Wieder salonfähig

Das lang erwartete Handbuch zum Stefan-George-Kreis ist endlich verfügbar

Von Barbara StieweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Stiewe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan George ist wieder „in“. Ein Blick in die Feuilletons der großen Zeitungen zeigt, dass kaum eine Neuerscheinung oder sogar Tagung unbesprochen bleibt, die den Namen George im Titel führt. Der einst verfemte Dichter, der durch sein ambivalent zu deutendes Verhalten gegenüber nationaler Bewegung und aufkommendem „Dritten Reich“ in Misskredit geraten und so zu einer persona non grata des Literaturbetriebs der (frühen) Bundesrepublik geworden war, scheint wieder salonfähig.

Ein Markstein dieser ungeahnten Renaissance war die viel beachtete Biografie, die Thomas Karlauf 2007 vorgelegt hat. Gegenüber der Mehrzahl seiner hagiografisch angehauchten Vorgänger bemühte sich Karlauf um ein handfestes, an der Realität orientiertes Bild und weckte damit ein zunehmend populäres Interesse an dem charismatischen Lyriker, dem es gelang, mit einem neuen poetischen Ton einen kaum zu überblickenden Kreis jugendbewegter Männer in seinen Bann zu ziehen.

Innerhalb der Literaturwissenschaft setzte eine breite interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Georges Werk und Wirken bereits in den 1990er-Jahren ein, als Probleme der nationalen Sinnstiftung wieder auf die Tagesordnung kamen. Genannt seien hier die Monografien von Stefan Breuer, Carola Groppe, Wolfgang Braungart und Rainer Kolk, die sämtlich in den Jahren 1995 bis 1998 erschienen sind.

Abgerissen ist die Beschäftigung mit Stefan George und seinem Kreis allerdings nie – nach dessen Tod im Dezember 1933 bemühte sich die Anhängerschaft, den „Geist“ Georges am Leben zu halten. Diesem „Nachleben“ hat Ulrich Raulff 2009 eine große und ebenfalls viel rezipierte Untersuchung gewidmet. Weitere Fundamente fand bzw. findet das George-Gedenken im Kreis um die 1951 in Amsterdam gegründete Zeitschrift „Castrum Peregrini“ (2007 eingestellt), in der vergleichsweise mitgliederstarken George-Gesellschaft in Bingen und dem George-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, das die Nachlässe vieler Georgeaner verwahrt und wissenschaftlich erschließt. Beide Institutionen sind an der Herausgabe des Handbuchs beteiligt in Person der Leiterin des George-Archivs, Ute Oelmann, und des Vorsitzenden der George-Gesellschaft, des Bielefelder Literaturwissenschaftlers Wolfgang Braungart. Hinzu kommen der Freiburger Germanist Achim Aurnhammer und der Hamburger Soziologe Stefan Breuer, beides ebenfalls ausgewiesene Spezialisten auf diesem Gebiet. Für die interdisziplinäre Anlage bürgen darüber hinaus die rund 100 Beiträger aus verschiedenen Fachrichtungen.

Das dreibändige, fast 2.000 Druckseiten umfassende Kompendium gliedert sich in vier Teile: I. Stefan George und sein Kreis, II. Systematische Aspekte, III. Rezeption und Wirkung des George-Kreises und IV. Personen. Der erste Teil widmet sich Leben und Werk Georges, des von ihm ausgehenden Schülerkreises mit weiteren Unterkreisen sowie Strategien, die eigenen Texte auf dem literarischen Markt zu positionieren. Dabei liegt mit einem Umfang von 270 Seiten der Schwerpunkt auf der sorgfältigen Besprechung der einzelnen Bände der „Sämtlichen Werke“, die 1928 ff. in siebzehn Teilen erschienen, und der Zeitschrift „Blätter für die Kunst“. Diese Ausführungen beheben ein Desiderat, da abgesehen von Ernst Morwitz’ „Kommentar zu dem Werk Stefan Georges“ von 1960, der aber heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt, und Claude Davids Studie „Stefan George. Son oeuvre poetique“ von 1952 (deutsch 1967) kein solches Hilfsmittel vorliegt. Zudem werden erstmals die Übersetzungen einbezogen. Die werkbezogenen Analysen liefern prägnante Informationen zur Entstehung und Überlieferung des jeweiligen (Doppel-)Bandes, zu seinem Aufbau und formalen Besonderheiten sowie zur Rezeption und Deutung. Zugleich werden Forschungsperspektiven aufgezeigt. Nur selten sind kurze Interpretationen von Einzeltexten integriert.

Im zweiten Teil werden unter der Überschrift „Systematische Aspekte“ einzelne Forschungsfragen vertieft. Dies geschieht in acht diskursgeschichtlich orientierten Beiträgen, die so unterschiedliche Felder wie Georges Poetik und Poetologie, das Wissenschaftsverständnis von Dichter und Schülerkreis, ihr „Traditionsverhalten“ (gegenüber europäischen Literaturen sowie Antike- und Mittelalterbildern), „Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaft“ und „Zeitkritik und Politik“ abdecken. Sie spiegeln die Herausforderungen der heutigen Forschung wider, sich einer derartig schillernden Persönlichkeit wie George mit einem ebenso exzentrischen Werk und Wirken hinreichend komplex zu nähern.

Stringenter gegliedert ist wieder der dritte Teil, in dem es um die Rezeption und das Fortwirken des George-Kreises in den Medien Literatur, Kunst und Musik, Literaturkritik und Literaturwissenschaft sowie benachbarten Fachwissenschaften geht. Berücksichtigung finden daneben Aspekte der Aneignung von George und seinem Kreis im rechtsgerichteten politischen Milieu und das „institutionelle“ Fortwirken im Zirkel um die Zeitschrift „Castrum perigrini“, in der Stefan-George-Gesellschaft, der Stefan George Stiftung und im Stefan George Archiv und in Ausstellungen.

Der vierte und letzte Teil präsentiert 168 bio-bibliografische Artikel zu Personen, „die zum engeren und weiteren Kreis um St[efan] G[eorge] gehörten bzw. für dessen Lebensweg eine Rolle spielten“. Ausschlaggebend für die zweifellos nicht immer leichte Entscheidung, wer zu diesem erlauchten Zirkel zu rechnen ist, war eine beiderseitige Beziehung – eine bloße Verehrung des Meisters ohne dessen Resonanz genügt also den Kriterien nicht.

Die mehr oder weniger umfangreichen Einzelbeiträge geben Aufschluss über Lebensweg und Wirken der Person, die Verbindung zu Stefan George und Literatur von ihr und über sie. Dazu wurde auch auf schwer zugängliche Literatur und unveröffentlichte Archivalien (wie Briefe, private Aufzeichnungen und Personalakten) zurückgegriffen. Dieser Teil schließt eine weitere Forschungslücke, da nun ein leichter Zugriff auf ein schwer überschaubares Personengeflecht möglich ist.

Das Handbuch überzeugt durch sein hohes wissenschaftliches Niveau. Indem es die bisherige Forschung zu George kritisch sichtet, bündig und kompakt zusammenfasst und mit neuen Akzenten versieht, stellt es ein hervorragendes Referenzwerk für die zukünftige Beschäftigung mit einer faszinierenden Persönlichkeit und mit ihrem spätestens jetzt kanonisierten Werk dar. Das Verfasserverzeichnis liest sich wie ein ‚who is who‘ der zeitgenössischen George-Forschung. Auch ist die Forschungsliteratur überwiegend bis ins Erscheinungsjahr 2012 eingearbeitet worden.

Dem ‚erlesenen‘ Gegenstand entsprechend, ist die Ausstattung der Bände gediegen. So finden sich 14 Farbabbildungen im Anschluss an den ersten Teil, und jeden Personenartikel bereichern Porträts. Zudem ist die gute redaktionelle Arbeit von Birgit Wägenbaur hervorzuheben. Allerdings fordert die Ausstattung auch ihren hohen Preis, der eher für Bibliotheken als für Einzelpersonen erschwinglich sein dürfte. Als Studienliteratur oder Nachschlagewerk für Lehrer oder interessierte Laien kommt dieses Werk daher weniger in Frage, was schade ist angesichts des gegenwärtig zu konstatierenden breiten Interesses an George und (hoffentlich nicht zuletzt) seinen Texten.

Titelbild

Wolfgang Braungart / Achim Aurnhammer / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch.
3 Bände.
De Gruyter, Berlin 2012.
1888 Seiten, 399,00 EUR.
ISBN-13: 9783110184617

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