Schimmel, Kot und Kakerlake

Toshiki Okada durchpflügt den Seelenmüll des prekären Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Toshiki Okada (geboren 1973) ist in erster Linie als Gründer der von Yokohama aus agierenden Theatergruppe Chelfitsch bekannt. Im September 2005 wurde der Regisseur mit dem Kulturförderpreis seiner Stadt ausgezeichnet und erhielt auch den renommierten Kishida Kunio-Theaterpreis für „Fünf Tage im März“. Der Band „Die Zeit, die uns bleibt“ beinhaltet zwei Erzählungen Okadas, „Fünf Tage im März“, die Prosaversion des erfolgreichen Stücks, und „Der Plural meiner Orte“; beide Texte sind in japanischer Originalausgabe unter dem Titel Watashi-tachi ni yurusareta tokubetsu no jikan no owari („Das Ende der uns zugestandenen Sonderzeit“) im Jahr 2007 erschienen.

Von Roppongi Hills zum Wandschrank

Okadas Texte sind sowohl im Detail als auch in der Gesamtkonstruktion raffiniert gestaltet. „Fünf Tage im März“ beginnt mit einer Szene im mondänen Stadtviertel Nishiazabu: Sechs junge Männer sind auf dem Weg zum Club „SuperDeluxe“ und passieren dabei den damals – im März 2003 – kurz vor der Vollendung stehenden Roppongi-Hills-Komplex, ein Prestige-Bauprojekt der Metropole Tôkyô. Die letzte Szene beschreibt im Gegensatz zur Luxussuggestion des Anfangs einen Müllschauplatz.

Konsequent wird dann in der zweiten Geschichte ein Weg „nach unten“ fortgesetzt. Die Themen Abstieg und Reduktion finden sich auf verschiedenen Ebenen repräsentiert: Nicht mehr eine Gruppe Menschen unternimmt etwas zusammen, vorgestellt wird nur eine einzelne Protagonistin, die offenbar an einer der neoliberalen Arbeitswelt (der Körper muss an vielen Orten verfügbar sein) geschuldeten Dissoziation oder auch an einer krankhaften Multiplizierung ihres Ichs leidet – Kollektivität findet demnach nur mehr in der Fantasie oder im virtuellen Raum statt. Die dreißigjährige Frau lebt in einem billigen, schimmeligen Zimmer. Der Inhalt des Wandschranks verweist auf ihre jüngeren Jahre, in denen sie noch hoffnungsvoll sein konnte; dafür stehen die Werke aus der Zeit an der Kunsthochschule und das hellgraue Kostüm, mit dem sie sechs Monate bei einer Werbedesign-Firma gearbeitet hat. Just in diesem Wandschrank der archivierten Hoffnungen verschwindet am Ende eine „schockierend große Kakerlake“ − als Symbol der düsteren Welt, die nun hinter den Luxusfassaden zum Vorschein gekommen ist.

Ein Hund, nein, ein Obdachloser

Okada sichtet eine japanische Generation, die sich aus dem Moratorium, das die reichen Jahre der Wirtschaftswachstumsphase gewährt hatte, verabschieden muss. Texte, die von einer zunehmenden Prekarisierung Japans und von einer unwirtlichen neuen Arbeitswelt berichten, entstehen vielfach Ende der 1990er-Jahre. Verfasser dieser Prekariatsliteratur sind bekannte Schriftsteller wie Murakami Ryû oder Kirino Natsuo. Während sich deren literarisches Echo auf die „Verlorene Dekade“ an ein Publikum richtet, das die gängige, unterhaltende Romanform schätzt, sind Okadas oft grotesk-komische Erzählungen dichter gewebt.

Sein hervorstechendes Kennzeichen ist das Versteck- und Verwirrspiel: Rätselhafte Symbolketten, auf- und abtauchende Leitmotive, Ortswechsel, Änderung der erzählenden Persona, subtile perspektivische Veränderungen, die den Text wie einen Vexierspiegel erscheinen lassen. Die Brüche in der Wahrnehmung einer Alltagsrealität, der sich die ganz auf ihre Innenwelt fixierten, zu Bindungen kaum fähigen Protagonisten gern entziehen, erreichen dabei Kulminationspunkte. So erlebt die weibliche Hauptfigur, die aus dem Fünf-Tage-Moratorium ihrer Love-Hotel-Gemeinschaft mit einem jungen Mann heraustritt, eine Verwechslung von Topor’schen Ausmaßen: Der Kopf des vermeintlichen Hundes ist in Wirklichkeit das Hinterteil eines Obdachlosen, der gerade gnadenlos auf einer Straße in Shibuya den Darm entleert.

Noch verwirrender gestaltet sich die Welt der Protagonistin von „Der Plural meiner Orte“. Ihr träger Körper scheint mit den Laken eines Lagers verwachsen, während sie von Ortswechseln erzählt, die ihr Mann aufgrund seiner zahlreichen Jobs vollführen muss – sie schlüpft förmlich in seine Hülle und man fragt sich: Gibt es diesen Mann überhaupt? Ist er vielleicht einem Unfall zum Opfer gefallen? Oder hat ihn die Frau in einem heftigen Wutanfall ermordet, weil die zermürbende Situation zwischen der lähmenden Lethargie in der Wohnung und der hektischen Leiharbeit zwischenmenschliche Spannungen hat eskalieren lassen?

Prekäres japanisches Ich, mangelndes politisches Bewusstsein

Okada zeichnet wie die meisten Autoren von Prekariatsliteratur seinen Protagonisten, den Freeter, das heißt den Leiharbeiter ohne feste, sichere Arbeitsstelle, als eine seelisch prekäre Existenz. Für seinen instabilen Zustand sollte, so deutet es der Autor an, nicht nur die Jobunsicherheit verantwortlich sein, sondern auch eine in der Wohlstandsphase ausgeprägte narzisstische Sensibilität, gepaart mit mangelnder Kommunikationsfähigkeit. Entweder widmet sich dieser Freeter-Protagonist, wenn er gerade keine Arbeit verrichten muss, dem Schreiben von Blogs, sitzt in einem Manga-Café, zieht sich – fast schon als Hikikomori – in private Räume zurück oder praktiziert eine enge Beziehung auf Zeit in einem Love-Hotel. Der Antrieb, sich dauerhaft auf etwas einzulassen, sich selbstbewusst mit einem Gegenüber auseinanderzusetzen, fehlt ihm offensichtlich, ebenso wie der Wille zur politischen Betätigung.

In „Fünf Tage im März“ kommt der Autor ab und an auf die seltsame japanische Abkapselung vom Weltgeschehen zu sprechen, die die jüngeren Bewohner des Inselreichs charakterisiert. Während einer interkulturellen Performance in Tôkyô, bei der sich auch die Gäste äußern sollen, herrscht Schweigen im Saal. „Hier war eben Japan“, heißt es. Und von einer Demonstration ist die Rede, anlässlich der Offensive der USA gegen den Irak; dieser Hinweis ordnet die Erzählung zeitgeschichtlich ein – der Text auf dem Buchrücken führt durch die Nennung von „Naturkatastrophen“ und „Reaktorunfällen“ leider in die Irre, wirbt also mit der Dramatik aktueller Geschehnisse, die der Band nicht beinhalten kann.

Demonstrationszüge in Japan seien viel kleiner als die im Ausland, wird weiter angemerkt. Es liegt für den Leser nahe, das Unvermögen zur öffentlichen Meinungskundgebung in direkte Beziehung zur sexuellen Hyperaktivität der Protagonisten zu setzen; am Ende macht der männliche Held mit seinem wundgescheuerten Penis und dem leeren Geldbeutel eine eher klägliche Figur, die Frau wird ihrerseits mit den Fäkalien des Obdachlosen konfrontiert.

Okadas literarische Pathologie des japanischen Ichs in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist weniger berechenbar als andere Beispiele zeitgenössischer Literatur des Landes; seine Psychogramme sind interessant, die sprachliche Konstruktion mit ihren Stilmitteln der Rhythmik und der Wiederholung ist ästhetisch reizvoll, die Sozial- und Kapitalismuskritik angemessen versinnbildlicht. Ihr Befund eines japanischen Systems in der Krise − drastisch mit Fäulnismetaphern untermalt − deckt sich allerdings weitgehend mit den üblichen Aussagen der Prekariatsliteratur. Die notorische japanische Abstinenz vom Protest wurde in der gesellschaftlichen Realität mittlerweile jedoch behoben.

Titelbild

Toshiki Okada: Die Zeit, die uns bleibt. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Japanischen von Heike Patzschke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
159 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783100540171

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