„Mit seiner nachsichtigen Fresse“

Hippiemütter, Einhorn-Porno, Derwischmann: Der Held in Andreas Stichmanns „Das große Leuchten“ hat auf dem Weg zur Normalität die größten Hürden aus dem Weg zu räumen

Von Andreas ThammRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Thamm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende ist das eine Harmonie wie hinterm Schleier in Andreas Stichmanns Debüt „Das große Leuchten“: Regenrinne, Hühnersuppe, Kamin. Die Aufregung, das große Umherirren, Suchen, ist nicht mehr notwendig und der Held Rupert kann sich endlich so fühlen wie ein „verantwortlicher Dreidimensionaler“. Oder zumindest ansatzweise.

Andreas Stichmann prescht mit seinem Buch in den Bücherherbst, den Herbst der Debütanten. Er hat einen großen Verlag gefunden, Rowohlt, die „Zeit“ hat ihn im Vorfeld der Buchmesse mit den anderen Jungen des Literaturbetriebs wohlwollend in einen Topf gesteckt. Es wäre schade um „Das große Leuchten“, wenn es in diesem Brei unterginge.

Denn Stichmann hat das nötige Handwerkszeug, hat eine klare souveräne Sprache, Fantasie und genug Demut, um seinen ersten Roman so anzulegen, dass die potentiellen Gefahren auf ein Minimum reduziert sind. Der Autor wählt eine Reise, die Suche nach Ana, Ruperts Freundin, als zentrale Bewegung des Buchs. Sie führt durch den Iran, den Stichmann kennt und beschreiben kann, und der den meisten deutschen Lesern fremd und kurios genug ist, um unterhaltsame Stationen aneinander reihen zu können, die für die Gesamtheit des Textes mal mehr mal weniger relevant sind.

Dabei werden Rupert und dessen Jugendfreund Robert – ob es dieses Namens-Spielchens bedurft hätte, sei dahingestellt – von einer Gestalt zur nächsten weitergereicht. Der freundliche Abu, der seltsame Nassir Chan und schließlich der Derwischmann, dem sich Stichmann leidenschaftlich widmet und der deshalb nicht mit einem schlichten Adjektiv zu beschreiben ist. Am Ende dieser Kette steht Anas Mutter und zieht, und markiert schließlich das Ende der Reise.

Der Derwischmann aber ist die zentrale Figur des Romans, weil er als Drehscheibe funktioniert, für das Verhältnis von Robert und Rupert. Rupert ist ein Vernunftmensch, aber nicht ohne Macken, ständig auf der Suche nach „einer Ordnung“, „Klarheit“ und „Mustern“, er ist der moderne, von allen transzendentalen Netzen losgemachte Sinnsucher, der immer wieder scheitern muss. Aber ein Anführer. Zumindest für Robert, den tendenziell schizophrenen Träumer, der von seinem ältesten und besten Freund gerne etwas stiefmütterlich behandelt wird. Bis: „Und der Derwischmann schaut jetzt auch noch nachsichtig an mir vorbei. Mit seiner nachsichtigen Fresse.“ Und später: „Oben stehen Abu, Rupert und der Derwischmann wie eine kleine Familie im Licht der Lampe. Robert als der Größte weiter links, etwas entfernt von den anderen. Als wollte er zeigen, dass neben ihm ein Platz für mich ist, dass ich zurückkommen soll.“

Diese Dynamiken machen den Roman aus. Die tatsächliche Bewegung durch Teheran, durch die Wüste, ans Kaspische Meer ist schlicht das klassische Abenteuer auf der Suche nach einer mystifizierten Frau. Die inneren Bewegungen der Personen liefern eine psychologische Ebene, die zwar nicht überkomplex konstruiert, dafür aber glaubhaft ist.

In den Rückblenden in die Jugend von Robert, Rupert und Ana spiegelt Stichmann das nämlich. Nach dem Tod seiner Mutter und dem Einzug bei Robert und dessen Mutter, einer biestigen Alt-Hippie-Dame, erlebt Rupert mit der Iranerin Ana ein adoleszentes Bonny-und-Clyde-Drama. Rupert ist dabei oft der „Mitgeschleifte“, derjenige, der sich hat verzaubern lassen und Ana, der mystifizierten, auf Gedeih und Verderb folgt. Die beiden „hauen ab“ und landen in einem Wohnwagen, wo sich mit Lescek und der beängstigenden Porno-Queen Lydia ein perverses Spiel entspinnt. Bis zur Entladung: „Der Regen spritzt vom Boden, Blut war an meiner Lippe. Aber es fühlte sich gut an. Als wäre ich Teil des Regens.“ Ja, manchmal schrammt Stichmann hier hart am Teenie-Kitsch.

Viel wichtiger ist erneut die psychologische Komponente: Der Ana nachfolgende Rupert findet am Tiefpunkt seinen unbedingten Wunsch nach Normalität wieder und wird zum Entscheider. Stichmann dreht das Machtverhältnis. Nur diesmal zu Ruperts Gunsten.

„Ich wollte“, sagt Stichmann im Interview in der Literaturzeitschrift Bella Triste, Ausgabe 33, „einen Ich-Erzähler, mit dem man nicht so richtig eins wird, dem man nicht so richtig traut. Der einem was vom Pferd erzählt und dabei diese Haltung hat, als wäre alles völlig klar, was er einem präsentiert.“ Das gelingt. Zwar wünscht der Leser Rupert alles Gute, aber zu einem Freund, den man durch diese Wüste tragen möchte, wird er nicht. Er soll sich ruhig abmühen müssen.

Es ist sein Anrennen gegen die Chaoshaftigkeit des Vorgefundenen, das immer wieder die Situationen provoziert, die irgendwie diskursiv sind, ohne das aufzudrängen. „Ich sage letztlich, wir seien auch etwas derwischhaft und antimodern – also kritisch modernen Dingen gegenüber, rechts, genaugenommen. Sehr rechts oder links. Oder mittig“, sagt er und kommt damit beim Derwischmann nicht gut an. Ruperts Ordnungssysteme laufen leer.

Ob Derwischmann, Hippiemütter oder Lydia mit ihrem Porno vom Einhorn und dem Jäger, am Ende überwindet Rupert die Gestalten, die diese Barriere sind, zwischen ihm und der Normalität. Am Ende ist das eine Harmonie wie hinterm Schleier, denn noch scheint Rupert nicht ganz dort angekommen, wo er hinwill. Im Gegensatz zu seinem schizophrenen Konterpart wohlgemerkt. „Die Dinge des Lebens sind an den richtigen Stellen vorhanden“, konstatiert Rupert, und das ist doch auch schon etwas.

Titelbild

Andreas Stichmann: Das große Leuchten. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498063900

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