Das Buch der Bücher – welches?

Eine Ausgabe der King-James-Bible mit Anmerkungen aus der Gegenwart

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man als Germanist oder auch nur als literarisch interessierter zur Bibel greifen, steht man sogleich vor einem Dilemma: Welche Ausgabe soll man nehmen? Interessiert man sich für die Welt der Bibel und ihre Geschichten, hat man eine Fülle von neueren Ausgaben zur Hand, die mehr oder weniger lesbar, mehr oder weniger treu und mehr oder weniger stark kommentiert sind: die einfache Einheitsübersetzung, die treue Elberfelder, die literarische neue Zürcher. Interessiert man sich dagegen für die Bibel als Quelle der Literatur, dann muss man zur Lutherbibel greifen, denn sie ist es, die die deutsche Literatursprache geprägt hat – sie ist aber zugleich manchmal schwer verständlich und hat auch manchmal den biblischen Text nicht verstanden, gerade in den schwierigen poetischen Passagen in den Psalmen und Propheten.

Was für ein Dilemma das ist, zeigt etwa die seit einiger Zeit auch in neugermanistischen Kreisen kursierenden Sitte, Bibelzitate grundsätzlich nach der Lutherschen ‚Originalausgabe‘ zu zitieren (faktisch meist nach der Ausgabe von 1545): „Es begab sich aber zu der zeit / Das ein Gebot von dem Keiser Augusto ausgieng / Das alle Welt geschetzt würde. Vnd diese Schatzung war die allererste / vnd geschach zur zeit / da Kyrenius Landpfleger in Syrien war.“ Das ist hübsch, treibt den Setzer zur Verzweiflung (man kann hier nämlich noch die Schwabacher Schrifttype simulieren …), gibt dem Zitierenden die Aura der Gelehrsamkeit – und rückt den biblischen Text in eine Ferne, die er historisch nie hatte. Franz Rosenzweig hat schon in den 1920er-Jahren auf das Paradox hingewiesen, dass die Lutherübersetzung so sehr zum Teil der deutschen Sprache geworden ist, dass man sie eigentlich gar nicht mehr beurteilen könne; daher sei nicht nur jede ‚Revision‘ in sich problematisch, sondern die Bibel auch gewissermaßen zu vertraut, um noch eigentlich gelesen zu werden. Rosenzweig selbst zog bekanntlich die Konsequenz einer radikalen Neuübersetzung, die versucht, aus diesem Dilemma herauszuspringen – lösen konnte er es nicht.

Nun findet sich eine Ausgabe, die sich in anderer Form diesem Problem stellt: die Norton Critical Edition der Englischen Bibel, welche die King-James-Bible von 1611 mit aktuellen Anmerkungen  und Kommentaren abdruckt. Im englischen Sprachraum ist die Situation ja grundsätzlich ähnlich wie im deutschen. Auch hier ist die King-James-Bible eines der zentralen, wenn nicht das formative Buch der Literatursprache gewesen; interessanterweise war dabei ihr Stil bereits bei ihrem Erscheinen leicht veraltet, handelte es sich über weite Strecken über eine Überarbeitung älterer Übersetzungen vor allem von William Tyndale –  und es ist wohl gerade diese Archaik, die ihre Autorität ausgemacht hat. Sie war dann auch Jahrhunderte wenig verändert im Gebrauch, um erst in den letzten siebzig Jahren geradezu von einer Fülle neuer Übersetzungen abgelöst zu werden.

Die vorliegende Ausgabe erscheint in zwei voluminösen Bänden: das Alte Testament herausgeben von Herbert Marks, das Neue Testament mit den Apokryphen von Gerald Hammond und Austin Busch. Die Ausgabe versteht sich dezidiert als „secular study bible“, zielt also auf den literarisch, historisch oder kulturell interessierten Leser. Sie druckt den Text der King James Bible (in einer vorsichtigen Revision aus dem 18. Jahrhundert) in moderner Lautung, aber der Beibehaltung von altertümlichen Formen und Konstruktionen („Thou“ für „you“, „Behold“ for „see“, die parataktische Reihung von „And“ etc.), der Interpunktion und der Kapitalisierung zentraler Ausdrücke. Dem Text sind Anmerkungen beigegeben, die  veraltete Ausdrücke erklären, Fehlübersetzungen korrigieren oder Informationen zum antiken Kontext der Texte einführen. Sie erlauben es dem Leser damit, den alten Text auf dem neuen Stand der Forschung zu lesen. Erst dann, so Herbert Marks, Herausgeber des Alten Testaments, erkenne man auch die Stärke der King James Version, der nicht nur in ihrer Sprachkraft liege, sondern auch im Versuch, möglichst wörtlich zu übersetzen, ein Prinzip, das moderne Übersetzungen meist zugunsten einer zu übermittelnden ‚Botschaft‘ vernachlässigten. Gerade die Verbindung dieser Wörtlichkeit mit den Anmerkungen erlaubt es daher, hinter dem englischen Text den hebräischen bezeihunsgweise griechischen gewissermaßen mitzulesen.

Das ist besonders interessant, weil sich ein nicht geringer Teil der Anmerkungen auf die literarischen Eigenheiten des biblischen Textes bezieht, insbesondere im ersten Band zur hebräischen Bibel. Marks weist immer wieder auf rhetorische und literarische Verfahren hin: auf Wiederholungen, Symmetrien, Inkonsistenzen und Ironien, auf Gattungen und Figurenkonstellationen, auf Fragen und Abgründe des Textes. Als wichtiger Vertreter der in Amerika verbreiteten Lektüre der Bibel als Literatur ist es seine Absicht, „to foster the habit of close reading oriented towards the unsetteled or unsettling“. Das lässt nicht nur die sprachlichen und poetischen Verfahren des Textes erkennen, sondern erlaubt einen ganz anderen und freien Umgang mit dem Text: Man kann sich wirklich in ihn einlesen und entdeckt, dass viele Geschichten gar nicht so einfach und eindeutig sind, wie man sie in Erinnerung hatte. Gerade diese literarische Lektüre, so hofft der Herausgeber, erzeuge „an interpretative mobility that avoids historical demystification no less than religious idealization“. Wieder stellt der englische Text mit Anmerkungen zum Hebräischen eine Art von Interlinearversion dar, mit der man sich in die hebräischen Geschichten und ihre literarische Komplexität einlesen kann. Keine der deutschen Erklärungsbibeln ist in dieser Richtung ähnlich ergiebig.

Die Bände bieten aber noch mehr: Ein Anhang präsentiert jeweils fast 600 Seiten an Material zur Geschichte und der Bibel und ihrer Lektüre: Texte aus dem religionsgeschichtlichen Umfeld, etwa vorderorientalitische Epen und Prophetien oder antike Wunder- und Geburtslegenden; Texte zur Geschichte der Exegese der vorkritischen ebenso wie der kritischen in ihren verschiedenen Zugängen – vor allem der Band zum Alten Testament enthält auf sechzig Seiten eine exquisite Sammlung auch literarischer Zugänge –;  Beispiele aus der philosophischen und literarischen Wirkungsgeschichte; Texte zur Übersetzung und Übersetzungsvergleiche und schließlich fünf Sammlungen von Deutungen und Lektüren über den Sündenfall, die Bindung Isaaks, Pontinus Pilatus, Römer 7 und die Apokalypse. Das sind Sammlungen von Materialien zu einer Kulturgeschichte der Bibel und ihrer Lektüre, die nicht nur die Theologen oder die Dichter umfasst, sondern quer durch alle möglichen Disziplinen und Diskurse läuft und gerade damit zeigt, was für ein komplexes und weitreichendes Feld gerade die Nachgeschichte der Bibel ist. Eine solche Sammlung wünscht man sich auch in deutscher Sprache; dass sie nicht existiert, zeigt, dass die Kulturgeschichte der Bibel hierzulande noch ein Feld mit einigem Nachholbedarf ist.

Das Problem, welche Bibel man lesen soll, ist damit natürlich auch nicht gelöst, sondern eher sichtbar gemacht, denn man kann nun versucht sein, eine – diese – englische Übersetzung neben seine deutsche zu legen, wenn man in der Bibel lesen will. Liegen die beiden so nebeneinander, so fragt man sich, ob die englische nicht Nachfolger finden könnte: Man wünscht sich eine ähnliche Ausgabe auch von der Lutherbibel, unrevidiert und modern annotiert, mit Kontext. Damit man das Dilemma wieder verstehen kann.

Titelbild

Gerald Hammond / Austin Busch (Hg.): The english Bible. The New Testament and The Apokrypha.
Norton Critical Editions, New York 2012.
1544 Seiten, 20,99 EUR.
ISBN-13: 9780393975079

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Herbert Marks (Hg.): The english Bible. The old Testament.
Norton Critical Editions, New York 2012.
2300 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9780393927450

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