Die germanistische Kristallkugel

Zukunftsfragen der Germanistik als Proceedings der DAAD-Germanistentagung 2011 vorgelegt

Von Judith KeßlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Keßler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band des DAAD ist ein ausgesprochen wichtiger, denn er stellt den Status Quo der Auslandsgermanistik in Frankreich und den Benelux-Staaten vor. Das geschieht anhand einer Reihe von Beiträgen zur DAAD-Germanistentagung 2011, die nun in einem Sammelband veröffentlicht wurden. Bei der Auswahl der Beiträge hat man sich bemüht, den verschiedenen Fachrichtungen Rechnung zu tragen, sodass sowohl aktuelle Forschungsfragen zur Linguistik als auch zur Literaturwissenschaft und zu den Deutschlandstudien vertreten sind. Naturgemäß liegt der Schwerpunkt jedoch auf dem Bereich Deutsch als Fremdsprache, und zwar einmal auf Betrachtungen zum Fach an sich, andererseits aber – und darum geht es letztendlich in diesem Band – auf der Perspektive für DaF und der Germanistik an ausländischen Hochschulen.

Gerade der letzte Punkt ist angesichts aktueller Entwicklungen von größter Bedeutung und soll daher auch hier zentral stehen. Aus meiner eigenen Perspektive als Germanistik-Dozentin an der Radboud Universität in Nijmegen (NL) kann ich vor allem die Überlegungen zur Lage in den Niederlanden nachvollziehen. Dabei muss angemerkt werden, dass sich dort die Organisation des Sprachenstudiums momentan im Umbruch befindet. Mehrere niederländische Universitäten haben sich entschlossen, vom traditionellen Bachelor-Programm abzuweichen und nicht mehr die Sprachen an sich zu unterrichten, sondern breite Bachelor-Studienrichtungen anzubieten, die dann zum Beispiel „Europäische Studien“ (Universität von Amsterdam) oder „Europäische Sprachen und Kulturen“ (Universität Groningen) genannt werden. Dort kann man sich nur noch für eine Schwerpunktsprache entscheiden, was effektiv bedeutet, dass der Anteil am Unterricht in der gewählten Sprache geringer ist als in traditionellen Bachelorstudiengängen, eben weil wegen der breiten Studentenpopulation mit ihrem völlig unterschiedlichen Hintergrundwissen zahlreiche Seminare in Englisch abgehalten werden müssen, nämlich als Ersatz für die traditionellen sprachspezifischen Fächer.

Die Entwicklungen in den Niederlanden sind vielleicht als symptomatisch für die Auslandsgermanistik im Allgemeinen zu sehen. Die Berichte im vorliegenden Band stimmen jedenfalls nachdenklich, wenn sie nicht gar zur Alarmbereitschaft aufrufen. Aus nahezu jedem Beitrag wird deutlich, wie man sich bemüht, innerhalb des breiten Fächerangebotes der verschiedenen Universitäten und ihrer speziellen Perspektive auf Wissenschaft und Unterricht zu überleben. Besonders oft werden die unterschiedlichsten Wege zur Zusammenarbeit gesucht, wie die Beiträge zeigen: entweder, indem Universitäten und Fachhochschulen ihre Kräfte bündeln (wie in Belgien), indem man sich besonders nachdrücklich auf eine Zusammenarbeit mit Deutschland richtet (wie in den Niederlanden, in denen das Deutschland Institut Amsterdam aber bei weitem keine so herausragende Rolle einnimmt, wie Colin und Dauven-van Knippenberg dem Leser suggerieren wollen), oder indem, wie in Frankreich, innerhalb der Universität fächerübergreifende, interdisziplinäre Seminare angeboten werden, insbesondere in Verbindung mit Jura oder Betriebswirtschaft. Die Berichte zeugen auch von den Versuchen, im Vorfeld allerlei Wege zu beschreiten, bevor man den passenden Gesprächs- und Kooperationspartner gefunden hat. Denn sich für eine bestimmte Form der Zusammenarbeit zu entscheiden, bedeutet auch immer, Kompromisse einzugehen in Bezug auf den Fachinhalt, auf die Zahl der Unterrichtsstunden, und auf die Ansprüche, die man an die Studierenden stellt.

Die Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang getroffen werden, sind nicht leicht zu fällen und man kann sie daher auch unterschiedlich beurteilen. Einerseits sind die Auslandsgermanisten gezwungen, auf die aktuellen Entwicklungen im Hochschulbetrieb und in der Politik zu reagieren und durch immer neue, kreative Konzepte ihr Überleben zu sichern. So ist die Suche nach Anschluss in anderen Bereichen nur allzu verständlich. Andererseits besteht dadurch aber die Gefahr, dass die nötige Tiefe nicht mehr erreicht wird, die von einem Germanisten erwartet wird, auch wenn er das Fach im Ausland studiert hat. Wenn man Deutsch immer nur in Kombination mit anderen europäischen Sprachen oder ganz anderen, insbesondere auf die Wirtschaft ausgerichteten Fächern studiert, dann ist eine gewisse Oberflächlichkeit unumgänglich. Das kann, wie Schmider und Bobillon in ihrem Beitrag zur Lage in Frankreich zeigen, im schlimmsten Falle dazu führen, dass die Germanistik auf eine Aufbesserung der Fremdsprachenkenntnisse von Betriebswirtschaftlern und Juristen herabgestuft wird – ein Schicksal, das in den genannten Ländern auch für weitere europäische Sprachen denkbar ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sammelband sicherlich kein Patentrezept zur Sicherung des Fachs im europäischen Ausland liefern kann, denn dazu müssten zu viele der im Titel angesprochenen Zukunftsfragen bereits geklärt sein. Natürlich kann dieser Band auch keine Hochschulpolitik betreiben. Was er aber leistet, ist, einen umfassenden und differenzierten Blick auf die aktuelle Lage und auf die Probleme der Germanistik extra muros zu werfen, der vielleicht sogar zur stärkeren Zusammenarbeit der Germanisten auf europäischer Ebene anregen kann – und zwar vor allem innerhalb des Fachs, damit auf einer der nächsten DAAD-Tagungen hoffentlich ein optimistischeres Bild des Status Quo der Auslandsgermanistik gezeichnet werden kann.

Titelbild

Zukunftsfragen der Germanistik. Beiträge der DAAD-Germanistentagung 2011.
Herausgegeben vom Deutschen Akademischen Austauschdienst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
350 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310728

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