Der alte Goethe, ein Vorbild für das produktive Miteinander der Kulturen
Über Katharina Mommsens Werk zu Goethe und den Weltkulturen
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie große Goethe-Interpretin Katharina Mommsen, die zuletzt an der Stanford Universität in Kalifornien gelehrt hat, bietet uns die Summe ihrer Forschungen zum Thema „Goethe und die Weltkulturen“ dar. Das Buch enthält 25 Beiträge, es ist gestalterisch gut gemacht: mit ausführlichen Registern und präzisen Wiedergaben von Goethe’schen Autografen und von Frontispizen bedeutsamer Werke der Goethe-Zeit. Es ist ein ästhetischer Genuss, in dem Buch zu blättern, wobei auch der kosmopolitische Geist besticht. Denn die Fußnoten auf den einzelnen Anfangsseiten teilen mit, dass wir hier unter anderem Essays vor uns haben, die in Istanbul, Tunis, Kairo, Dubai, Tokyo, ferner in London, Darmstadt, Heidelberg und Weimar als Vorträge gehalten worden sind. Die einzelnen Texte sind also im Wesentlichen schon bekannt, ja viele von ihnen sind schon längst in die Kommentare der gängigen Goethe-Ausgaben eingeflossen. Dennoch bietet der Band viel Neues: dadurch, dass die Beiträge aktualisiert, erweitert und mit erhellenden Querverweisen versehen worden sind.
Das Buch lässt sich auf drei Weisen lesen: Erstens ist es ein Werk über den weltoffenen und für fremde Zivilisationen aufgeschlossenen Goethe; zweitens ist es ein Werk über die Wissbegierde der europäischen Intellektuellen der letzten 300 Jahre gegenüber der Sphäre des Orients; und schließlich ist dieses Buch ein Appell zum friedlichen Zusammenleben der Weltkulturen in der heutigen Zeit.
Was das erste Thema betrifft, Goethes Offenheit, so sei Mommsens Interpretation von Goethes berühmtem Gedicht aus dem „West-östlichen Divan“ genannt: „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Occident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.“ Die ersten beiden Verse entstammen dem Koran, der dritte Vers, über Nord und Süd, ist Goethes weltumspannende Ergänzung (beim jungen Goethe dagegen kämpfen Norden und Süden noch gegeneinander), und die Aussage über die „Hände“ – in der „Ende“ anklingt – ist eine Anlehnung an das Buch Jesaja und die Psalmen und verbindet Weltgefühl mit der Ergebung in Gott oder Allah.
Was das zweite Thema angeht, die Intellektuellen Europas: Mommsen dehnt ihre Betrachtung bis zur neueren Literatur aus und deutet Rilkes Sonett „Mohammeds Berufung“ als die Verwirklichung dessen, was Goethe noch geplant hatte; und sie betrachtet die Ausstrahlung von „1001 Nacht“ auf Europa, also jenen Glanz, der in Frankreich mit Gallands Übersetzung begonnen, die Aufklärer und dann Goethe ergriffen und weiter etwa auf Hofmannsthal gewirkt habe.
Mommsens Appellieren, das dritte Thema, tritt in dieser Weise hervor: Sie erinnert an interkulturell aktive Schriftsteller wie Senghor, bezeichnet Antiislamismus und Antisemitismus als parallele Erscheinungen und beklagt die „Mechanismen“ des Bestialischen bei Hitler und Osama bin Laden. Bemerkenswert ist, was wir hier über die berühmte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel erfahren: Sie sei, ihren Worten zufolge, durch ihre Islam-Forschungen in die glückliche Lage versetzt worden, ihre christliche Identität „wesentlich zu erweitern“, ohne dass ein Glaubenswechsel notwendig gewesen sei. Hierzu passt dieser Satz Mommsens aus einem ihrer neueren Vorträge; „De facto leben wir längst in einer großen Mischkultur.“
Dies ist ein wichtiges Stichwort bei Mommsen, immer wieder nennt sie typische Mischkultur-Phänomene. So die „verehrende Bewunderung für Christus“, die den Propheten Mohammed beflügelt habe, und den Umstand, dass Plato sein berühmtes Höhlengleichnis während seiner Afrikareise erdacht habe. Welch verblüffende Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Welten! Und es sind uralte Verbindungslinien.
Einen Großteil des Buches machen Mommsens Recherchen und Interpretationen zu dem Gedichtzyklus „West-östlicher Divan“ (1819) des alten Goethe aus. Mommsen beleuchtet genauestens die wissenschaftlichen und menschlichen Einflüsse, die hier wirksam waren – von den Publikationen der damaligen Orientalisten und des Hafiz-Übersetzers Hammer-Purgstall bis zu Goethes Erlebnis eines muslimischen Gottesdienstes in Weimar 1813 und seiner Verehrung für Mariane von Willemer, seine „Suleika“. Sie ordnet den „West-östlichen Divan“ in Goethes gesamtes Schaffen ein – als eine Art später Fortsetzung der Reise nach Italien mit einer neuen inneren Befreiung – und analysiert Goethes Verehrung für den Islam, an dem ihm der entschiedene Monotheismus und die poetische Substanz angezogen haben. Mommsen liefert ferner eine Fülle von philologischen Detailbeobachtungen: etwa die, dass Goethe immer wieder mit den Reimklängen spielt, die von „mischen“ und „gemischt“ ausgehen; oder die, dass er mit dem Gedicht „Märkte reizen dich zum Kauf“ dem kalten (käuflichen) Wissen das liebende Sicheinfühlen entgegenstellt und dabei auf den 1. Korintherbrief anspielt; oder die Feststellung, dass eines der Bücher des „West-östlichen Divans“ eine „interkulturelle Spruchdichtung“ ist. Dies alles – wir konnten nur andeuten – ist Literaturwissenschaft erster Güte, dargestellt in einer schwungvollen, leicht fasslichen und immer dem Leser zugewandten Sprache.
Andere Beiträge befassen sich mit dem Einfluss von „1001 Nacht“ auf den zweiten Teil des „Faust“, mit Goethes Begeisterung für Alexander den Großen und die Alexander-Darstellungen in der bildenden Kunst und mit Goethes Interesse an China. Goethe war aufnahmefähig „auch dem Fremdesten gegenüber“. Fragwürdigen Ideologien geht Mommsen nicht aus dem Weg. Sie legt dar, dass Goethe den orientalischen Despotismus mit Lob bedacht hat, und begründet dieses Lob aus Goethes Lebensgang und seiner Napoleon-Verehrung heraus.
Natürlich kommt die Autorin immer wieder ins Schwärmen; sie sagt: Goethe „bewegte sich im Geiste gleichsam auf Adlersflügeln über weite geografische und zeitliche Entfernungen hinweg zu anderen Nationen hinüber“. Man mag diesem kühnen Bild zustimmen. Im Übrigen möchte ich anmerken, dass man manches Detail der Geistesgeschichte anders beurteilen kann, als es Mommsen tut. Sie erklärt, die Aufklärer verhielten sich „weitgehend kritisch und ablehnend“ gegenüber „den wichtigsten Realitäten des orientalischen Lebens“.
Wirklich? Schon 1721 bei Montesquieu heißt es, dass der Islam und das Christentum die beiden Tochterreligionen des Judentums seien. Und wenn für Mommsen Karl May nur der Mann der „Klischeehaftigkeit“ und des „Lesefutters“ ist, so ist entgegenzuhalten, dass Mays christlicher Held mit den Moslems ihre Gebete spricht und dass bei ihm der Satz steht: „Fast Alles, was das Abendland besitzt, hat es vom Morgenlande.“
Wir haben vorhin die Gestaltung des Buches gelobt, müssen aber doch noch dies monieren: Sehr oft ist „Goethe“ am Zeilenende getrennt (Goe- / the), eine kleine Hässlichkeit, die früher allenfalls den Setzerlehrlingen passiert wäre.
Katharina Mommsens Werk ist in all seinen historischen, philologischen und menschlichen Aspekten auch ein modernes Buch. Goethe hat gesagt, er wolle Hafiz’ Lyrik nicht nur lesen, sondern sich „dagegen productiv [sic!] verhalten“. Ähnlich produktiv ist Katharina Mommsen, wenn sie ihrem wissenschaftlichen Ethos folgt und so Goethes Poetentum uns als Vorbild für ein den Frieden schaffendes Miteinander der Kulturen vorstellt. Sie erinnert dabei auch an Anwar al Sadat und seinen Besuch in Jerusalem 1977. Ihr Resümee über diesen Auftritt des ägyptischen Präsidenten: „Es war eine Tat, die im höchsten Sinne muslimisch und zugleich christlich und jüdisch war.“
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