Vollendung der hermetischen Welt
Fortsetzung der "Geheimnisvollen Städte" von Schuiten/Peeters
Von Christoph Schmitt-Maaß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFrançois Schuiten muss wohl zu den umtriebigsten Gestalten des künstlerisch ambitionierten Comics gerechnet werden: Neben seinem zeichnerischen Engagement entwirft der Sohn einer angesehenen Architektenfamilie U-Bahn-Stationen für Brüssel und Paris, realisiert Filme, prosaische Fotobände oder arbeitet am "Planet of Vision" auf der Expo 2000 mit.
Nach einer längeren Pause ist Schuiten an den Zeichentisch zurückgekehrt und hat zusammen mit Benoît Peeters einen weiteren Baustein zur Welt der "Geheimnisvollen Städte" geschaffen. Nach "Mary" und dem "Führer durch die geheimnisvollen Städte" liegt hier wieder ein Farbband vor, der die Gegenwelt um einige Facetten bereichert, sie aber nicht erklärt. Darum geht es den beiden Belgiern auch gar nicht: Ihr Universum soll komplex und individuell sein. Diesem Anspruch wird sogar die eigens von den beiden "Urbitekten" erstellte Internetsite gerecht, deren Symbole und Links gewöhnungsbedürftig, aber originell und immer hochästhetisch sind. (www.urbicande.be).
Wie die reale, so hat auch die Gegenwelt ihre Sonnen- und Schattenseiten. Im "Schattenmann" (im Original "L'ombre d'un homme") werden die dunklen Seiten fokussiert. Die Geschichte ist einfach: Ein Mann namens Chamisso entdeckt eines Tages, dass sein Schatten kein graues Gebilde mehr ist, sondern durchscheinend und farbig, gerade so, als sei der Protagonist transparent. Von dieser Idee ausgehend entwickeln Autor und Zeichner ihre magischen Bilderwelten, in denen auch die Probleme der Urbanisierung, die damit verbundene Vereinsamung oder der allgegenwärtige Staat angesprochen werden.
Die Querverweise auf Karl Blossfeldt sind in diesem Werk unübersehbar: Die Stadt ist ein einziges vegetatives System, von den Bewohnern zivilisiert und nutzbar gemacht. Der Gegenpol zu dieser Ästhetisierung der Natur liegt in der Betonung des Sexuellen. Eine Umkehrung scheint stattzufinden; nicht mehr die Natur ist wild und urwüchsig, sondern die Menschen sind es. Dem entspricht auch das Verhalten der Bewohner von Blossfeldtstad: erst als Chamisso seinen Schatten künstlerisch zu nutzen beginnt, akzeptiert man ihn.
Die Auflösung von Chamissos Persönlichkeit findet ihren Ausdruck in den statischen Bildern, die jedes für sich ein Gemälde oder ein Teil eines Gemäldes sein könnten. Die Defragmentierung, auch der zeitlichen Ebene - durch Zeitraffungen -, trägt zur stringenten Erzählweise bei. Auffällig ist auch der Zitatenschatz der Autoren: Die Namen einiger Figuren erinnern an kulturgeschichtliche Gestalten unserer Welt: Albert Chamisso und Michel Nadar lassen den Schriftsteller und den Fotopionier präsent werden. Auch Chamissos Versuche, sich gegen seine Entlassung zu wehren, trägt kafkaeske Züge. Es handelt sich jedoch überwiegend um ein immanentes Zitationssystem: Figuren aus den älteren Alben treten auf, die Gründerlegende und Robicks Verdienste werden historisch verklärt. Doch die beiden Belgier gehen noch weiter. Bei einer Theaterprobe wird das Stück "Der Turm", der Gründungsmythos, nachgespielt. Meisterhaft verbinden sie Jules Verne und Architektur, Außenseitertum und erlösende Liebe. Sie haben damit ein Comic geschaffen, das die Grenzen des Genres erreicht und überschreitet. Mit ihren detailreichen Architekturzeichnungen vertreten die Autoren dasselbe Konzept wie Umberto Eco in seinen Romanen: Sie kombinieren traditionelle Aspekte mit einem zeitlosen Konzept, das jedoch dem Zeitgeist von gestern verpflichtet ist. Das Bild wird zum Zitat, zum Abbild des Abbildes. Mit dem "Führer durch die geheimnisvollen Städte" haben die Autoren ihre Welt vollendet; nun können sie sich frei in ihr bewegen, können zitieren und rekreieren. Alle acht Bände zusammen genommen erreichen damit eine Komplexität, die an die eines großen Romanwerkes heranreicht.