterlaufen, jedoch anders beleuchtet respektiv fokussiert erscheinen, als dies innerhalb der gesellschaftlich gewordenen literarischen Spielräume der Fall ist.
Für diese neueren Forschungsbeiträge, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des „hermeneutischen Feldes“ (Hans Ulrich Gumbrecht) durchgesetzt haben, scheint in Bezug auf Kafka weniger Michel Foucault und mehr eine an ihn bereits andockende andere Lektüre entscheidend gewesen zu sein, auf die noch kurz einzugehen ist, bevor wir uns der Monografie zuwenden können, die eben diese hier nachgetragenen Verbindungslinien nicht nachzeichnet. Da es sich bei der Publikation zugleich um eine Dissertation handelt, also um eine an ausgewiesene Fachleute adressierte, erste selbständig publizierte akademische Arbeit, hatte der Autor diese Kontextualisierung – im Gegensatz zu einer anderen, die er versäumte, so auch nicht notwendig leisten müssen, wenngleich es der Monografie auch nicht geschadet hätte.
Eine Rezension dagegen, die innerhalb einer Online-Zeitschrift erscheint, welche sich an ein breites Publikum von Germanisten, anderen Kulturwissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern richtet, sollte das dann eher schon leisten. Sie sollte möglichst vielen interessierten Lesern und Leserinnen die Chance geben, selbst lesend nachzuspüren, worauf so sperrige Begriffe wie „Biopolitik“, „Diskurs“ und „Dispositiv“, „Schreibexperiment“ und „Beobachtung“ und so fort zielen und worin ihr Gewinn für die Kafka-Forschung liegen könnte.
Schreiben als poetischer Parcours menschenmöglicher Dressuren
„Wir glauben nur an eine Politik Kafkas, die weder imaginär noch symbolisch ist. Wir glauben nur an eine oder mehrere Maschinen Kafkas, die weder Strukturen noch Phantasien sind. Wir glauben nur, daß Kafka Experimente protokolliert, daß er Erfahrungen berichtet, ohne zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen („ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet“, heißt der letzte Satz des Berichts für eine Akademie).“
Diese Thesen, die aus der epochalen Kafka-Lektüre des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychiaters Félix Guattari stammen, gewichten die Bedeutung jener Passagen Franz Kafkas in einer bis dahin eher nicht gewohnten Weise, in denen der Prager Dichter ab dem 25. XII. 1911 auf die Vorteile der Literaturen kleiner Nationen und Völkergruppen zu sprechen kommt. Dies tat er am Beispiel der damals „gegenwärtigen jüdischen Litteratur in Warschau“ und der damalig „gegenwärtigen tschechischen Litteratur“. Kafka sah die Vorteile deutlich gerade darin, dass diese Literaturen als „Gedächtnis einer kleinen Nation“ den „vorhandenen Stoff gründlicher“ verarbeiteten und die „Litteratur […] weniger eine Angelegenheit der Litteraturgeschichte als Angelegenheit des Volkes“ sei „und darum ist sie wenn auch nicht rein so doch sicher aufgehoben“.
Somit werden die Texte Kafkas sozusagen eine immerwährende Herausforderung, auch und gerade für professionelle Leser, also kulturwissenschaftlich ausgebildete Forscher darstellen. Auch darauf zielt die von den beiden Franzosen innerhalb dieser Aufsatzsammlung vorgenommene These, wonach das Werk Kafkas weniger „gedeutet“ und mehr „experimentell erprobt“ sein will, weil es ein „Rhizom, ein Bau“ mit „vielerlei Eingänge“ sei. Die Tiergestalten innerhalb des Œuvres dieses Prager Schriftstellers sind so, wie alles andere auch, nicht unbedingt und nicht in erster Linie metaphorisch relevant, „Metaphern“ sind ja auch das, wovon Kafka einmal festhielt, dass sie ihn „am Schreiben verzweifeln“ ließen. Sie sind vielmehr „bedeutungslose Tonalitäten“, da „die Sprache asignifikant, also intensiv benutzt“ wird. Damit wird aber sowohl die konkrete Topografie als auch das konkrete sprachliche Umfeld und die konkrete historische Zeit für dieses Schreibexperiment als Echoraum und Schallverstärker wichtiger als für alle anderen literarischen Werke, nicht nur der Moderne.
Im deutschsprachigen Raum sind wichtige Re-Lektüren und Neuperspektivierungen vor allem mit Namen wie Ulf Abraham, Thomas Anz, Friedrich Balke, Manfred Engel, Klaus Hermsdorf, Steffen Höhne, Kurt Krolop, Bettine Menke, Gerhard Neumann, Wolf und Friedrich Kittler, Joseph Vogl, natürlich Klaus Wagenbach und Benno Wagner verbunden, neben vielen anderen jüngeren Forschern, die jetzt erst mit wichtigen Forschungsbeiträgen zu dieser Thematik einsetzen.
Franz Kafka konnte, so der Ausgangspunkt heutiger Kafka-Forschung, nur wie Franz Kafka schreiben, weil er zugleich Autor und Jurist war, in der Dreivölkerstadt Prag aufwuchs und zwar exakt zu einer Zeit, die schon wieder ganz anders war, als etwa die des von Kafka sehr gerne und viel gelesenen Friedrich Nietzsche, als komplexe Umstellungen hin zu einer technisch und technokratisch sichergestellten Disziplinierungsgesellschaft spezifische Formen annahmen. Diese Umstellungen selbst, ihre Strukturen und Dynamisierungen, das ist dann auch der Stoff, aus dem die poetischen Protokolle Kafkas sind. Unter Verweis auf Darwinismus und Lamarckismus, Quételet’s Statistik und eine ganze Reihe von anderen sozialpolitisch plötzlich relevant werdenden Zusammenhängen entstand ein statistisch berechenbares Menschenskelett, das der humanistischen Tradition als Horizont für anthropologische Selbstentwürfe keinen Platz mehr lässt; dies jedenfalls ein Fazit von vielen sehr relevanten und sehr überzeugenden Schlussfolgerungen etlicher Publikationen von Benno Wagner.
Viele, wenn auch nicht alle seiner bedauerlicherweise unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift hat er innerhalb von Monografien und Sammelbänden exploriert. Besonders diese Habilitation, aber auch einige der Aufsätze, die Jansen zwar einleitend erwähnt, aber sogleich als weitgehend nicht so relevant darstellt, sind für die vorliegende Dissertation von viel weitreichenderer Bedeutung, als dies der Autor vorab und auch in den Fußnoten an Ort und Stelle seiner Betrachtungen dieser Diskurse wahrhaben will. Wagner selbst stellt in seiner Habilitationsschrift fest: „Foucaults Begriff der ‚Unterrasse‘ ist nichts anderes als die explizit biopolitische Bezeichnung für die ‚Unversicherbaren‘, woraus ersichtlich wird, dass sich diese Habilitationsschrift selbstverständlich auch, wenn nicht sogar vor allem im Umfeld entsprechender Diskurse mit den Strategien der tödlichen Ernst annehmenden Ausgrenzung der Menschen durch die Menschen, mit der Thanatopolitik und dem tierisch gewordenen Selbstbildnis auseinandersetzt. Dies geschieht vor allem am Beispiel der Romanfragmente „Der Verschollene“ und „Der Prozess“ sowie am Beispiel der Erzählungen „Beim Bau der chinesischen Mauer“ und „Die Verwandlung“, ein Textkorpus, das auch bei der hier offensichtlich nur im Vergleich zu und in Absetzung von diesen Vorarbeiten angemessen vorzustellenden Monografie zentral sein wird. Dieser Textcorpus wird dann in Relation zu Wissensdiskursen der Zeit gesetzt. Unter anderem auch zu dem strafrechtlich-medizinischen Wissen, über das Franz Kafka durch Kenntnis der Schrift von Hans Gross verfügte: „Über den Quärulantenwahnsinn, seine nosologische Stellung und seine forensische Bedeutung.“
Diese Kontextualisierung wird auch bei Jansen eine Rolle spielen, ohne dass er auf die entsprechenden Vorarbeiten verweist. Dies eine eigentlich kaum verzeihbare Schwäche, die durchaus öfter vorkommt, etwa auch, wenn er ohne weiteren Fußnotenkommentar die Rolle beschreibt, die Franz Kafka, der Jurist im Gesundheitswesen, hinsichtlich des Sanatoriums Frankenstein inne hatte, welches nervenpolitischen Zielen zugeführt werden sollte.
Diese Umstellungen im Menschenbild also, die sich technischen und technokratischen Verfahrensumstellungen verdankten, schlossen letztendlich in der Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten – dies ist eine der Hauptthesen Benno Wagners, schon in seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift, – gleichsam unvermeidbar innerhalb des eigentlich auf Menschenfürsorge zielenden Versicherungsdiskurses allgemein rassistische und speziell antisemitische Vernichtungsdiskurse ein. Unter Bezugnahme auf Foucault, Deleuze und Guattari, allerdings noch nicht expressis verbis unter Bezugnahme auf Giorgio Agamben, und in Rekurrenz zu Jürgen Links Theorieklassiker „Versuch über den Norrmalismus“, zeichnet Wagner in seiner Habilitationsschrift „Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle“ unter anderem nach, welche sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Schriftsteller Kafka unter Zuhilfenahme der Verfahren des Juristen im Gesundheitssystems sozusagen poetisch „protokolliert“. So gelang nicht ein „prophetisches“ Werk, wie Benjamin es noch formulierte, wohl aber ein „prognostisches“ Literaturprojekt, das Wagner als „Poetik des Unfalls“, „diskursgesättigt“ und versiert vorstellt.[1]
Nach Wagners Lesart, die variiert vorerst zuletzt 2012 noch einmal in der Monografie thematisch wurde, die er gemeinsam mit Stanley Corngold schrieb, und die den Titel „The Ghosts in the Machine“ trägt, „ist die ungeheure Welt“ im Kopfe Kafkas jene, die der Jurist und Kundige im Gesundheitssystem, aus den Diskursen und Materialien seiner Zeit durch analytische Beobachtung rekonstruierte. Sie ist nicht mehr geheuer, weil einzelne Verfahren und Techniken nicht rein äußerlich geblieben sind, sondern die Möglichkeit des Menschseins und die möglichen Horizonte anthropologischer Entwürfe so stark eingegrenzt haben, dass nur mehr „normales“ und nicht mehr „verantwortungsvolles“ Handeln möglich wird. Normal aber sind verkürzende und von individuellen Eigenheiten absehende Verfahren geworden, wie sie das Versicherungssystem unbedingt benötigte. Damit aber ist auch gemeint, dass der Mensch dem Menschen Durchschnittsware und Massentier geworden ist, es um das „nackte Leben“ geht und versicherungstechnische Operationen in alle anderen Bereiche subversiv ausstrahlen. Wir werden das menschliche Ungeheuer nicht mehr los, so lang wir an den Segen der Statistik, des Durchschnittsmenschen und der Risikoversicherung glauben, ohne deren stets ebenso gegenwärtige Kehrseite mit ins Kalkül zu nehmen.
Es gibt also versicherbare und unversicherbare Risiken und im Exkurs mit dem Titel „Die Erfindung eines modernen Stigmas: Jude-Sein, Normalismus und Bio-Macht“ wird deutlich, dass „Jude zu sein“, gemeint ist die empirische Faktizität, die durch statistische Erhebungen und hollerithische Techniken geschaffen werden kann, ein nicht versicherbares Risiko ist.
Die diesem Schreibexperiment immanente, sozusagen produktionsästhetische Minimalanforderung des Prager Dichters an sein performatives Referenzspiel von tödlichem Ernst wird abschließend dann noch einmal mit dem letzten Satz der Habilitationsschrift und mit Verweis auf eine Äußerung, die laut Gustav Janouch von Kafka stammen soll, auf den Punkt gebracht: „Erfinden ist leichter als Finden. Die Wirklichkeit in ihrer eigenen, womöglich breitesten Mannigfaltigkeit darzustellen, ist wohl das Schwerste, das es gibt.“
Wagner beschränkt also keineswegs, wie Jansen behauptet, seine Untersuchungen auf das Versicherungswesen, sondern er schließt vielmehr viele Wissensdiskurse der Zeit Kafkas von diesem Versicherungswesen her auf. „Der Unversicherbare“ ist, hier wird die Polyvalenz des Wortes intendierter Weise ausgespielt, jener, der „mit einer rein dichterischen Prosa gebrochen hat“, „Angst“ im Benjamin’schen Sinne als „Organ“ einsetzt und die performative Seite der Sprache in Szene setzt, um Ausschluss und Ausgrenzungsdiskurse der Zeit zu protokollieren und Wissensarchive zu integrieren. Wagner berücksichtigt dabei auch sowohl sozialdarwinistische, psychiatrische und psychoanalytische als auch biopolitisch-bakteriologische Diskurse, um nur einige zu benennen.
Was in der Arbeit von Jansen, eventuell als Reflex im Sinne der eigentlich auf Schriftsteller gemünzten Harald Bloom’schen Theorie der Einflussangst, als bisher von der Forschung noch nicht angemessen genug behandelt dargestellt wird, hätte an eigener Konturierung gewonnen, wenn es in vergleichender Kontextualisierung vor allem zu den Vorarbeiten Benno Wagners, aber auch zu jenen Joseph Vogls, um hier nur Vorarbeiten aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen, gesetzt worden wäre.
Denn diese Vorgängerschriften und nicht erst die vorliegende Monografie sind bereits unter weiteren und anderen angetretenen Kafka-Forschern mit dem womöglich „ins Endlose“ angelegten Prozess der Rekonstruierung beschäftigt, in ähnlichem Materialbruch wie Jansen dies macht, und mit ähnlichem Fazit, nämlich „dass Franz Kafkas bio- und thanatopolitische Moderne […] eine Kultur der Gewalt [ist]“. So steht es als Ergebnis dieser Monografie mit dem ersten Satz des Schlusskapitels festgehalten. Jansens eigener Forschungsbeitrag ist also ein entschieden kleinerer, als er es mit dem Vorwort anvisiert. Er ist deshalb aber nicht weniger, sondern eher mehr wert. Denn auch zu Zeiten, in denen sich Neuphilologen als Kulturwissenschaftler kontextualisieren können, liegt das wissenschaftlich Relevante und Neue im Detail, denn Kopfarbeiter klecksen mehr, als dass sie klotzen.
„Ungeziefermenschen“, vergewaltigte Protagonisten, überzählige Landvermesser und andere ‚faule‘, ‚selbstgefällige‘ Figuren
Markus Jansens Monografie ist trotz dieses keineswegs geringen Schönheitsfehlers, eine angemessene und reflektierte Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschungsliteratur zu leisten, und eventuell das eigene Ziel dann entsprechend bescheidener zu formulieren, durchaus lesenswert. Sie beeindruckt mit dem Materialreichtum. Auf der Basis der Diskursanalyse Foucaults und Agambens kontextualisiert diese Monografie vor allem drei K-Romane, die „Verwandlung“ und andere Texte Kafkas im Umfeld einschlägiger Dokumente. Diese sind zu einem großen Teil, wie bereits erwähnt und wie ein Vergleich der Literaturverzeichnisse zeigt, deckungsgleich mit jenen, die auch Wagner in seiner Habilitationsschrift und/oder anderwertig referiert und kontextualisiert. Sie beziehen sich ihrerseits auf den Sozialdarwinismus und dokumentieren eine enge Verflechtung „von Biologie und Ökonomie“. Es sind dies Zeugnisse aus der allererst allmählich sich konstituierenden Bakteriologie, der Entomologie, dem Antisemitismus und der Euthanasiediskussion.
Der entscheidende Surplus, den diese Monografie im Vergleich zu der bereits vorhandenen Forschungsliteratur, zu leisten vermag, besteht eigentlich in der besonders deutlich herauskristallisierten Bedingung der Möglichkeit, den Menschen nicht nur zum Tier, sondern zum „Ungeziefermenschen“ werden zu lassen, die durch die stärkere Einbindung von Agambens Theorie ermöglicht wird. Auch liefert diese Monografie erheblich mehr Bildmaterial, als bisher zur Verfügung gestellt worden war. Insgesamt scheint hier aber diametral entgegengesetzt zu den bisherigen Forschungsberichten nicht thematisch zu sein, wie der Normalitätsdiskurs selbst derartige unmenschliche und rassenbilologische Ungeheurlichkeiten zeitigt, da Jansen die These vertritt: „Bei den modernen Ungeziefermenschen verläuft nicht in erster Linie die Grenze zwischen Mensch und Tier durch den Menschen selbst, sondern die Grenze zwischen Mensch und Ungeziefer. Die Ungeziefermenschen sind daher in einer onto- und biologischen Zone extremster Devianz und damit gleichzeitig in einem krassesten Gegensatz zur „Normalität“ positioniert, werden doch diese Menschen durch die sprachliche Stigmatisierung als Ungeziefer einer thanatopolitischen Macht unterworfen, die historische Verkörperungen des homo sacer erzeugt, nacktes, straffrei tötbares Leben.“ (die Kurisvschrift soll, so der Autor, den Begriff als in Anführunsgzeichen zu setzenden darstellen, der eben fester Bestandteil damaliger Diskurse und nicht etwa seines Alltagsjargons sei.)
Hier scheint, wie andernorts auch, die nicht klar explizierte Annahme durch, diese Diskurse seien, wie die Moderne auch, überwunden oder immerhin überwindbar. Die Argumentation legt bisweilen nahe, man könne nach dem Vorbild der Freud’schen Psychoanalyse durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten ähnlich „ungeheure Welten“ und „ungeheure Ungeziefer“ als verbal halluzinierte Menschenfeinde von verheerender faktischer Auswirkung, zukünftig vermeiden.
Hierin läge dann auch die entscheidende Differenz zu den Vorarbeiten Benno Wagners im engeren Sinne und denen Joseph Volgs und Wolf Kittlers und andere im weiteren Sinne. Ähnliches Material wird, das ist weder in der Kafka-Forschung, noch innerhalb anderer kulturwissenschaftlicher Theorie- und Textarbeit generell selten, herangezogen, um diametral Entgegengesetztes zu belegen.
Denn nach Jansens Lesart handelt es sich bei einigen der Figuren Kafkas auch um Figuren, die noch über einen Freiheitsradius verfügen, den sie aus selbstverschuldeten Gründen nicht nutzen. Das legt jedenfalls folgendes Fazit nahe: „Besagte kafkasche Figuren sind daher einerseits als Opfer von undurchschaubaren Machtstrukturen anzusehen, andererseits aber mindestens im gleichen Maße als Täter. Denn sie perpetuieren diese Machtstruktur durch ihr distanzloses Verhalten beständig weiter und halten diese Macht- und Gewaltstrukturen gerade dadurch aufrecht und verfestigen sie weiter. Die Möglichkeit zur Freiheit – auch wenn diese Möglichkeit bei Kafka bisweilen verschwindend gering erscheinen mag – wird nicht realisiert. Als Gründe dafür sind vor allem körperliche und geistige Faulheit, Selbstgefälligkeit, Kommunikationsunfähigkeit und eine ausgeprägte Machtgier bei gleichzeitiger Feigheit der Figuren zu nennen.“
Diese Möglichkeit zur Freiheit der Figuren, die sie nicht nutzen, und diese doch recht barschen Charakter-Zuschreibungen, vermag der Autor allein deshalb zu sehen, weil er sozusagen vor der Folie der Habilitationsschrift Benno Wagners das dort als performatives Sprachexperiment rekonstruierte Erzählgeschehen wieder auf die Bedeutungsebene und metaphorische Ebene zurückholt. So sieht Markus Jansen also in Gregor Samsa immer noch eine Metapher.
Benno Wagner hat dagegen in dem entsprechenden Kapitel seines Beitrags die Verwandlung materiell und prozessual als vollzogen gelesen. Innerhalb seiner Schriften ist Gregor Samsa vollumfänglich und in jedem möglichen und denkbaren Sinne zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ mutiert. Er wird auch nicht als faules oder feiges, sondern ganz im Gegenteil als sehr arbeitswilliges Wesen plausibilisiert, dass Gesundheit simulieren möchte, nur um im Kreis der normalen Arbeitnehmerschaft verweilen zu dürfen, so verwandelt, so ungeheuer sein Existenzstatus auch immer sein mag.
Für eine solche Lesart sprechen die Gedanken Gregor Samsas, die er dem Prokuristen durch die Türe hindurch verbalisieren möchte, freilich versteht man ihn nicht (mehr). Ähnlich vollgültig und also weder metaphorisch, noch symbolisch, noch allegorisch hat etwa auch Volker Klotz lange vorher diesen Kafka-Text schon gelesen, so dass für ihn Kafkas „Die Verwandlung“ innerhalb eines gattungsgeschichtlichen Parcours zum Kunstmärchen den pervertierten Höhepunkt annehmen konnte. Denn nur im Märchen, so Klotz, gilt der Pakt des selbstverständlich Wunderbaren: keine Figur und kein Leser stellt das „Ungeziefersein“ Gregor Samsas letztendlich in Frage. Niemand lässt sich dadurch aus der Leseroutine bringen, gar aus der Lektürebahn schießen, niemand schreit auf.
Gregor Samsa als Unversicherbarer im vollumfänglichen Sinne, also als Angehöriger einer ‚Unterrasse‘ im Foucault’schen Sinn verurteilt, per operationalen Diskret, wie es die diskursanalytisch und semiotisch fortschreitende Analyse Benno Wagners zeigte, ist zwar nicht im Märchen, wohl aber im Kalkül etlicher Normalisierungsverfahren angesiedelt. Dort hat er keine Freiheiten oder noch nicht aufs Spiel gesetzten Energien mehr in Reserve, sondern ringt „ums nackte Leben“.
Beide Lesarten sind mindestens gleich gut mit Textzeugen belegbar, und es wird am Ende im Ermessen des Lesers und der Leserin liegen, wie er/sie Kafkas Wissen um den Menschen vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Wissens um den animalischen Durchschnittsmenschen verstehen oder eben nicht verstehen möchten.
Der Monografie sind jedenfalls trotz und ein wenig auch wegen ihrer Schwächen viele Leser und Leserinnen zu wünschen, die die Kontextualisierungsarbeit, die hier begonnen wurde, möglichst kompetenter fortsetzen wollen. Denn als Zeugnis einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Kafka-Forschung betrachtet, ist diese Studie unbedingt beachtenswert. Endlich gehört es zu kulturwissenschaftlicher Arbeit dazu, dass das Neue eher eine Nuance umfasst, als einen ganzen Kontinent neu und anders, etwa von unten her, zu erschließen, wofür im Zweifelsfalle ohnehin wenn, dann Franz Kafka allein geeignet wäre. Denn am 21.09.1912 hält er fest: „Ich, nur ich bin der Beobachter des Parterres.“
[1] Benno Wagner: Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle. Unveröffentlichte Habilitationsschrift 513 Seiten, Siegen, 1998, problemlos über die Universitätsbibliothek Siegen auszuleihen.