Wort-Reich erlebt

Ein zweiter Lyrikband von Asher Reich in eindrucksvoller deutscher Wiedergabe

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Mensch und Dichter, 'der zu Hälfte lebt' " - so charakterisiert sich Asher Reich selbst, in Anlehnung an Erika Mann im Vorwort seines 1992 deutsch erschienenen Gedichtband "Arbeiten auf Papier". Der Dichter sei ein 'Sonderling', der an zwei verschiedenen Sphären teilhat, am gesellschaftlichen Erleben und am Reich des Worts, das "mit allen seinen verzauberten Verwandlungen in unserem Bewußtsein ein und aus" geht.

Asher Reich wurde 1937 in Méa Shearím, dem Viertel der orthodoxen Juden, in Jerusalem geboren. Er besuchte streng religiöse Schulen und wuchs in einer von Tora und Chassidischen Tänzen geprägten Atmosphäre auf - mit einem geradezu kreatürlichen Widerstand der Seele, der sich in psychosomatischen Krankheitsreaktionen äußerte: "Viele der Tage meiner verschwundenen Kindheit / kochten vor sich hin im Suppentopf, / im siedenden Wasser des Widerspruchs [...] / Und ich wuchs auf im Taumel der Abneigung [...] Erst heute, durch Zeit und Umstände weit entfernt, / kann ich rückwärts schauen, / mit einem Deut Liebe."

Mit achtzehn Jahren, so Reich selbst, "fiel er in die Welt": er meldete sich freiwillig zum Militärdienst (obwohl er als orthodoxer Talmud-Student freigestellt gewesen wäre), studierte danach hebräische Literatur und Philosophie und zog nach Tel Aviv. Dieser Schritt war die entscheidende Zäsur in seinem Leben. Sie gibt seinem neuen Gedichtband den Titel: ,Tel Aviver Ungeduld'. Ungeduld ist das Lebensgefühl dessen, den eine unheilbare skeptizistische Rastlosigkeit vom weltanschaulichen Obdach seiner Kindheit fortreißt: "bis zur Atemlosigkeit blich die Zeit aus / meine Strasse wurde überschwemmt / von Tel Aviver Ungeduld". Tel Aviv, das Hauptstadt-Symbol des Zionismus, in dem sich kapitalistische Umtriebigkeit als die säkularisierte Einlösung der tausendjährigen jüdischen Heimatsuche gibt, wird für Reich - im Gegensatz zu seiner Geburtsstadt Jerusalem - zu einem Raum, in den ihn die religiöse Intensität seiner Kindheit als Reminiszenz verfolgt, während er sie zugleich unerbittlich kritisch exorziert. Dieses Leben in "Erinnerungen eines an Gedächtnisschwund Leidenden", wie der Titel von Reichs Autobiographie präzise übersetzt lautet, die Grundspannung zwischen Klangbewusstsein jüdischer Tora-Weisen und westlicher Rationalität prägt eine Lyrik, die sich gleichermaßen anteilnehmend aus dem Leben und aus ihrer Teilhabe am magischen Zauber der Sprache speist.

Für seine spezielle dichterische Erlebnisweise hat sich Asher Reich schon in seiner frühen Lyrik eine eigene Form geschaffen: die erste Gedichtstrophe besteht aus ein oder zwei Zeilen, jede weitere Strophe enthält eine Zeile mehr. Dieser typographischen ,Keilform' entspricht die Gedankenbewegung: die poetische Phantasie treibt sich als die Spitze eines epiphanie-ähnlichen Erkenntnismoments in eine Lebenssituation hinein, und dann wird dieser Eindruck einerseits auf das sinnliche Umfeld des Erlebten und andererseits in die Bedeutungstiefen der Worte hinein ausgeweitet. Aus dieser Wechselwirkung von Leben und Sprachklang, die beide in sich zutiefst geheimnisvoll sind, entzündet sich Reichs Sprache in ihrer einzigartigen surrealistischen Präzision. Das Erlebte überwältigt die Sprache zu kühner Metaphorik, diese klärt und erlöst das Gelebte zu expressiver Transparenz.

Die Gedichtanordnung des Bandes - 64 Gedichte in vier Sektionen - lässt den Leser eine thematische Schwerpunktverlagerung fühlen: zunächst durchleuchtet der Dichter kritisch die gegenwärtige Situation des Staates Israel ("wir sind der Staat am Ende seiner Tage. / Wir sonnen uns im Licht seines Untergangs mit Übelkeit im Herzen"). Dann verlagert sich das Interesse auf sein Ich: Erinnerungen an den Freund Robbi wechseln mit einem "Liebesgedicht" des passionierten Rauchers Asher an seinen Krebs, die minutiös-liebevolle Beobachtung seines Hundes steht neben der albtraumhaften Gewaltszenerie, in der das Ich seine Schlaflosigkeit als rauschhafte Schlachtlust an den vergebens gezählten Schafen erlebt. Am Ende des Bandes, in dem bei einem Deutschlandaufenthalt entstandenen Gedichtzyklus "Wintermusik", tritt die Naturwahrnehmung in den Vordergrund und verschwistert sich aufs Intimste mit der Musik der Sprache ("Symphonie in weiß", "Waldmenuett", "Harmonie", "Schlußlied" etc.). Vor allem in diesen Texten zeigt sich Reichs Vertrautheit mit der Lyrik des europäischen Symbolismus. Seine eigene Sprachverwendung ist ähnlich symbolmächtig, aber nicht dunkel und entfaltet sich innerhalb einer kristallinen Syntax.

Der deutsche Band verdankt seine beeindruckende Sprachgestalt maßgeblich der übersetzerischen Zusammenarbeit von Lydia Böhmer mit ihrem Mann Paulus, respektive mit Werner Söllner. Aus diesem jeweils dialogischen Arbeitsprozess von Native Speaker und deutschem Dichter gehen Texte hervor, die sich gerade deshalb durch Verve und Eindrücklichkeit auszeichnen, weil sie sich - um einer Bildkraft der Übersetzung willen - nicht sklavisch auf eine bedeutungsgetreue Wiedergabe des Originals verpflichten.

Asher Reichs eigene Haltung - als beständig poetisch Aufnehmender - umschreibt beispielhaft sein Gedicht "Laken": "Das ist meine Berufung: Leben ergießt sich, in Mengen, in mich. / [...] Wenn ich voll bin von Welten / [...] werde ich plötzlich zusammengerafft [...], hineingeworfen in wirbelnde Waschgänge, die aus [...] meinen Innereien / das wenige das ich weiß, auswringen [...] / Und ich, wie ein Baby, werde aufs neue ausgebreitet zur Welt". Was sich in diesem Linnen, in diesem poetischen Bewusstsein abbildet, ist Erlebnis-Reich-tum.

Titelbild

Asher Reich: Erinnerungen eines Vergesslichen.
Bleicher Verlag, Gerlingen 2000.
240 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3883507482

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Asher Reich: Tel Aviver Ungeduld. Gedichte.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt 2000.
96 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3929232081

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