„Hätte man nur jemand anderen angefasst und ausgegraben“
Oder: Warum Hartmut Abendschein der Namensgeber seines ‚Romanversuchs‘ „Dranmor“ eigentlich ziemlich egal ist
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs war ein Leben wie ein Roman: Geboren 1823 in der Nähe von Bern verlässt Ludwig Ferdinand Schmid gerade einmal zwanzigjährig seine Heimat, um als Kaufmann in Brasilien tätig und – allen Rückschlägen zum Trotz – bald auch erfolgreich zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hat Schmid, der als Dichter unter dem romantischen Pseudonym „Dranmor“ firmiert, mit dem melancholisch-todessehnsüchtigen „Ich möchte schlafen gehen“ schon sein bekanntestes Gedicht verfasst. Schmid erwirbt ein großes Vermögen, bereist Europa, wird gar zum österreichisch-ungarischen Generalkonsul in Rio de Janeiro ernannt. Es folgen eine wohl eher problematische Ehe mit der Französin Lise Anglaë Marque, die Übersiedelung nach Paris, zunehmende wirtschaftliche Probleme und der schließlich scheiternde Versuch, sich durch die Rückkehr nach Brasilien finanziell zu sanieren.
Als Schmid 1887, ein Jahr vor seinem Tod, in seine Heimatstadt Bern zurückkehrt, ist er ein gebrochener Mann, wirtschaftlich wie gesundheitlich ruiniert und auch sein zeitweiliger literarischer Ruhm (einigen seiner Zeitgenossen galt er als einer der „ersten Dichter […] unserer Zeit“) ist schon im Begriff, wieder zu verblassen. Überraschend ist dabei zunächst vor allem, dass sich bislang kein Autor dieses Stoffes angenommen hat, bietet selbiger doch augenscheinlich mehr als nur eine Möglichkeit der gewinnbringenden Bearbeitung; dies stellt auch der namenlose Ich-Erzähler in Hartmut Abendscheins unlängst im Athena Verlag erschienenen „Dranmor“ begeistert fest: „Daraus müsste sich etwas Spannendes spinnen lassen. Eine Kriminalerzählung vielleicht, oder eine todtraurige Liebesgeschichte, eine Geschichte eines allmählich werdenden Wahnsinns vielleicht.“
Umso überraschender wiederum ist dann allerdings die von Abendschein gewählte Form der Annäherung an besagten Schweizer Dichter. Um es vorweg zu nehmen: All jene, die einen historisch-biografischen Roman erwarten, werden wohl herb enttäuscht werden, all jene, die sich eine „Kriminalerzählung“ oder eine „todtraurige Liebesgeschichte“ erhoffen, werden nur sehr bedingt auf ihre literarischen Kosten kommen, und jene, die sich für „Geschichten eines allmählich werdenden Wahnsinns“ enthusiasmieren können, werden bei „Dranmor“ schon etwas Geduld aufbringen müssen.
Doch eins nach dem anderen: Primär geht es in Abendscheins „Romanversuch“ (so bezeichnet der Autor selbst sein Werk) zunächst einmal um die (Nicht-)Entstehung eines Textes über den Dichter Dranmor; im Vordergrund steht die Recherche des Ich-Erzählers – die Recherche zum Leben Schmids natürlich, aber auch die Suche des Erzählers nach sich selbst, nach seinen diversen Alter Egos, dem Sinn hinter seiner Arbeit und wahrscheinlich auch seiner Existenz, wobei letztere gegen Ende der Geschichte deutlich infrage gestellt wird. Per Zufall stößt der Erzähler auf Dranmor und trifft zeitgleich einen alten Freund wieder, der sich ebenfalls für das Leben des Dichters interessiert; es entsteht ein merkwürdiges Konkurrenzverhältnis zwischen beiden, in dem der Freund Roman dem Erzähler stets eine Nasenlänge voraus zu sein scheint.
Für den Erzähler werden die Nachforschungen nun in der Tat zusehends zu einem Kriminalroman, bei dem er sich deutlich an die Detektiv-Gimmicks erinnert, die er als Junge aus Yps-Heften zusammenbastelte (viel bewundernswerter, obgleich für die Handlung nicht relevant, ist die Tatsache, dass es ihm seinerzeit offenbar auch erfolgreich gelang, die ebenfalls als Gimmick feilgebotenen Urzeitkrebse zum Leben zu erwecken). Doch schon bald sieht sich der Erzähler mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert: Seine Position als Aushilfshausmeister, die ihm immerhin eine Mietreduktion einbrachte, wird ihm entzogen, sein eigentlicher Arbeitgeber ist wenig erfreut, ob der Tatsache, dass er derart fixiert auf seine Recherchen mehr als einmal nicht zur Arbeit erscheint, er muss die amourös-erotischen Avancen einer ältlichen Kioskbesitzerin abwehren, gleichzeitig aber auch feststellen, dass Roman nun mit einer früheren Jungendbekanntschaft des Erzählers liiert ist (dies könnte die „todtraurige Liebesgeschichte“ sein, obgleich – so „todtraurig“ ist sie eigentlich gar nicht); sein Forschungsobjekt entzieht sich immer mehr der genauen Definition und je länger er recherchiert, umso weniger kann er über ihn sagen und – zu allem Überfluss – leidet er auch noch an einer Schreibblockade, die nicht zuletzt dadurch hervorgerufen wird, dass er feststellen muss, dass er Dranmors Gedichte unvorstellbar furchtbar findet: „Am Schreibtisch: der Bildschirm flackert ein wenig und hat noch keine Zeile zu Papier gebracht. Nichts liegt vor. Schlimme Liebesgedichte, Kreuzreimiges, Paarreimiges. Kaum auszuhalten, die Vorstellung, dass das alles umgeschrieben werden muss. Alles muss lesbar und verständlich gemacht werden. Alles muss man zerstören, damit es wieder ein Genuss ist zu lesen. Hätte man nur jemand anderen angefasst und ausgegraben. Vielleicht ging es aber auch nur um das Ausgraben, denke ich dann.“
Schlimmer noch: Bald schon wird ihm deutlich, dass er nicht genug über Brasilien weiß, um Dranmors Hintergrund rekonstruieren zu können, so dass er beherzt zur „Wahrhaften Historia“ Hans Stadens aus dem 16. Jahrhundert greift: „Hans Staden ist ein Meister der Beschreibung des teilnehmenden Kannibalismus. Ich folge dem Trinkgelage, dem Einkochen der Gefangenen und der Rasur der Augenbrauen des Mahles sowie der herausquellenden Gehirne nach ihrer Knüppelung. Der Häutung – der illustrative Holzschnitt der Indio-Frauen mit ihren Zeremonial-Keulen. Eine saftige, barocke Sprache. Es sind Bilder, die nur wenig durch die Übertragung einbüßten. Ich erschrecke über meine Begeisterung.“
Eine Begeisterung, im Übrigen, die durch die Lektüre der Dranmor Gedichte nicht ansatzweise erreicht wird: „Dranmor erscheint mir dagegen wie eine weinerliche Milchsuppe. In den Gesammelten Dichtungen findet sich leicht verdauliche, reibungslose Naturlyrik. Mitmachlyrik. Lürik. Sicher tut man ihm Unrecht, mehr als hundert Jahre später, aber, wenn man ihn und seine Verse zum Gegenstand von Fiktion machen will, muss der Tod hinein. Oder Brinkmann.“
Doch auch damit ist des Unbills noch lange nicht genug; zu allem Überfluss wuchert in der Wohnung des Erzählers noch ein degoutant-wabernder Schimmelpilz, der ihn zur Flucht in den Keller zwingt, ihm aber selbst dorthin folgt. Schließlich kommt es, wie es kommen musste, und es folgt die „Geschichte eines allmählich werdenden Wahnsinns“, bei der nun jedoch nicht das ursprüngliche Subjekt der Erzählung, sondern der Erzähler selbst dem Wahnsinn anheimfällt; zuerst versucht er, auf dem Berner Schlosshaldenfriedhof Dranmors Grab intuitiv zu erspüren, stößt dabei aber nur auf die letzte Ruhestätte eines verhassten Biografen des Dichters („Die Cervelatprominenz soll den Olymp bewohnen und Ferdinand Schmid haben sie wahrscheinlich auf einen Acker vor eine verfallene Kapelle gelegt.“); derart echauffiert versucht er prompt, obgleich letztlich erfolglos, diesen flugs zu exhumieren; es folgen diverse Wahnvorstellungen, aufschlussreiche Gespräche mit anthropomorphisierten Alkoholika und schließlich der Showdown mit dem ungesunden Megapilz, der zweifellos das sprachliche wie auch das inhaltliche Highlight des gesamten Romans ist: „Ein Schwappen tönt auch aus der nun nicht mehr zu übersehenden, undichten Stelle im Bad, gleich über der eingelassenen Leiste des Duschvorhangs. Dort plant sich Schlimmes. Man würde nachgeben und irgendwann einen Durchbruch begünstigen. Man erwartet Staub und Fetzen unversiegelter Raufasertapeten sowie Spuren krümelnden Gipses. Noch fällt er nur in Zeitlupe in die Wanne und färbt eine sich bildende Pfütze erst gelb, dann grün, ein intensives Orange. Der farbenfrohe Schmutz, der sich am Wannenrand ablagern wird, ist wohl schwer zu beseitigen, denke ich. Man sülzt unverschämt und schleimt und bildet beim Auftreffen in der Wanne eine wabernde, gallige Masse mit grosser Leuchtkraft. Ein oszillierendes Salamanderwerk, das Amphibienwesen gebiert, die blecken ihrer gespaltenen Zungen. Hat man die feindliche Übernahme auf heute angesetzt?“
Allerdings: So wie hier gelingt es Abendschein nur selten, die Leser in seinen erzählerischen Bann zu schlagen; letztlich krankt „Dranmor“ an einem Zuviel – zu vielfältig sind sowohl die expliziten als auch die impliziten Anspielungen auf Literaten und (teilweise obskure) historische Persönlichkeiten und zu oberflächlich, zu wenig handlungskonstitutiv bleiben sie folglich. Dies wird besonders in der Rolle des eponymen Dichters deutlich, aus dessen Werk zwar immer wieder Verse zitiert werden, zu dem ansonsten aber weder der Autor noch der Erzähler eine besondere Affinität zeigen. Doch auch inhaltlich leidet „Dranmor“ an einem Zuviel: Die immer präsente Frage nach der Rolle und Verlässlichkeit von Archiven, die (post-)moderne Thematisierung der Identität der Person, die Darstellung der zunehmenden Auflösung von vermeintlichen Sicherheiten, all das vermag Abendschein in eine Vielzahl kleiner, teils skurriler, teils amüsanter Vignetten zu fassen; was er hingegen nicht vermag, ist diese zu einem überzeugenden Text zusammenzufügen, oder, wie es der Erzähler eingangs nennt, zu ‚etwas Spannendem zu spinnen‘.
Jedes einzelne der Vielzahl von Kurzkapiteln, die meistenteils kaum mehr als zwei Seiten umfassen, wirkt wie ein eigener Text für ein Literaturblog oder eine -zeitschrift. Die Gesamtheit der Texte ergibt aber keinen Gesamttext, der den Leser für sich einnehmen könnte – ein Eindruck, der nicht zuletzt auch durch die rhythmische Monotonie der stakkatohaften Sätze hervorgerufen wird, die zwei oder drei Kapitel lang poetisch-erfrischend, nach zwanzig bis dreißig Seiten aber primär ermüdend wirkt. Hier wäre weniger wohl ausnahmsweise einmal mehr gewesen.
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