Erzählst du mir etwas?

„Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe“: Paulus Hochgatterers eindrucksvolle Poetikvorlesungen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Beispiel Katharina: Als das siebenjährige Mädchen seinen ermordeten Großvater im Schnee findet, raubt ihr der Anblick der grausam zugerichteten Leiche schlagartig die Sprache. Oder Hans: Der Junge ist vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Katharina und so schlecht in der Schule, dass die genervte Lehrerin anfängt, ihn vor den anderen lächerlich zu machen. Nachdem sie seine mit roten Korrekturen übersäten Schulhefte in den Schaukasten stellt, ist auch von Hans fortan kein Wort mehr zu hören.

Katharina ist fiktiv, sie ist eine Figur aus Paulus Hochgatterers Roman „Die Süße des Lebens“ (2006). Hans dagegen ist real, er war einst ein Mitschüler des Autors in der Volksschule; von ihm erzählt Hochgatterer in der zweiten seiner Zürcher Poetikvorlesungen. Es sind Kinder, die verstummt sind oder die sich nur noch durch Schreien zu helfen wissen, denen sich Hochgatterer, 1961 im niederösterreichischen Amstetten geboren, widmet – als renommierter Kinder- und Jugendpsychiater wie auch als Romanautor.

Er setzt in dieser Doppelrolle die ebenso traditions- wie spannungsreiche Allianz zwischen Medizin und Literatur fort, man denke nur an Namen wie Arthur Schnitzler, Anton Tschechow oder Gottfried Benn. Statt auf die Literaturgeschichte beruft sich Hochgatterer allerdings lieber auf seine Katze, die ihn gelehrt habe, dass man im Leben „bequem zwei sein kann“. Vor allem aber sei es eine „narrative Notwendigkeit“, der sein Werk folge: „Ein Kind verstummt, und es ist, genau genommen, nicht so, dass die Sprache und die Erzählung aus ihm entfernt werden, paranoid abgesaugt, herausgeprügelt oder herausgefickt; sie werden vielmehr in Schachteln gepackt, verschnürt, versiegelt und in einem der hinteren cerebralen Archivräume abgelegt. Dort sind sie dann nur mittels spezieller Expertenmethoden zugänglich, therapeutisch oder literarisch.“

Hochgatterers Zürcher Poetikvorlesungen aus dem Jahr 2010 sind jetzt zusammen mit einigen Gelegenheitsschriften erschienen, darunter eine Laudatio auf Per Olov Enquist sowie ein wunderbar unverkrampfter und humorvoller Vortrag über Sexualmetaphorik in der Kinderliteratur. Der Band ist ein Zeichen dafür, dass der Autor den Geheimtippstatus hinter sich gelassen hat – nach so beeindruckenden Werken wie zuletzt „Die Süße des Lebens“ oder „Das Matratzenhaus“ (2010), beides als Krimis getarnte Romane, die den Leser in ein Panoptikum gefährdeter und verstörter Seelen in einer fiktiven österreichischen Kleinstadt stürzen. Zwar schöpft Hochgatterers Poetik, wie etliche Wiederholungen und Überschneidungen in den gesammelten Texten zeigen, aus einem eher schmalen Fundus an gedanklichen Bausteinen wie der körperlichen Fundierung von Metaphern und biografischen Beispielen wie jenes vom Mitschüler Hans. Doch diese Elemente haben es in sich.

Es sind vor allem die „poetologische Grundfiguren“, eine Abfolge von Ur-Szenen entlang der normalen wie eben auch gestörten kindlichen Sprach- und Denkentwicklung, die beeindrucken: „Ein Kind erzählt“ oder „Ein Kind liest“ gehören ebenso darunter wie „Ein Kind verstummt“ oder „Ein Kind schreit“. Schreiende Kinder, so Hochgatterer, haben noch etwas zu verlieren, wehren sich – wie jenes namenlose siebenjährige Mädchen, von dem es im Dorf hieß, dass es Sand fresse, weshalb die Kinder, darunter auch der kleine Paulus, es eines Tages umzingelten und mit ihren Spielzeuggewehren bedrohten: Ihr darauf folgendes Schreien muss Hochgatterer heute noch in den Ohren gellen, so intensiv erzählt er diese Erinnerung. Wohl auch deshalb kommt der Autor immer wieder auf den Film „Krieg der Knöpfe“ zu sprechen, in dem Kinder ihre Konflikte auf liebenswert symbolisch-metaphorische Weise lösen statt mit Gewalt.

Für Hochgatterer hängt eine „gesunde“ Kindesentwicklung davon ab, ob das natürliche Bedürfnis zu erzählen geweckt und gefördert wird. Längst habe die Säuglingsforschung gezeigt, dass schon das Kleinkind durch Mimik und Gestik den Eltern die alles entscheidende Frage stellt: „Erzählst du mir etwas?“ Der gesellschaftliche Trend geht jedoch in eine andere Richtung: Heutige Erwachsene, so Hochgatterer, sind meist heillos überfordert von einem zunehmend beschleunigten, technisierten Leben; der kindliche Körper werde da rasch zum „Projektionsfeld für Reaktionen auf Weltentfremdung“ und in der Folge zum „Schlachtfeld“: Die einen werden mit Medikamenten ruhiggestellt, die anderen schon im im Kindergarten durch Fördermaßnahmen auf Höchstleistung getrimmt. Dabei hätten für Hochgatterer Eltern wie Pädagogen im Umgang mit Kindern nur eine, allerdings „schwierige“ Aufgabe zu bewältigen: sich selbst überflüssig zu machen.

Titelbild

Paulus Hochgatterer: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit.
Deuticke Verlag, Wien 2012.
207 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061828

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch