Bohrende Fragen vor der Messe

Anstatt eines Editorials: Was hat Karl Heinz Bohrer mit „Tristesse Royale“ zu tun?

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat Karl Heinz Bohrer eigentlich mit „Tristesse Royale“ zu tun, dem 1999 erschienenen Buch des „popkulturellen Quintetts“ mit Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre? Natürlich, auf den ersten Blick gar nichts. Überraschend mutete es daher schon an, dass es bei einem Marbacher Symposium zum 80. Geburtstag eines Literaturwissenschaftlers, der es in seiner eigenen Themenwahl unter Homer und Nietzsche nie machte, eingehend um dieses seinerzeit viel verlachte ‚Schnösel‘-Dokument der deutschsprachigen „Popliteratur“ ging. In der vorliegenden Oktober-Ausgabe von literaturkritik.de können Sie einen ausführlichen Bericht über die Tagung nachlesen, dem Sie nähere Informationen zu dieser ,besonderen Begebenheit’ entnehmen können.

Doch wenn man genauer darüber nachdenkt, ergeben sich sehr wohl einige Konvergenzen zwischen Bohrer und den fünf Dandys aus dem Adlon. Zum Einen erinnert man sich daran, dass Ernst Jünger, dessen Literatur Bohrer in seiner Habilitation „Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk“ 1978 in der Germanistik wieder salonfähig machte, auch in den Büchern Christian Krachts oft aufgerufen und vielfach zitiert wird. Zum Anderen fallen aber auch gewisse Ähnlichkeiten im rhetorischen Habitus des Pop-Quintetts und des Jubilars ins Auge: Geißelte Bohrer die Bonner Republik der Ära Kohl unermüdlich als kleinbürgerliche und ästhetisch minderbemittelte Gartenzwerg-Nation verlogener „Gutmenschen“ – ein Begriff, der dann zum Modewort der Neuen Rechten avancierte, mittlerweile aber auch wie selbstverständlich in den Sprachgebrauch von Menschen eingegangen ist, die sich für ‚Linke‘ halten – so sind auch die Gespräche, die Kracht & Co. im Hotel Adlon seinerzeit führten und die man sich mittlerweile in Auszügen sogar als Zeichentrick-Version bei YouTube ansehen kann, von einer geradezu an Karl Heinz Bohrers Auftritte erinnernden Schimpfköpfigkeit über deutsche ‚Stillosigkeiten‘ und Provinzialitäten geprägt. Nicht von ungefähr trug auch eines der Bücher der letzten Jahre, die Bohrer veröffentlichte, den Titel „Großer Stil“.

Das Ganze ist letztlich nicht ohne eine gewisse Komik: Nicht nur, dass Eckhart Nickel über Thomas Bernhard promovierte – auch das ‚popliterarische Quintett‘ insgesamt hat in seinem endlosen Gemaule etwas von den Protagonisten einer Bernhard-Inszenierung, genauso wie einen Karl Heinz Bohrers apodiktischer Gestus, sieht man sich ihn nur zehn Minuten an, sofort an typische wortmächtige Helden aus den Werken Thomas Bernhards denken lässt. Bloß, dass Bohrers Redestil unzweifelhaft den gebürtigen Kölner erkennen lässt und damit so gar nichts mit dem Wienerischen gemein hat, das man bei dem Gedanken an Bernhard sofort im Ohr hat. Übrigens: Über kaum eine Stadt wird in „Tristesse Royale“ so viel gelästert wie über Köln, einmal abgesehen von Hamburg und Berlin.

Bohrers autobiografisch grundierter Debüt-Roman „Granatsplitter“ ist eines der Bücher dieses Herbstes, das von der Literaturkritik bereits relativ einhellig gelobt wurde und in der vorliegenden Ausgabe von literaturkritik.de vorgestellt wird: Der Krieg als zunächst fast noch ,schönes’, zumindest aber abenteuerliches Erlebnis – das Thema des Kindheitsromans, in dem Bohrer „jede Form von politischer Correctness oder Moralisierung vermeiden“ wollte, wie er im Deutschlandfunk erläuterte, lässt abermals an Christian Kracht denken, vor allem an dessen vorletzten Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008).

Noch viel mehr drängt sich allerdings ein anderer Vergleich auf, wenn man zu Beginn von Bohrers Roman liest, wie die spielenden Jungen beginnen, Granatsplitter zu sammeln und zu tauschen, die in der Bombennacht vom Himmel gefallen sind: „Die Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte. Manche waren von dunkel leuchtendem Rot und schwarz an den Rändern, andere hatten eine bläulichweiße Färbung, und wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Es war wie im Märchen – man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben.“ Diese elegische Beschreibung liest sich wie ein forciert und bewusst naiv gestaltetes Gegenstück zu Gisela Elsners Roman „Fliegeralarm“ aus dem Jahr 1989, der heute weitgehend vergessen ist – zu Unrecht. Auch Elsners Text, der als Satire wahrgenommen wurde, handelt von dem begeisterten kindlichen Handel mit „metallen schimmernden Bombensplittern“, vom Leben in einem bizarren Märchen aus kindlicher Sicht, das allerdings, anders als bei Bohrer, für den Leser im Lauf der Handlung immer beklemmendere Ausmaße annimmt. Der Erfolg von Bohrers literarischem Experiment mag dazu anregen, Elsners Buch gleich noch einmal dazuzunehmen und es mitzulesen, um es endlich als das zu entdecken, was es ist – einer der radikalsten, formal konsequentesten Romane der letzten Jahrzehnte, der seiner Zeit weit voraus war. Der Text liegt im Verbrecher Verlag vor, in einer von Christine Künzel auf Grundlage des Manuskripts letzter Hand edierten Ausgabe, mit einem Nachwort von Kai Köhler.

Ähnlich wie Bohrer wechselten dieses Jahr gleich mehrere Publizisten und Literaturkritiker mutig das Genre und debütierten mit Romanen, die allerdings nicht alle so gut wegkamen wie Bohrers Jungenderinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. So wagte Jens Jessen den München-Roman „In einem falschen Bett“, und Michael Maar schrieb als Literaturwissenschaftler mit „Die Betrogenen“ eine Art fiktives ,Insiderbuch’ über die Eitelkeiten des Literaturbetriebs.

Wie jedes Jahr im Oktober widmet sich unsere Zeitschrift diesen Monat anlässlich der Frankfurter Buchmesse schwerpunktmäßig dem Herbstprogramm der Verlage. Auch die für den Deutschen Buchpreis nominierten Romane werden in unserer Ausgabe selbstverständlich berücksichtigt. Fällige Rezensionen, die noch nicht in der Redaktion eingegangen sind, werden so bald als möglich nachgeliefert. Doch auch darüber hinaus bietet die Ausgabe eine Reihe von Rubriken, etwa zu Rainald Goetz, der mit seinem Manager-Roman „Johann Holtrop“ für Aufsehen sorgt, oder auch zu Büchern, die diesen Herbst Krankheitsgeschichten erzählen.

Herzliche Grüße
Ihr
Jan Süselbeck

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Gisela Elsner: Fliegeralarm. Roman.
Herausgegeben und am Manuskript letzter Hand überprüft von Christine Künzel. Mit einem Nachwort von Kai Köhler.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
282 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426239

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Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239722

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