Die undurchdringliche Wand der Konvention
Marlen Haushofers Not, keinen Raum für sich und ihr Schreiben zu finden
Von Simone Frieling
Vorbemerkung der Redaktion: Seit Oktober 2012 ist in den Kinos die Verfilmung von Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ zu sehen. Der 1963 erschienene Roman wurde in den 1980er Jahren zu einem Kultbuch des Feminismus. Der Film des österreichischen Regisseurs Julian Pölsler (Rezension folgt) ist für uns ein willkommener Anlass zur Veröffentlichung des folgenden Portraits. Es ergänzt eine Reihe von biographischen Essays über Schriftstellerinnen, die Simone Frieling 2010 unter dem Titel „Im Zimmer meines Lebens“ veröffentlicht hat.
Sie hat keine vier oder sechs Kinder großziehen müssen, wie das für andere Frauen ihrer Generation durchaus üblich war. Sie hat keinen Säufer zum Ehemann genommen, der sie geschlagen oder das Geld durchgebracht hätte. Sie war nicht gezwungen, in einer Fabrik zu arbeiten, weil die Familie sonst verhungert wäre. Der Zweite Weltkrieg, den sie als junges Mädchen noch im Elternhaus und später im Studium als verheiratete Frau erlebte, hat sie weder traumatisiert noch Härten über sie gebracht. Ihre Eltern, die Eheleute Frauendorfer, fanden ihr Auskommen durch Forst- und Landwirtschaft, ihr Ehemann Manfred Haushofer konnte ‚im Sold der Wehrmacht‘ als Unteroffizier der Luftwaffe ein Medizinstudium absolvieren.
Obwohl ihre Eltern ‚Anschluß-Gegner‘ waren und von Adolf Hitler wenig hielten, verpflichtete sich Marlen gleich nach der Matura 1939 zum Reichsarbeitsdienst. Leicht hätte sie sich von ihm befreien lassen können, mit dem Argument, im landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern mithelfen zu müssen. Von den Nonnen des Ursulinen-Internats in Linz völlig unpolitisch erzogen, hat das junge Mädchen den Arbeitseinsatz in Ostpreußen vielleicht als eine Art Abenteuerreise angesehen. Letztlich standen Marlen und Manfred Haushofer dem Terrorregime Hitlers unkritisch gegenüber, haben unter ihm ihren Vorteil gesucht und in den Jahren des Krieges, die für Millionen Menschen die Katastrophe bedeuteten, ohne Not gelebt. Später hat Marlen die Kriegs- und Nachkriegsjahre in ihrem Roman Die Mansarde verklärt:
„Damals hatte ich fast kein Geld mehr, kaum etwas anzuziehen, keine eigene Wohnung, aber einen Mann und einen Sohn. Weder das Einrichten einer Wohnung noch ihre Pflege hatten mich von den beiden abgelenkt, auch nicht Kleider, Vorhänge und Bettwäsche, keine Großeinkäufe und schon gar nicht das Kochen, denn es gab sehr wenig zu kochen. Die meisten unserer Freunde besaßen auch nicht mehr, manche noch weniger. Und wir waren alle ziemlich gesund und voller Hoffnung, und es gab eine Menge kleiner Kinder rundum.“
Die Zahnarztgattin Marlen Haushofer, die die längste Zeit ihres Lebens in der oberösterreichischen Kleinstadt Steyr verbrachte, hat in gesicherten bürgerlichen Verhältnissen gelebt, zwei Söhne großgezogen, einen überschaubaren Haushalt geführt und einen wohlwollenden Mann versorgt, mehr nicht. Sie hat weder unter Hunger, Verfolgung oder Armut gelitten wie etwa ihre deutschen Kolleginnen Elisabeth Langgässer und Else Lasker-Schüler. Und doch hat sie gelitten, fast ihr Leben lang.
„Eigentlich kann ich nur leben, wenn ich schreibe und da ich derzeit nicht schreibe, fühle ich mich versumpft und ekelhaft“, lautet eine Tagebuchnotiz von 1967/68. Wie ein roter Faden zieht sich diese Klage durch Marlen Haushofers Werk. Ob in Tagebüchern, Briefen oder ihren belletristischen Schriften, überall spüren wir Haushofers Not, keinen Raum für sich zu finden.
In jeder Beziehung, an jedem Ort scheint es Hindernisse zu geben, die für diese Frau unüberwindbar sind. So kommt sie nie dazu, ihr Bestes zu geben: weder als Mutter noch als Ehefrau, schon gar nicht als Praxisgehilfin ihres Mannes. Es bleibt das Schreiben, das sie glücklich macht. „Wenn ich vorher gewußt hätte, daß Schreiben mein Lebensinhalt ist“, sagt sie einmal zu der Kollegin Jeannie Ebner, „hätte ich vielleicht keine Kinder bekommen. Kinder sind kein Lebensinhalt. Sie beginnen von ganz klein an, von dir wegzuwachsen, und das ist notwendig, denn sie sollen ihr eigenes Leben haben. Schreiben – das ist eine Lebenserfüllung.“
Dieser Gedanke ist seltsam, geht er doch von einer Lebensplanung aus, die es bei ihr nicht gegeben hat. Zwanzigjährig wird sie schwanger von Gert Mörth, ihrer ersten großen Liebe als Studentin, und trägt, ohne das Wissen ihrer Familie und Freunde, das Kind aus. 1941 wird Christian Georg Heinrich Frauendorfer geboren und von der Mutter einer Freundin aufgezogen. Erst sechs Jahre später nehmen Marlen und ihr Ehemann Manfred den Knaben zu sich. Das uneheliche Kind bekommt zwar den Familiennamen Haushofer, um in der Kleinstadt ohne Aufsehen eingeschult werden zu können, nicht aber die gleichen Erbrechte wie der 1943 in der Ehe geborene Sohn Manfred.
Das Familiengebäude der Haushofers ist kompliziert und von Anfang an mit Ungleichheit behaftet, ebenso das Verhältnis der Ehepartner zueinander. Als der junge Zahnarzt in Steyr anfängt, sich zu etablieren, hat er bald Affären, später lang anhaltende und ernsthafte Liebesbeziehungen, mit Wissen und Zustimmung von Marlen. Für die fast versteckt gehaltene literarische Arbeit seiner Frau – sie wird morgens vor allen anderen Arbeiten am Küchentisch erledigt – hat er wenig Verständnis. Sogar die Söhne sollen auf die eigenständige Arbeit der Mutter und ihre Kontakte zur Wiener Literaturszene eifersüchtig gewesen sein. Für lange Zeit einigen sich die drei Männer, die sonst niemals einig sind, dass Marlen einem verrückten ‚Hobby‘ nachgehe, das sie zu stark erschöpfe und von den eigentlichen Pflichten als Frau und Mutter abziehe. Umgekehrt ist es selbstverständlich, dass Marlen ihrem Mann in der Praxis assistiert und die Büroarbeit übernimmt.
Was veranlasst eine Frau, die weiß, worin ihre Erfüllung liegt, ständig von ihr abzusehen, zugunsten eines Familienmodells, das nur nach außen hin passabel aussieht? Warum lässt Haushofer ihre Kreativität verkümmern? Warum weicht sie immer wieder vor dem Besten in ihrem Leben zurück und plagt sich lieber ab mit Kleinkram?
Sie vertraut mehr den Konventionen als ihren eigenen Fähigkeiten, mehr einer sinnentleerten Abfolge von Alltagspflichten als der Authentizität ihrer literarischen Interessen, die im besten Fall alle Konventionen sprengen würden. Lieber jammert sie und gibt ‚klein bei‘. Engen Freunden ist die Haltung unverständlich: „kann man eh nichts machen“, äußert sie immer wieder. Als das Ehepaar 1950 geschieden wird, sind Marlens Freunde erleichtert: „sie war von ihrem Mann geschieden, mit Recht geschieden, wir waren alle glücklich darüber, und dann hat sich herausgestellt, daß sie weiterhin im selben Haus mit ihm gelebt und weiterhin seine ganze Patientenkartei und alle übrigen Arbeiten einer Hilfskraft für ihn gemacht hat. Sie hat dazu gesagt: „Na ja, wer soll denn das sonst machen, das braucht er halt“.
Rudolf, der jüngere Bruder Marlens, bietet seiner Schwester nach der Scheidung Hilfe an; er hofft für sie und die beiden Söhne auf einen Neubeginn in Wien. Er vertraut auf Marlens Talent und ihre Kontakte zum Wiener Kulturbetrieb. Sie stimmt den Zukunftsplänen zu, gibt ihnen aber keinen Raum. Es bleibt bei dem bloßen Wunsch, das eigne Leben in die Hand zu nehmen.
Nicht nur vor den engsten Freunden, sogar vor den Söhnen, dem vom Stiefvater ungeliebten älteren und dem ehelichen jüngeren, der eine ist fast neun, der andere gerade sieben Jahre alt, wird die Scheidung geheim gehalten. Das Familienleben soll durch die Scheidung nicht gestört, die Konvention aufrecht erhalten werden. Bei dieser Haltung ist es nur folgerichtig, dass Marlen und Manfred nach acht Jahren des Zusammenlebens als Geschiedene wiederum heiraten, trotz fortschreitender Entfremdung. „Du kannst in Steyr nicht geschieden sein“, rechtfertigt sie diesen Schritt vor einer Freundin, die verblüfft ist, weil niemand in Steyr von der Scheidung weiß. Spätestens hier sollten alle Stimmen der Frauenbewegung verstummen, die Marlen Haushofer – wohl aus einer Not heraus – zu einer Ikone des Feminismus ausgerufen haben und es bis heute tun.
Einmal, im Sommer 1953, unternimmt die Autorin den Versuch, sich räumlich von der Familie zu trennen. Sie geht nach Wien und mietet ein Zimmer im Hotel Mozart. Aber eine ‚Ent-Scheidung‘ im eigentlichen Sinne trifft sie nicht, es ist alles nur probeweise. Zwar berichtet sie Hans Weigel stolz, sie habe 170 Seiten an ihrem Roman geschrieben, und ihr wird endlich bewusst, dass das eigene Zimmer ihre Produktivität fördert. Doch bald, um ihren geschiedenen Mann nicht finanziell zu belasten, kehrt sie nach Steyr zurück in noch demütigendere Verhältnisse.
Marlen Haushofer hat nicht nur ihrer Begabung zu wenig Raum gegeben, sie hat für sich selbst keinen gefordert. Das Arbeitszimmer einer Schriftstellerin ist sichtbarer Teil ihres Berufs, ist Aushängeschild ihrer Professionalität. Darauf ohne Not verzichten, heißt auf Anerkennung zu verzichten. Ohne Arbeitszimmer lässt sich das Schreiben schnell als Hobby abtun, Respekt wird einer nebenbei am Küchentisch verrichteten Arbeit selten entgegengebracht.
Als die Autorin 1968 den Österreichischen Staatspreis für Literatur erhält, fragt ihr Mentor, der Literaturkritiker Hans Weigel, ob sie sich denn freue? Ihre Antwort lautet: „No ja, jetzt lassen’s mich zuhaus eher arbeiten“. Im selben Jahr nach ihren Schreibgewohnheiten befragt, gibt die Autorin im Österreichischen Rundfunk der Kulturjournalistin Elisabeth Pablé Auskunft: „Lange Zeit hab‘ ich am frühen Morgen geschrieben. Da aber mein Alltag als Hausfrau um halb sieben beginnt und ich nicht jünger werde, können Sie sich vorstellen, daß mein früher Morgen einfach zu früh wurde und ich den ganzen Tag aus dem Gähnen nicht herauskam. Seit ungefähr acht Jahren schreibe ich jetzt von drei bis sechs nachmittags. Das ist zwar nicht die ideale Zeit und auch das ist nur möglich geworden, weil meine Kinder erwachsen sind und ich in diesen drei Stunden allein bin. Der Abend gehört der Familie. Da auch die Wochenenden wegfallen und häufig nachmittags etwas Unaufschiebbares dazwischen kommt, bleiben mir zum Schreiben durchschnittlich drei Nachmittage.“
Eine traurigere Selbstauskunft einer Künstlerin kann man sich fast nicht denken. Neun Stunden in der Woche erlaubt sich Haushofer, der Familie nicht zu Diensten zu sein, um ihren eigenen Schatz zu heben. Wäre nicht ihr Werk, hätte sie nicht 1963 einen so besonderen Roman wie Die Wand vollendet, man hätte kaum Lust, auf dieses armselige Leben einen zweiten Blick zu werfen.
Im Sommer 1960 schreibt Haushofer an Hans Weigel: „Der Roman ist im Kopf fertig. Bitte halt mir die Daumen, daß diesmal nichts dazwischenkommt. Er ist sehr schwer zu schreiben, weil nur eine Person vorkommt und keine einzige Zeile Dialog. Wenn er mir nicht gelingt, werde ich endlich wieder wie ein normaler Mensch leben…“ Auch hier wieder die Angst vor Hindernissen, die sich vor die eigentliche Arbeit schieben könnten und die Wiederholung des Familienklischees, dass ein „normaler Mensch“ eben nicht schreibt.
Nach dem Umzug in ein Zweifamilienhaus am Stadtrand von Steyr macht sich Haushofer im November ans Werk. Auch in der neuen Wohnung hat sie kein eigenes Zimmer, sie schreibt manchmal im Wohnzimmer, am liebsten aber arbeitet sie am Küchentisch in der großen Wohnküche. Als eine Freundin sie verwundert fragt, wie sie denn da schreiben könne, antwortet sie: „Red do net so halbert, da setz ich mich in die Küche und schau aufs Gewürzkasterl“.
Sie schreibt in ein liniertes Schreibheft „mit der Hand, weil mich das Geklapper der Maschine stört“, sie benutzt Tinte und Feder. Von Die Wand gibt es mehrere Fassungen. Als der Aufbau des Romans steht, stellt Haushofer erleichtert fest: „Bis ich mich dann eines Tages für die Ichform entschied, war es eigentlich nicht mehr schwer. Mit diesem Buch habe ich am wenigsten Mühe gehabt. Ich mußte mich nur in die Lage jener Frau im Wald versetzen, und wenn ich ein Bild vor mir habe, geht es weiter wie von selbst“.
Das Mühelose und das „wie von selbst“ Fortschreitende des Romans überträgt sich unmittelbar auf den Leser. Viele berichten, dass sie den fast 300 Seiten starken Roman an einem Tag, in einer Nacht gelesen hätten, weil sie sich dem Sog der Geschichte nicht entziehen konnten.
Haushofer ist es gelungen, eine Robinsonade zu erfinden, in der sie selbst als namenlose Frau die Heldin ist. Durch eine gläserne Wand von der übrigen Welt getrennt, ähnlich wie ihr Vorbild Robinson Crusoe durch Wasser von der Zivilisation abgeschnitten ist, kann sie sich auf das Wesentliche konzentrieren: auf das Überleben in der Natur.
Solche Stoffe haben Menschen von alters her interessiert. Seit Urzeiten löst diese Ursituation besondere Phantasien aus. Schon in der Bibel gibt es eine Robinsonade: die Geschichte Noahs. Halb ist es eine Strafe, halb eine Befreiung, der Zivilisation enthoben zu werden. Der Neuanfang in einer unbekannten Welt verwirft alles Alte, alles Schlechte, er bringt die reine Existenz zum Vorschein. So ist die gläserne Trennwand in Haushofers Roman eher Schutzwall als Bedrohung.
Der Wall hält alles Üble von der Protagonistin fern. Wie nach dem Aschenregen in Pompeji – dieses Ereignis hat Haushofer sehr fasziniert – sind die Menschen jenseits der Wand in ihren letzten häuslichen Verrichtungen versteinert. An diesem Bild hat die Autorin Freude: Endlich geht von dem Rest der Menschheit keine Gefahr mehr aus. Das Goldene Zeitalter ist angebrochen! Für die einzig Überlebende, die namenlose Frau, gibt es in dem heidnischen Paradies nur noch Brüderlichkeit, Gleichheit, Kreatürlichkeit und Blumen, Bäume und Tiere.
Niemand in dieser Welt kommt ihr zu nahe, sie selbst bestimmt das Verhältnis zu den Dingen, den Pflanzen, den Tieren. Hier, an diesem idealen Ort gibt es keine Konventionen, denen sie sich „demütig unterwerfen“ müsste, wie die Autorin das im wirklichen Leben tut.
Zwar kommt in einer solchen Welt das ‚Du‘ abhanden, aber das hat Haushofer bedacht und gewünscht. Daraus die feministische Lesart herzuleiten, die Autorin habe in Die Wand den Zustand eines Urmatriarchats hergestellt, das den Mann für immer verbannt, ist verstiegen. Die namenlose Frau ist geschlechtslos, nur Mensch, und gerade dadurch frei. „Ich war sehr mager geworden… Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein. Mein Körper, gescheiter als ich, hatte sich angepaßt und die Beschwerden meiner Weiblichkeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Ich konnte ruhig vergessen, daß ich eine Frau war. Manchmal war ich ein Kind, das Erdbeeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägte, oder, wenn ich Perle [die Katze] auf den mageren Knien haltend auf der Bank saß und der sinkenden Sonne nachsah, ein sehr altes, geschlechtsloses Wesen“.
Fast gehört die namenlose Frau nicht mehr der Gattung Mensch an: „Ich bin nicht häßlich, aber auch nicht reizvoll, einem Baum ähnlicher als einem Menschen, einem zähen braunen Stämmchen, das seine ganze Kraft braucht, um zu überleben“. Wenn der Mensch nicht mehr ist, feiert die Natur ihren Triumph: „Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat.“
Haushofer stellt sich der Erkenntnis, wie viele Menschen mit einer schweren Krankheit das tun, einmal nicht mehr zu sein. Um so mehr feiert sie die Natur als Siegerin über den Menschen. Die Wand ist ein einziger Lobgesang auf die Natur. Von diesem Gesang lebt der Roman. Mit ihm kehrt die Autorin in ihre Kindheit zurück, in die Zeit, als sie noch ‚heil‘ war.
„Was im Kind an Gutem steckt, wird umgebracht“, hat sie einmal gesagt. Um das Kind vor diesem Verbrechen zu schützen, muss es an einen sicheren Ort gebracht werden, an einen menschenleeren Ort. An ihm gibt es keine Gardinen, die gewaschen werden müssen, keinen Mann, der eine warme Mahlzeit verlangt, kein Kind, das schreit, keine Liebe und keine Eifersucht, mit der sie sich herumplagen muss. Die namenlose Frau wird zum reinen Kind, ohne Schuld und Verstrickung. Sie lebt wie ein weiblicher Franziskus, der sich nur noch um die Tiere und Pflanzen kümmert, mit ihnen spricht und ihnen dient. Die Tiere ziehen sogar in ihre Träume, in ihr Unbewusstes ein: „Sie reden zu mir wie Menschen, und es erscheint mir im Traum ganz natürlich. Die Menschen, die im ersten Winter meinen Schlaf bevölkerten, sind ganz fort gegangen. Ich sehe sie nie mehr. In meinen Träumen waren die Menschen nie freundlich zu mir, bestenfalls waren sie teilnahmslos. Die Traumtiere sind immer freundlich und voller Leben. Aber ich glaube, das ist nicht so besonders merkwürdig, es zeigt nur, was ich immer von Menschen und Tieren erwartete“.
In Marlens Leben waren die ersten zehn Jahre der Kindheit, die sie in Frauenstein mit ihrer Familie im Forsthaus verbrachte, bevor sie nach Linz ins Internat kam, so prägend und glücklich, dass der Roman Die Wand von dem Glück dieses ‚verlorenen‘ Paradieses lebt. Der utopische Ort verbindet sich mit dem autobiografischen zu einem idealen Stoff. Nirgendwo gibt es in Marlen Haushofers Werk eine solche Nähe zur eigenen Biografie.
„…solch einen Text schreibt man nur einmal, und man schreibt ihn nicht einfach nieder, seinen Inhalt muß man antizipiert haben im eigenen Dasein“, konstatiert Klaus Antes in seinem Nachwort für Die Wand. 1968 hatte Haushofer selbst gesagt: „ich glaube nicht, daß mir ein solcher Wurf noch einmal gelingen wird, weil man einen derartigen Stoff wahrscheinlich nur einmal im Leben findet“.
Wie genau es Haushofer mit den Naturbeschreibungen genommen hat, geht aus einem Brief an die Eheleute Feldmayer hervor: „Ich schreibe an meinem Roman u. alles ist sehr mühsam, weil ich nie viel Zeit hab u. vor allem, weil ich mich ja nicht blamieren darf u. ich immer nachfragen muß ob das, was ich über Tiere u. Pflanzen schreibe, auch stimmt“.
Marlen wendet sich an ihren Bruder, der ein Studium der Forstwissenschaft abgeschlossen hat, um ihn zu befragen nach den Vegetationszyklen bestimmter Pflanzen und den Tragezeiten verschiedener Tiere. Die Örtlichkeiten in Frauenstein hat sie noch so genau vor Augen, dass sie im Roman bis ins Detail realistisch beschrieben sind. Manuela Reichart, die sich 16 Jahre nach dem Tod Haushofers auf Spurensuche begibt, fährt mit Dr. Haushofer nach Frauenstein. Erstaunt stellt sie fest: „es ist wie bei einem Déjà-vu-Erlebnis, die Orte sind mir fremd, ich war noch nie hier, und doch kenne ich alles: das Forsthaus, die Wege, die Wiese, den Bach“. Hier also spielt der Roman Die Wand.
Auch nach dem Umgang mit dem Gewehr befragt Haushofer ihren Bruder. Denn am Ende des Romans muss sich die namenlose Frau mit der Waffe einen unliebsamen Menschen vom Halse schaffen, der dabei ist, ihr Paradies zu zerstören: Natürlich ist dieser Mensch ein Mann.
Der Roman Die Wand erscheint 1963. Hans Weigel, der sich gegenüber Marlen Haushofer verpflichtet hatte, alle ihre größeren Arbeiten mit Absätzen und Interpunktion zu versehen, erhält das Rohmanuskript und bearbeitet es in der üblichen Weise. Eine seltsame Arbeitsteilung, vor allem eine, die wiederum Abhängigkeit von einem Mann schafft. Weigels Behauptung, er habe dem Roman sogar noch den Titel geben müssen, entlarvt Daniela Strigl, die Biografin Marlen Haushofers, als Legende. Denn schon das zweite der insgesamt fünf Schreibhefte ist mit diesem Titel beschriftet.
Weigel erkennt sofort, dass es sich bei dem Manuskript um ein besonderes Werk handelt, für ihn ist es ein „großes Lese-Erlebnis“. Heute sind sich fast alle Kritiker einig, dass Marlen Haushofer mit Die Wand ihr ‚opus magnum‘ geschaffen hat.
Von Kollegen wird sie geschätzt, von ihrem Mentor, Hans Weigel, bis zum Tod unterstützt, sie wird mehrfach geehrt mit kleinen und großen Preisen – 1963 erhält sie den Arthur-Schnitzler-Preis für den Roman Die Wand, 1968 den Großen Staatspreis für Literatur für Schreckliche Treue – aber trotz aller Erfolge hat Haushofer immer einen Mangel empfunden, an der Welt, an den Verhältnissen, ihrem Werk und an sich selbst. Ihr Freund und Nachlaßverwalter, Oskar Jan Tauschinski, spricht von ihr als einer großen Pessimistin. Sie habe so gelebt, weil sie so war, niemand habe ihr die Hoffnungslosigkeit aufgezwungen. Sie sei keine Sklavin gewesen, die man verkauft habe, sie hätte keinen fremden Willen erfüllen müssen.
Ein Mensch, der für sich nicht kämpft, seiner besonderen Begabung zu wenig Raum lässt, korrumpiert sich am Ende selbst. Die Folge davon ist eine schleichende Resignation, die bei Haushofer ihren Höhepunkt findet in dem Text Mach Dir keine Sorgen, den sie 1970, einen Monat vor ihrem Tod, notiert.
„Mach Dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zu wenig gesehen, wie alle Menschen vor Dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zu wenig, wie alle Menschen vor Dir. Vielleicht hast Du zuviel geliebt und gehaßt – aber nur wenige Jahre – zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre? Dann war ein Teil von Dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können.
Du hast viele Schmerzen ertragen, ungern – wie alle Menschen vor Dir. Dein Körper war Dir sehr bald lästig, Du hast ihn nie geliebt. Das war schlecht für Dich – oder auch gut, denn an einem ungeliebten Körper hängt die Seele nicht sehr. Und was ist die Seele? Wahrscheinlich hast Du nie eine gehabt, nur Verstand, und der war nicht bedenkend der Gefühle. Oder war da manchmal noch etwas anderes? Für Augenblicke? Beim Anblick von Glockenblumen oder Katzenaugen und des Kummers um einen Menschen, oder gewisse Steine, Bäume und Statuen; der Schwalben über der großen Stadt Rom.
Mach Dir keine Sorgen.
Auch wenn Du mit einer Seele behaftet wärest, sie wünscht sich nichts als tiefen, traumlosen Schlaf. Der ungeliebte Körper wird nicht mehr schmerzen. Blut, Fleisch, Knochen und Haut, alles wird ein Häufchen Asche sein und auch das Gehirn wird endlich aufhören zu denken. Dafür sei Gott bedankt, den es nicht gibt.
Mach Dir keine Sorgen – alles wird vergebens gewesen sein – wie bei allen Menschen vor Dir.
Eine völlig normale Geschichte.“
Marlen Haushofer erwartete nichts mehr vom Leben, sagte Tauschinski in einem Gespräch mit Manuela Reichart, und ihre letzten Zeilen hätten nicht nur für die letzten Tage gegolten, sondern für die letzten Jahrzehnte.
Der einzige Satz, der aus der Litanei der Sinnlosigkeit herausfällt, wird oft zitiert, ist sogar Buchtitel geworden. „Oder war da manchmal noch etwas anderes?“
Ja, möchte man der Schriftstellerin zurufen, da war noch etwas anderes, und man möchte es laut tun, damit dieser unscheinbare Satz wenigstens ein bisschen Glanz erhält.
Hinweis der Redaktion: Das Portrait ist entstanden im Zusammenhang mit Simone Frielings Buch „Im Zimmer meines Lebens. Biografische Essays über Sylvia Plath, Gertrude Stein, Virginia Woolf, Marina Zwetajewa u.a.“ (edition ebersbach: Berlin 2010).