Kafka als Torero

Der Historiker Saul Friedländer bereichert die Perspektiven auf Franz Kafka mit einem biografischen Essay

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das rätselhafte Werk Franz Kafkas – Theodor W. Adorno brachte es auf die Formel: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden“ – ruft immer wieder das verständliche Bedürfnis hervor, einen Teil dieser Rätselhaftigkeit durch Erklärungen anhand biografischer Episoden aufzulösen. Zudem scheint vieles, was man über die empirische Person Franz Kafka weiß, hervorragend geeignet, – deute mich! – als Schlüssel zum Verständnis des Werks eingesetzt zu werden. Das wurde oft vorgenommen, zumal mit der unzensierten und zunehmend abgesicherten Edition der Briefe und Tagebücher in den letzten 20 Jahren sozusagen auch das persönliche Schattenwerk Kafkas greifbar wird; ebenso oft wurden aber auch die damit einhergehenden literaturtheoretischen Probleme thematisiert: die biografistische ‚Erklärung‘ eines Werkes aus dem Leben des Autors läuft doch immer Gefahr, den Charakter des Literarischen zu verfehlen und das Werk schlimmstenfalls, im Fall Kafkas, zu einer Art Krankenakte zurechtzustutzen.

Wer derartige Bedenken für den Augenblick beiseite schiebt, kann sich auf Saul Friedländers Perspektive auf Franz Kafka einlassen – und wird es sicher nicht bereuen. Denn der etwas zu starke Hang zum Biografismus ist auch schon die einzige Schwäche dieses Buches. Und selbst diese lässt sich keinesfalls als bloß Defizitäres abtun, denn hier ist auch die Biografie des Biografen zu berücksichtigen, was die Sache komplizierter, aber auch interessanter macht. Saul Friedländer, bekannt und geehrt als Autor herausragender historischer Untersuchungen wie „Das Dritte Reich und die Juden“, ist selbst in Prag geboren, und zwar im Jahr 1932, so dass er in betörender Vertraulichkeit schreiben kann: „Die Welt meiner Familie war die der Prager Juden, die einer etwas jüngeren Generation angehörten als Franz.“ Nachdem diese Welt gründlich zerstört und seine Eltern von den Nationalsozialisten ermordet worden waren, ging Friedländer nach Israel, wo er sogleich wieder auf Spuren der Kafka-Freunde Max Brod und Dora Diamant stieß. Seit 1947 liest er Kafka, so heißt es in der Einleitung, und diese lebenslange Beschäftigung ist nun, verquickt mit einer persönlichen lebensgeschichtlichen Dimension, in Friedländers Kafka-Buch eingeflossen und macht es zu einem einzigartigen und eigenständigen Werk, das jedenfalls die Kategorie der Forschungsliteratur deutlich übersteigt.

Der Verfasser selbst nennt sein Buch einen „kleinen biographischen Essay“. Das hört sich nach Understatement an, doch trifft diese Charakterisierung auch die Form seines ‚Versuchs‘: nicht zu beanspruchen, das letzte Wort gesprochen zu haben und gedankliche Offenheit mit stilistischer Präzision zu verbinden.

Überraschenderweise – hier zeigt sich die große Stärke dieser Biografie – wird das Bild von Kafka zwar meisterhaft und sehr empathisch im Zusammenhang mit dessen kulturellem Umfeld des k.u.k.-geprägten Prag gezeichnet; doch dieser Aspekt, der am ehesten mit der persönlichen Dimension des Verfassers korreliert, steht nicht unbedingt im Zentrum seiner Thesen. Vielmehr sieht er Kafka als „Dichter der Scham und der Schuld“. Und das ist nun vornehmlich im sexuellen Sinn gemeint. Scham und Schuld haben als „gewaltige Türme, die hoch über dem Kafka-Territorium aufragen“ bisher in Rezeption und Forschung „überwiegend nur zu ganz allgemeinen und abstrakten Interpretationen geführt“.

Das ist bei Friedländer anders. So präsentiert er eigene Interpretationen bekannter Werke wie „Ein Landarzt“ oder „Das Schloß“, um Motive daraus, unter Einbeziehung von Briefen und Tagebüchern, ganz direkt aus sexuellen Fantasien Kafkas abzuleiten beziehungsweise umgekehrt auf solche zu schließen. Dabei geht er streckenweise nach Art einer Beweisaufnahme vor, führt gleichsam einen Indizienprozess, in dem er Kafka homoerotischer, sadistischer, masochistischer und sogar pädophiler Fantasien überführt. Für letzteres ist die Beweisdecke allerdings so dünn, dass wohl auch ein literarisch völlig unbelecktes Schöffengericht begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten geltend machen würde.

Schließlich fungieren die Tagebücher Kafkas oft als eine Art Schreibwerkstatt, in der der Autor persönliche Befindlichkeiten mit literarischen Ausgestaltungen überblendet. Allerdings führt Friedländer solche Dinge auch keiner Skandalisierung zu – es ist eben ein ‚Versuch‘, der sich auch nicht scheut, an manchen Stellen vielleicht zu weit zu gehen.

Zudem tauchen immer wieder Details auf, die bisher im geradezu unendlichen Verkehr der Kafka-Forschung untergegangen waren. Auch die Rekonstruktion der einstmals von Max Brod zensierten Briefstellen wird überzeugend eingebettet: Friedländer zeigt anhand von prägnanten Beispielen, wie offen Kafka zum Teil über Sexualität und insbesondere auch über Details von Bordellbesuchen sprach, wie er sich bösartig und abfällig über Frauen äußern konnte. Es wirkt gar nicht so besonders schamhaft, wie Kafka manchmal über sexuelle Abenteuer berichtet. Doch schlugen Scham und Schuld immer wieder hart zurück.

Mit aufmerksamem Blick seziert Friedländer die erotischen Beziehungsmuster des Dichters und lässt dabei, ohne ausgesprochenen Rückgriff auf psychoanalytische Kategorien, die verwickelten Verhältnisse zu Freundinnen wie Felice Bauer oder Milena Jesenská als zusammenhängende Struktur klar hervortreten. So etwa durch die essayistische Klammer, die Kafkas Lebensgeschichte mit Søren Kierkegaards „Entweder – Oder“ locker einrahmt und die das Biografistische transzendiert: Hatte Kafka gegen das Buch zunächst „Widerwillen“ geäußert, so nahm er es auf dem Sterbebett wieder zur Hand. Kierkegaard beschreibt darin unter anderem die Idee einer ästhetischen Verführung, die zwar ohne den physischen Vollzug auskommt, aber dennoch ihre Objekte manipuliert und sich damit zum Ausleben von sadistischen Neigungen eignet. Warum trieb es ihn, den Tod vor Augen, erneut zu diesem verabscheuten Buch? Erkannte sich Kafka vielleicht am Ende selbst als einen hinterhältigen Verführer, musste er sich „als Lügner im Kierkegaardschen Sinne“ sehen?

Insgesamt wird durch die Betonung des Sexuellen ein Fokus gelegt auf die Momente des Individuellen und der unhintergehbaren Kreatürlichkeit. Wenn Friedländer diesbezüglich eine gewisse Schieflage in der Kafka Rezeption feststellt, in der die Sexualität unterbetont sei, so schließen sich daran zumindest zwei Fragen an. Zum einen scheint die psychoanalytisch orientierte Kafka-Forschung damit in den toten Winkel zu geraten, was möglicherweise an dem in der Psychoanalyse triebdynamisch ausdifferenzierteren Begriff von Sexualität liegen könnte. Wenn aber eher an die breite Rezeption Kafkas gedacht wird, die sich wohl lange auf das Undurchsichtig-Bedrohliche fixierte und dieses zum Teil auch drastisch herunterbrach – „kafkaesk!“ beklagt sich auch heute noch mancher im Ärger über Behörden und Amtspersonen, die vielleicht nur schlecht organisiert sind – so wäre zum anderen zu fragen, in wieweit es sich dabei um ein vorwiegend europäisches Phänomen handelt. Denn ganz neu ist schließlich eine solche Wahrnehmung Kafkas auch außerhalb der Fachwelt nicht; man denke etwa an den Roman „The Professor of Desire“ (1977), in dem Philip Roth einen von sexuell ausagierten Neurosen zerrissenen Literaturwissenschaftler bei einer Kafka-Pilgerfahrt träumen lässt, er träfe eine inzwischen greisenhafte ‚Hure Kafkas‘.

Besonders aufgrund seiner essayistischen Eleganz und stilistischen Stärken erscheint Friedländers Buch, wie schon in den vielen, sehr lobend gehaltenen Feuilleton-Rezensionen hervorgehoben wurde, auch zur Einführung in Werk und Leben Franz Kafkas geeignet. Eine individuelle, im doppelten Sinne biografisch geprägte Einführung, die wiederum eine individuelle Hinwendung zu Kafka – könnte es eine andere geben? – begünstigt. Denn auch bekannte Deutungen und Probleme werden pointiert und sensibel präsentiert, ohne sie doch zu fixieren. So findet der Verfasser beispielsweise für die Beschreibung von Kafkas Verhältnis zu dessen Vater eine prägnante Allegorie: „Franz, der sich über die Schwächen des Vaters und über seinen jähzornigen Charakter durchaus im Klaren war, übernahm die Rolle des Toreros in einem lebenslangen Stierkampf, der dazu dienen sollte, insgeheim sein eigenes besonderes Ich zu behaupten.“ Am Ende ist es schließlich immer der Torero, so könnte man ergänzen, der im Rampenlicht steht, und sollte er niedergetrampelt und aufgespießt werden.

Titelbild

Saul Friedländer: Franz Kafka.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
252 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406637407

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