„Wende zum Leib“

Matthias Koßler und Michael Jeske haben einen Tagungsband zu den Anfängen der Leibphilosophie bei Arthur Schopenhauer und Ludwig Feuerbach herausgegeben

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „Wende zum Leib“ oder „anthropologische Wende“ zum leibhaftigen Menschen wird nicht erst in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts vollzogen, sondern bereits bei Arthur Schopenhauer, Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche. Der vorliegende Band, der auf eine Tagung im Juli 2010 zurückgeht, erinnert (unter Ausklammerung Nietzsches) an diese Anfänge und geht ihnen auf vielschichtige Weise nach. Er umfasst, neben Beiträgen zu den jeweiligen Ansätzen von Schopenhauer und Feuerbach, Studien zu den antiken Quellen des Leibdenkens, zur Leiblichkeit des Unbewussten bei Sigmund Freud, zum Verhältnis beider Denker zu phänomenologischen Beschreibungen der Leib-Körper-Differenz, zu psychoanalytischen Fragestellungen sowie zur gegenwärtigen Kognitionsforschung. Den Auftakt bildet eine umfangreiche medizingeschichtliche Studie des jüngst verstorbenen Frankfurter Philosophen Alfred Schmidt zu den philosophischen Ärzten des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie macht nicht zuletzt deutlich, wie eng Medizin und Philosophie als „Wissenschaften vom Menschen“ noch bis ins 19. Jahrhundert hinein verflochten waren: „Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein“, schrieb Ernst Platner 1772 in seiner „Anthropologie für Aerzte und Weltweise“, „er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, ebenso wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese.“

Wie sehr die Auffassung vom Körper nicht einfach der „Natur“, sondern philosophischen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen entspringt und ihrerseits auf sie zurückwirkt, war das große Thema Michael Foucaults, der in seiner „Geburt der Klinik“ (1963), einer „Archäologie des ärztlichen Blicks“, wie es im Untertitel heißt, herausarbeitet, inwiefern sich erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts jene naturwissenschaftliche, medikalisierte Auffassung vom Körper herausbilden konnte, mit der wir es bis heute zu tun haben. Die Metaphysik des Übels weicht dem rationalen Umgang mit objektivierbaren Körperdaten, in die nun auch der sichtbare Tod als Bezugssystem des Individuums eingezeichnet ist. „Keine andere Disziplin ist der alle Menschen tragenden anthropologischen Struktur so nahe wie die Medizin, die den Menschen seiner Endlichkeit überführt.“ (A. Schmidt)

Die Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Lebens wird seit dem 19. Jahrhundert ausdrücklich von dem Versuch begleitet, ihr medizinisch die Stirn zu bieten, durchaus mit überwältigenden Erfolgen: Dank Antibiotika, Chirurgie und Intensivmedizin sind zum ersten Mal seit Menschengedenken heute die Lebenden in der Überzahl. Der Tod scheint so zusammen mit der Vergangenheit und der Geschichte die Macht über uns zu verlieren oder, wie man vielleicht präziser sagen sollte, verlieren zu sollen. Analog dazu hat die Unterwerfung des lebendigen Leibes unter die Konstruktionsmacht der Diskurse eine nicht enden wollende Flut an Körperbildern hervorgerufen, die in der postmodernen Auffassung kulminieren, wonach Körper grundsätzlich nicht geboren, sondern gemacht werden. „In der Gegenwart tritt das Phänomen hinzu, dass der Leib in den digitalen Kommunikationsmedien als sinnlich erfahrbares Gegenüber überhaupt verschwindet. Bezogen auf digital miteinander kommunizierende Menschen wird er zu einer Randerscheinung“ (Chr. Weckwerth), zu einem diskursiv erzeugten Ensemble von Bildern und Zeichen.

Die Entdecker der philosophischen Bedeutung menschlicher Leiblichkeit gehören nicht von ungefähr in das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der großen Absage an den Idealismus wie der Versuche, den damit freigesetzten Materialismus philosophisch fruchtbar zu machen, zu verorten, aber auch, die „absolute Physik“ (Schopenhauer), die jede Form von Ethik ausschließen würde, in seine Schranken zu weisen. Anders formuliert, wird der „Leib“ philosophisch dort virulent, wo er als gelebte kulturelle Selbstverständlichkeit im Bild vom Körper zu verschwinden droht. Die dezidierte Hinwendung zu den vielfältigen Dimensionen leiblicher Existenz, zu dem, was ich je schon bin, ohne es gemacht zu haben oder überhaupt machen zu können, entfaltet sich also erst in der Spannung zu idealistischen Überhöhungen des Menschseins oder seiner Schematisierung in Form naturalistischer Körpermodelle.

So steht nach Schopenhauer der Mensch, also jeder von uns, der Welt nicht allein „vorstellend“ gegenüber, sondern ist zugleich leibhaftig in sie hineingestellt und von ihr berührt, durch Schmerz oder Lust, Schrecken oder Attraktion. Würde sich die Welt in ihrer intellektuellen Vorgestelltheit erschöpfen, bliebe sie ein bedeutungsloses relationales Gefüge, in das wir wie Gespenster hineingestellt wären. In einer gewissen Nähe zu heutiger Terminologie könnte man sagen, dass wir uns zugleich in einer ersten und einer dritten Person gegeben sind, in einem ,Dasein-für-mich‘ wie in einem ,Dasein-für-andere‘, welche beide in der leiblichen Existenz eine Verbindung eingehen und somit auf die Notwendigkeit gegenseitiger Vermittlung verweisen, ohne die das eine blind, das andere leer bliebe: „Die Vorstellung der Innen- und Außenwelt bilden sich parallel, fortschreitend – wie rechter und linker Fuß“ (Novalis).

So ist dem sensualistisch-phänomenologischen Ansatz Feuerbachs gemäß das ,Dasein für mich‘ für einen anderen Menschen zunächst überhaupt nur über den leiblichen Ausdruck zugänglich: „Das Äußere setzt das Innere voraus, aber nur in seiner Äußerung verwirklicht sich das Innere“. „Das Wesen (die Eigenart) des Menschen fällt ‚ohne, ja wider dein Wissen und Willen in die Sinne‘, es zeigt sich im Gang, in Haltung und Gebärde wie im Blick“ (Chr. Weckwerth). Hier liegt der Keim nicht nur für den Dialog, sondern auch für soziokulturelle Prozesse, wie wir es etwa in der Philosophischen Anthropologie bei Arnold Gehlen wiederfinden, der die Tatsache hervorhebt, dass Schopenhauer der erste war, der „in das Zentrum der Philosophie die reale Handlung des Leibes stellte“.

In diesem Spannungsfeld, das nicht zuletzt durch die abgründige Divergenz zwischen der molekularbiologischen Kartografie der Körperdaten, dem wissenschaftlich nicht greifbaren individuellen Selbstgefühl und dem großen ethischen Vakuum unserer technogenen Gegenwart aufgerissen wird, vermag die Leibphilosophie in ihrer nachdrücklichen Hinwendung auf die faktische Erscheinung des Menschen in einer geschichtlichen Welt Unschätzbares gerade zu aktuellen Fragestellungen beizutragen. Gerade weil sie nicht, wie die Wissenschaft, auf „Zugriffe“ und „Lösungen“ aus ist, sondern, wie Merleau-Ponty es einmal formuliert, darauf, zu „sehen“, weil sie ein unermüdliches Herumgehen ist an den Rändern des Daseins, an den Ambiguitäten der faktischen Existenz, die ins Dunkle reichen, in Zwischenbezirke, die die einfachen Entscheidungen verwehren. In ihren ebenso präzisen wie unspektakulären Herangehensweisen und ihrem über fast zwei Jahrhunderte gewachsenen Vokabular liegen Einsichten bereit, die die akademische (das heißt zunehmend analytisch geprägte) Philosophie gerade erst zu entdecken beginnt.

Dem vorliegenden Band kommt nicht zuletzt das große Verdienst zu, einen Brückenschlag zwischen philosophischen Richtungen herzustellen, deren Berührungspunkte bislang weder wirklich ausgelotet noch systematisch entfaltet wurden: der Schopenhauerforschung, der Philosophie Ludwig Feuerbachs und der Phänomenologie. War ein solcher Brückenschlag bislang durch eine sich in die gegenwärtige Phänomenologie fortpflanzende Abneigung eines Edmund Husserl oder Martin Heidegger gegen Schopenhauer oder, was Feuerbach betrifft, „durch politisch-ideologische Vorbehalte erschwert“, mag sie mit der in Vielem irreführenden Besetzung Nietzsches (und seiner Vorgänger) durch postmoderne Lesarten zu tun haben oder einfach damit, die Provenienz gewisser Sachfragen zu monopolisieren: Der Einbezug der entscheidenden ideengeschichtlichen Weichenstellungen, wie sie bei Schopenhauer und Feuerbach vorliegen, verleiht der Phänomenologie des Leibes ein geschichtliches Rückgrat, das ihrem „inchoativen“ und oft etwas hermetischem Charakter die Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Logos abverlangt. Umgekehrt können die phänomenologische Diskussionen um die Leib-Körper-Differenz, wie sie etwa von Merleau-Ponty und Michel Henry (in Frankreich) und von Hermann Schmitz oder Bernhard Waldenfels in Deutschland geführt werden, mit ihrem subtilen Vokabular, in dessen Mitte der Versuch steht, die die Neuzeit charakterisierende Dichotomie von Subjekt und Objekt zu überwinden, einiges zur Ausbuchstabierung einer Problematik beitragen, die sich in dem erkenntnistheoretischen Begriffskorsett des 19. Jahrhundert eher zu verdecken als zu entdecken drohte.

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Matthias Koßler / Michael Jeske (Hg.): Philosophie des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
285 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826048524

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