Flucht vor dem schlimmen Gott

Tilmann Moser hat zwei Studien zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion vorgelegt

Von Carl PietzckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carl Pietzcker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1976 hatte der Psychoanalytiker Tilmann Moser eine autobiografische Auseinandersetzung mit seiner christlichen Sozialisation und deren neurotisierenden Wirkungen unter dem anklagenden Titel „Gottesvergiftung“ veröffentlicht. Erregt konnte damals eine Vielzahl von Lesern verfolgen, wie es ihm nach schmerzvollen Rückschlägen schließlich wohl doch gelang, sich in psychoanalytischen Therapien von dem Leiden unter seiner religiösen Bindung zu befreien. Seither klopften bei dem inzwischen in Freiburg praktizierenden körperorientierten Analytiker immer wieder religiös geprägte Patienten an, und er selbst veröffentlichte hin und wieder auch zur Therapie religiös Geschädigter.

2011 legte er dann eine Sammlung von Fallberichten, Essays und Aufsätzen mit dem provozierenden Titel „Gott auf der Couch“ vor. Sie ist ganz aus der Position eines psychoanalytischen Therapeuten geschrieben, der ohne Wertung, ohne Kritik und ohne Tendenz seine Patienten auf ihrem eigenen Weg hin zu geringerem seelischen Leiden und erweiterter Glücksfähigkeit hilfreich zu begleiten sucht, führe dieser Weg nun zur Befreiung von jeglichem Gott oder zu einem weniger drückenden „erträglicheren“ Gottesbild, das Vertrauen und Selbstvertrauen zulässt, ja durchaus „heilsam“ sein kann; nur Wenige hielten ein Leben ohne einen Gott ja aus. Moser geht in diesem Sammelband nicht systematisch und theoretisierend einer psychoanalytischen Theorie von Religion nach und fragt nicht kritisch nach der Wahrheit ihrer Dogmen, sondern begegnet ihr als einem psychisch wirksamen, krankmachenden, aber auch salutogenen, also Gesundheit schaffenden Phänomen, und fördert, offen für Gotteserfahrungen seiner Patienten, jenen Prozess, in dem sie sich selbst begegnen, ihr psychischen Kräfte neu inszenieren und hierbei durchaus eigenständig wachsen. Er verfährt nicht zwingend, nicht entwertend, nicht ausblendend, und schon gar nicht belehrend, sondern regt in seinen Therapien wie auch in den hier versammelten Texten zur Selbstaufklärung an, ein im rechten Sinn humanes psychoanalytisches Verhalten.

Hierbei geht er szenisch vor, sucht frühere, inzwischen abgesunkene und verdrängte Szenen zwischen dem Patienten und seinem Gott, zwischen diesem Gott und dem Patienten sowie zwischen Eltern- und Familienfiguren und dem Patienten neu zu beleben und sie mit der Wucht ihrer Emotionen ins Licht der Gegenwart und so in das des Bewusstseins und der Reflexion zu locken. Das geschieht, wie üblich, mit der zumeist auf Gegenübertragungsanalyse gegründeten Deutung von Übertragungen, aber auch in Rollenspielen, in denen der Patient spielerisch-imaginär seinem Gott in der Interaktion mit einem Gegenstand oder mit dem Therapeuten gegenübertritt und sich mit ihm auseinandersetzt, gelegentlich auch, indem er in die Rolle dieses Gottes schlüpft und von ihr her auf sich selbst blickt. Der Christengott erscheint hierbei in all seinen Varianten als eine psychische Realität, die ernst genommen wird: ein Introjekt, das in den Erzählungen der Religionen seine ausformulierten Ableger in der Außenwelt findet und nun dem Unbewussten des Patienten als dessen individuelles Gottesbild entsteigt, sodass dieser sich mit ihm konfrontieren kann und nun auch der Geschichte nachspüren, in der es in seinem eigenen Lebensgang entstand. In den Analysen taucht hierbei eine ganze Reihe von Gottesbildern, oder besser wohl von Göttern auf, oft sogar beim selben Patienten, zum Beispiel der fordernde, der verbietende, der bestrafende und der alles sehende, der allmächtige, der verfolgende, der grausame, ja der sadistische Gott, der richtende, der begnadigende, der befreiende, der beschützende, der gütige und in vielerlei Gestalt der, welcher kraft der vom Vater ererbten Übermacht Ängste auslöst, weil seine Forderungen nicht zu erfüllen sind und seine Verbote, insbesondere das lustvoll gelebter Sexualität, nicht zu befolgen. Als verhängnisvolle Wirkungen dieses in der Psyche hausenden Terroristen erweisen sich im Gang der Therapien Sündenangst, Versagensgefühle, Selbstanklagen, Scham, Verworfenheitsfantasien, Grübeln, Hemmung freien Denkens wie erfüllten leiblichen Lebens, Angst vor Strafe, Schauder vor eigener Schlechtigkeit, religiöser Masochismus, umgeleitete Wut und eine ganze Palette neurotischer Symptome.

Deren Genese und die jener Götter und mit ihnen religiöse Kinderängste und frühe Familienszenen sucht Moser ins Bewusstsein zu heben, „das Vergiftete vom Heilsamen“ zu trennen und gegebenenfalls einen gütigen Gott als „seelische Ressource“ therapeutisch zu fördern. Die wichtigste Ressource aber ist ihm „Andacht“, so nennt er das in den ersten beiden Lebensjahren zwischen Mutter und Kind entwickelte vorsprachliche menschliche Grundgefühl, verbunden und geborgen zu sein, das seelisch-leibliche Erleben eines eigenen Selbst und auf späterer Stufe das Gefühl, dass Selbst und Kosmos verknüpft sind, – eine kostbare Quelle psychischer Kraft. In diese „Andacht“ sieht Moser später Inhalte von Religionen und totalitären Ideologien eindringen, welche die Kräfte solcher „Andacht“ dann ihren Heilsversprechen zufließen lassen, und so auch ihren Drohungen – ein Missbrauch, „eines der größten Seelenverbrechen“. Von ihm nähren sich neurotisierende religiöse Fantasien. Sie nähren sich aber auch von frühen, durchaus nicht religiös verursachten traumatischen Leiden, die sie nun religiös bebildern. Sie gilt es zu entneurotisieren, so etwa hin zum Bild eines „erträglichen“, vielleicht sogar willkommen heißenden Gottes.

Das alles entwickelt Moser aus einer Vielfalt von Perspektiven, wie sie sich aus einem Puzzel ganz unterschiedlicher Textsorten ergibt: aus der assoziierenden Auseinandersetzung mit einem an der Wand hängenden Bild des Christengottes, aus Fallberichten, aus Sitzungsprotokollen, aus einem kritischen Referat therapeutischer Zugänge zu religiösen Neurosen, aus Analysen religiöser Texte und aus einem „Brief an meinen Feind Augustinus“, einer mitfühlend analysierenden Anklage seines ‚fromm gewordenen Leidensbruders im Zeichen der Depression“, dessen kollektiv gewordene hochneurotische Form von Frömmigkeit Moser als ein Nachkomme von Pfarrergroßvätern vormals selbst übernommen hätte. Persönliche Anrede und offen eingestandenes eigenes Betroffensein lassen die Analyse der Sozialisation und der weiterer Entwicklung des Augustinus, zu der dessen confessiones ein weit ausgebreitetes detailgenaues Material bieten, so genau, so erfahrungs- und theoriegegründet sie ist, dennoch nicht zur wissenschaftlichen Abfertigung werden. Sie bleibt Ansprache eines leiderfahrenen Menschen an einen anderen, der seinen Gott als Medikament gegen die innere Leere seiner Depression einsetzte und sie mit Lobpreis, Schuldgefühl und Größenfantasien füllte: „Man könnte deinen Lobpreis manchmal fast lesen wie die poetische Version eines Beipackzettels für ein neues Antidepressivum mit gleichzeitiger Wirksamkeit für Borderline-Zustände“. Waren in diesem „Brief“ nochmals nahezu alle Motive des Buchs angeklungen, so führt die Schlussbetrachtung sie reflektierend zusammen.

Adressaten dieser flüssig geschriebenen Texte sind zuerst wohl psychoanalytische Therapeuten, die heutzutage Gefahr laufen, religiös bedingte Leiden ihrer Patienten aus Unkenntnis zu übersehen oder aber als antiquiert abzuwerten, sodass sie nicht den für das Gelingen einer Therapie erforderlichen toleranten und kenntnisreichen Zugang zu ihnen finden. Adressaten sind aber auch kulturell Interessierte, immerhin waren die christlichen Religionen lange Zeit das zentrale Medium unserer Geschichte, welches Kollektives im Individuum verankerte. Adressaten könnten aber auch religiös geprägte Leidende sein, die nicht mehr fürchten müssten, die Analyse nehme ihnen gegen ihren Willen ihren Gott. – Die Wirkung des Buches dürfte wohl nicht mehr an die der „Gottesvergiftung“ heranreichen; denn damals, nach 1968, in der Zeit der Neuen Subjektivität, wurde mit dem Zerbrechen gesellschaftlicher Zwänge euphorisch die Befreiung aus verinnerlichten und so auch aus religiösen Zwängen erfahren, heute dagegen geht es eher um Nachhutgefechte schmelzender religiöser Gruppen.

Diesem Buch vorausgeschickt hatte Moser 2010 „Der grausame Gott und seine Dienerin“, das von der anonymisierten Patientin Hannah H. nach Bandaufnahmen transkribierte, von ihren und des Therapeuten Berichten, Kommentaren und Überlegungen immer wieder unterbrochene Protokoll der vierjährigen, in Abständen von ungefähr vier Wochen in drei bis vier Sitzungen erfolgenden Therapie einer religiös schwer geschädigten depressiven Pfarrerstochter mit zwanghaften und narzisstischen Zügen. Im Gang der Analyse zeigt sie sich als Sünderin überwacht, verfolgt, gequält und verdammt von einem alles sehenden Gott, von dem sie vergeblich Hilfe erwartet. Sie entwickelt Wut auf ihn und Angst, er werde sich von ihr abwenden, wenn sie sich durch die Therapie zu einem selbständigeren Leben durchkämpft und das Tabu bricht, das über den Vorgängen in der Pfarrersfamilie lastet. Der alkoholkranke depressive Vater nämlich hatte, anders als die fromme Fassade dies vortäuschte, in seiner Not von seiner Tochter körperliche Nähe erzwungen und sich bei ihr Liebe geholt. Religiös missbraucht, hatte sie Verantwortung für Familie und Kirche übernommen und sich ihnen aufgeopfert. Schließlich kann sie sich gegenüber ihrer Familie jedoch verselbständigen, die Loyalität gegenüber dem Vater brechen, jenen schlimmen Gott zugunsten eines guten verabschieden und positives Körpergefühl erlangen: keine vollkommene Heilung, jedoch ein beruhigender Ausklang der Analyse.

Moser arbeitet, das lässt sich hier gut beobachten, mit einer durchdachten und offensichtlich erfahrungsgestützten Kombination von Methoden: mit Couch-Analyse, Gesprächstherapie, mit Übertragungs- und Traumdeutung, mit gestalttherapeutischen Rollenspielen, und einer psychoanalytisch fundierten Körpertherapie, die unbewusste Szenen durch behutsames, immer auch reflektiertes Berühren oder Halten, aber auch durch spielerisch inszeniertes körperliches Kämpfen ans Tageslicht lockt. Gerade durch solche Kämpfe gewinnt verdruckster Hass der Depressiven Gestalt und lässt sich formulieren. Hier orientiert Moser sich besonders an Albert Pessos Studie „Dramaturgie des Unbewußten. Eine Einführung in die psychomotorische Therapie (1989), der er auch folgt, wenn er mit heilsamen „idealen Eltern“ arbeitet. Beim Erproben von Gesten und Haltungen erspürt er halbverborgene Szenen; die Transkription der Stundenprotokolle durch die Patientin nutzt er zu wiederholtem Durcharbeiten. Sogar deren mögliche Veröffentlichung setzt er als Moment von Analyse und Reflexion ein. Die Therapie vollzieht sich zumeist als ernstes humorvolles Spiel, öfters wird gelacht. Als Therapeut verhält er sich offen gegenüber der Patientin, lässt sich von ihr befragen und benennt ihr gegenüber, besonders aber gegenüber dem Leser etwaige therapeutische Fehler.

Der Band könnte als Anschauungsteil eines psychoanalytisch fundierten körpertherapeutischen Lehrbuchs dienen. Er lässt die Leser der therapeutischen Arbeit zuschauen, lernend erspüren, wie eine fantasmatische Szene, eine Vorstellung, ans Licht will, zurückgedrängt wird, Umwege wählt und wie der Therapeut interveniert, ihr entgegenkommt, sie herauslockt und reflektiert. Die Leser können sich hineinbegeben in diesen Prozess und sie können ihn dank der eingestreuten Kommentare aus der Außenperspektive distanziert und kenntnisreich beobachten, sogar dank des Kassenantrags, der gleich einem nosologische Bericht auch noch die Begriffe bereit stellt. So können sie Überblick über diese Therapie gewinnen. Religiös Betroffenen aber könnte dieser Band helfen, sich besser zu verstehen. Da erfüllte sich der Wunsch, aus der Geschichte der Patientin etwas zu „machen, was für viele Menschen hilfreich sein wird“. Hierzu bedurfte es des Muts der Hannah H., ihr Leiden und ihr Kämpfe so offen auszustellen, und des Muts Tilmann Mosers, sein nicht eben übliches Verfahren der Kritik der Fachwelt ungeschützt vor Augen zu führen.

Titelbild

Tilmann Moser: Der grausame Gott und seine Dienerin. Eine psychoanalytische Körperpsychotherapie.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2010.
637 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783837920871

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Tilmann Moser: Gott auf der Couch. Neues zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011.
223 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783579065724

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