Die Fallgruben des Anachronismus

Richard Faber untersucht die Figur des Intellektuellen vom Propheten Amos bis hin zu Josef Ratzinger

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht so sehr die Mehrzahl der einzelnen Beiträge zu diesem Band, aber die Einleitung des Herausgebers Richard Faber arbeitet sich unter anderem an der These vom Ende des Intellektuellen ab, die seit den 1980er- (von Jean-François Lyotard) und verstärkt seit den 1990er-Jahren neben die oder an die Stelle der gewohnten Auseinandersetzungen um Intellektuelle, Pseudo- und Anti-Intellektuelle, und deren Kritik und Selbstkritik getreten ist. Diese Kontroversen sind so alt wie die Intellektuellen selbst, und die unnachsichtig tönende Selbstkritik und Selbstinfragestellung haben schon immer zum Gestus des auf eigene Rechnung öffentlich reflektierenden und provozierenden Intellektuellen gehört.

Ist es deshalb nicht einfach nur eines dieser so prinzipiell klingenden Streitthemen mehr, wenn nun auch geradezu dessen historisches Ende behauptet wird? Ist es mehr als rhetorische Hyperbolik, mit der die Intellektuellen ihr Publikum und sich selbst gelegentlich in Aufregung versetzt und geärgert, immer aber bestens unterhalten haben? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man den in großer Zahl vorliegenden neueren Untersuchungen und Sammelbänden[1] sowie den gewundenen und sehr improvisierten Gedankengängen des Herausgebers folgt. Ein Intellektueller aber, so darf man vermuten, der das heute unermüdlich kolportierte Klischee vom Ende der Intellektuellen in vollem Ernst übernimmt, ist selbst gewiß keiner. Und ist es wirklich mehr als eine aus der Reihe der Todsagungen, für die man sich immer auf das Begriffsgespenst der sogenannten „Postmoderne“ beruft, mit dem theoretische Dünnbrettbohrer seit Jahrzehnten haarscharf an den wirklichen Problemen vorbeizielen und das inzwischen doch nur noch komisch ist: das Ende der Ideologien, das Ende der Utopie? Doch damit haben der Herausgeber und die insgesamt zwölf Autoren, die Faber für die Mitarbeit an diesem Band gewonnen hat, dann auch weiter gar nichts im Sinn.[2] Aber sie machen sich eines anderen problematischen Verfahrens schuldig, das schon erheblich älter ist als die aktualistische These vom Ende des Intellektuellen. Sie begehen die Todsünde des Historikers, „die unverzeihlichste aller Sünden: den Anachronismus“ (Lucien Fèbvre), indem sie ganz unbekümmert das Konzept auf die gesamte Geschichte auszudehnen und anzuwenden entschlossen sind – mangels geeigneter Exempel nicht gerade seit Adam und Eva, aber sage und schreibe von den Propheten des Alten Testaments (Jürgen Ebach), von der griechischen Polis und der römischen Republik (Francesca Vidal, dazu Bernhard Kytzler über Cicero), dem Apostel Paulus (Wolfgang Stegemann) und dem hochmittelalterlichen Philosophen Ramón Llull (nochmal die katalanische Philosophin Francesca Vidal) bis zu Hans Magnus Enzensberger (Andreas U. Sommer) und Ralf Dahrendorf, dem „Gelehrten-Intellektuellen“ (Gangolf Hübinger), ehe – des Staunens ist kein Ende – der Theologe Hermann Häring, vor Jahrzehnten einmal Mitarbeiter Hans Küngs in Tübingen, auf nahezu dreißig Seiten in vollem Ernst die Frage umkreist, ob nicht auch Josef Ratzinger …

Es gibt für Häring durchaus so etwas wie einen „religiösen Intellektuellen“, aber unser Benedikt erweist sich im Laufe der strengen Prüfung dann doch als ein hoffnungsloser Fall. Wissen wir aber, ob er den Titel überhaupt gewollt hätte, ob er ihn hätte wollen können? Vielleicht hätte er sich geschämt; denn im Vatikan hat man schließlich noch Begriffe mit festen Konturen. Eigentlich schade, denkt man sich dennoch: Wenn man in Berlin schon die Semantik so großzügig über die Jahrtausende verstreut, hätte man ruhig auch ihm etwas davon abgeben können …

Doch im Ernst: Begriffe, deren historische Geltung einfach ausgedehnt wird, weil man in der Vergangenheit allerlei damit eingemeinden will, was einem auch sonst lieb und teuer ist oder ,interessant‘ scheint (oder auch verhasst: je nach Standpunkt), drohen ihre semantischen Grenzen zu verlieren und fangen bald an, alles und nichts zu bedeuten: wie wenn in einer Bruchzahl gleiche Faktoren in Zähler und Nenner herausgekürzt werden können, ohne dass sich der Wert der Zahl dadurch ändert. Semantik entsteht durch Negation, erst wenn ich weiß, was ein Begriff nicht bedeutet, beginne ich seine Bedeutung zu erfassen, weil ich deren Grenzen kenne. So hat man auch durch Überdehnung seiner Geltungsbehauptungen den (wohl verstanden) nützlichen Ideologie-Begriff seiner Grenzen beraubt und zur kleinen Münze eines moralistischen Ressentiments heruntergewirtschaftet, und der Begriff der Aufklärung wird denselben Weg gehen, wenn man nicht aufpasst; er scheint inzwischen zur Staatsdoktrin der Berliner Republik promoviert und wird auch von Politikern in den Mund genommen, die damit weder Lessing noch Rousseau, sondern vielleicht doch eher ,Kläranlagen‘ meinen, deren Bau in ihrem Wahlkreis so schöne Bestechungsgelder eingebracht hat …

Und wenn man immer schon in jedem noch so entfernten historischen Kontext, der einem ,interessant‘ erscheint, „Intellektuelle“ am Werk sieht, wird es auch mit diesem Begriff bald zu Ende sein. Dieses durch mangelndes Alteritätsbewusstsein entstehende Dilemma, und nicht der postmoderne Diskurs oder etwa der Eindruck von der Undurchschaubarkeit der Welt und der Unlösbarkeit der Probleme und Krisen, ist die größte Gefahr für die Konturen eines Konzepts vom Intellektuellen. Die Mehrzahl der Menschen, geschweige denn der Medienbenutzer, hatte schon immer diesen Eindruck, und der Intellektuelle spielte noch nie die Rolle des Allwissenden. Aber in der Klärung oder Entlarvung des Undurchschauten in konkreten Situationen und Konflikten hatte und hat er sein Betätigungsfeld, natürlich in Konkurrenz mit seinesgleichen wie mit den Gegnern seiner Rolle. Überhaupt handelt es sich beim Intellektuellen um eine öffentliche Rolle, die wie alle Rollen auf Erwartungen, Anlässe und Situationen bezogen ist und das Handlungsspektrum, geschweige denn die Identität einer Person keineswegs erschöpft. Einmal Intellektueller, immer Intellektueller – das dürfte sehr selten (gewesen) sein: ein Aspekt des Intellektuellenkonzepts, der meist, wie auch im vorliegenden Band, viel zu wenig beachtet wird. Ein anderes, hier wie auch sonst zu wenig berücksichtigtes Thema ist die Frage der Sprache bzw. der Rhetorik des Intellektuellen. Sie dürfte in ihren verschiedenen Artikulationsformen wie Kritik und Selbstkritik, Streit und Polemik, Satire und Ironie als ein distinktives Merkmal heute vielleicht noch aussagekräftiger sein als früher.

Natürlich lässt sich eine essentialistische Begriffsfixierung als eine ernsthafte Alternative auch nicht, oder noch weniger, vertreten: die Bestimmung des „Wesens“ einer Sache, die man von einer sogenannten „Grundbedeutung“ in der Wortgeschichte oder gar der Etymologie ableitet. Man denkt an Heidegger und den popularisierten Einfluss seiner Praktiken, die freilich älter sind, als was man dort finden kann, und sehr viel weiter verbreitet, meist ganz ohne Berufung auf Martin Heidegger. Auch die Annahme eines historischen Paradigmas, einer „Urszene“ in einem übertragenen, nicht mehr streng psychoanalytischen Sinn, kommt einem Essentialismus sehr nahe. Hier ist es die auch von Dietz Bering (2010) nach wie vor vertretene und ausführlich dokumentierte Auffassung von der „Geburt des Intellektuellen“ aus Anlass der Dreyfus-Affäre in Frankreich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, mit Émile Zola („J’accuse!“: Offener Brief am 13. Januar 1898 in Clemenceaus Zeitung L’Aurore) als einem Intellektuellen der ersten Stunde.

Was aber dann gegenüber der falschen Alternative von Essentialismus beziehungsweise Urszene versus Anachronismus, also Rückprojektion auf beliebige Epochen und Figuren, bleibt, ist einzig: kontrollierte, reflektierte historische Empirie. Dabei ist jedoch noch eine weitere Unterscheidung zu treffen: nämlich die zwischen Begriffsgeschichte und Wortgeschichte.[3] Denn selbstverständlich muss historische Empirie fragen dürfen, ob Bedeutungen in der Vergangenheit vor Dreyfus und dem Aufkommen des Wortes „Intellektueller“ zur Sache des Begriffs gehören. Dass ein Autor, etwa Voltaire oder Friedrich Schlegel, Heinrich Heine oder Karl Marx, zeitgenössisch nicht als solcher bezeichnet wurde, kann keineswegs alleine schon als ein Argument gegen seine faktische Rolle als Intellektueller gelten – dann eben avant la lettre.

Ausgehend vom Begriffsverständnis des 20. Jahrhunderts, das das Konzept bis heute geprägt hat, geht es also um das Studium des Sprachgebrauchs bei der Bezeichnung von Autoren und Rollen, die diesem Begriff mehr oder weniger genügen, mit dem Wort „Intellektueller“ oder ohne es. Die Suche nach epochenspezifischen Äquivalenten der Benennung vor Einführung des heutigen Terminus ergibt sich daraus als ein wichtiges Forschungsthema für ein Studium des Intellektuellen jenseits von Anachronismus, Essentialismus und einer hinderlichen, eben bloß bezeichnungsgeschichtlich relevanten Fixierung auf eine Urszene erst um 1900. Wenn von der Notwendigkeit des Ausgangs vom heutigen Begriffsverständnis die Rede ist, dann deshalb, weil es sich offenbar um ein eher neuzeitliches Konzept handelt – inwiefern, ist natürlich die Kernfrage der Sach- und Begriffsgeschichte, über die hier nicht gehandelt werden kann.

Diese Perspektive des 20. Jahrhunderts schließt aber nicht vor vorneherein aus, den Begriffs- und Wortgebrauch und seine Traditionen auch zurückzuverfolgen, auf ältere Epochen auszudehnen. Auch in einzelnen Aufsätzen des vorliegenden Bandes wird deutlich, welche wertvollen Detailergebnisse durch solche hypothetischen, experimentellen Suchbewegungen zutage gefördert werden können: etwa in dem Beitrag des schon erwähnten Andreas U. Sommer über Diderot und Enzensberger, von Wolfgang Eßbach über verschiedene Marx-Bilder sowie in zwei besonders überzeugenden Beiträgen: Peter Jehle über Antonio Gramsci und Jean-Paul Sartre und Olaf Briese über den Intellektuellen als Apokalyptiker. Wenig ergiebig, gewissermaßen nur anachronistisch, sind dagegen die Projektionen, die Perdita Ladwig italienischen Renaissance-Humanisten wie Alberti, Pontano und anderen gegenüber vornimmt. Um hier zu diskutablen Ergebnissen zu gelangen, genügen keine kurzen biografischen Skizzen, vielmehr müsste weitaus spezifischer gefragt werden.

Es ginge also um eine methodisch kontrollierte Heuristik, die ohne Tabus, aber mit geschärftem Bewusstsein von den tödlichen Gefahren des Anachronismus nach älteren Rollenbildern des sich öffentlich artikulierenden Gebildeten bzw. Gelehrten fragt, stets revisionsbereit und mit deutlichem Nachdruck auf dem hypothetischen Charakter solcher Fragen. Selbst ein in der hier vertretenen Sicht so hochproblematisches Unternehmen wie der bekannte Band über „Intellektuelle im Mittelalter“ scheint gerade durch die schrille Konfrontation mit dem modernen Konzept die Diskussion über den Philosophen der sogenannten Scholastik (wenn auch wohl nicht diejenige über den Intellektuellen) vorangebracht zu haben.[4]

Der Berliner Sammelband ist davon im Grunde nicht weit entfernt: Man ist von der „bleibenden Aktualität“ des Intellektuellen überzeugt. Aber es fehlt das Gefahrenbewusstsein gegenüber den anachronistischen Fallgruben, und es kann daher von methodisch kontrolliertem, reflektiertem Vorgehen kaum die Rede sein. Unter diesem Aspekt wirkt das Unternehmen Fabers unsystematisch und eher planlos und wenig sorgfältig (erspart hat man sich auch ein Register). Erstaunlich z. B. auch das gänzliche Fehlen des (selbst)kritischen Konzepts vom Intellektuellen in den Zwängen der „Kulturindustrie“ bei Theodor W. Adorno und der Frankfurter Schule oder das Unterbleiben der Frage nach dem Intellektuellen unter den heutigen Bedingungen einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche: Was bleibt vom Intellektuellen, der gezwungen ist, bei seinen öffentlichen Interventionen verstärkt nach der „Kohle“ zu fragen, die sie einbringen? Soll er sich von einem Konzern ,sponsern‘ lassen? Auch die beliebte ,Kapital‘ -Metaphorik bei Bourdieu, einem anderen einflussreichen Theoretiker der Intellektuellen, müsste in diesem Zusammenhang einmal kritisch unter die Lupe genommen, und es müsste gefragt werden, ob beim Reden über „intellektuelles Kapital“ nicht die Metapher nur verdoppelt, was eigentlich kritisch analysiert – und das heißt ja immer auch aufgedeckt – werden soll. Unverständlich ist schließlich auch das Schweigen von einem so instruktiven Modellfall wie Bendas „Verrat der Intellektuellen“ von 1927, dessen deutsche Ausgabe erst 1978 (!) erschienen ist, mit einem Vorwort von Jean Améry, der im gleichen Jahr seinem Leben ein Ende gesetzt hat.[5]

Indem Benda den Intellektuellen als „clerc“ bezeichnet (was die ansonsten gute deutsche Übersetzung nicht transportieren kann), dokumentiert er doch, neben allem anderen, was er zu sagen hat, wie wenig selbstverständlich auch noch im frühen 20. Jahrhundert die heute so geläufige Benennung gewesen ist und wie sinnvoll es überhaupt ist, sich nicht von einer einmal durchgesetzten Bezeichnung, einem ,bloßen‘ Etikett also für einen Begriff und seine Sache gefangennehmen zu lassen und, wie etwa Bering es in ganz unbegründeter Selbstgewissheit tut, die Verwendungsgeschichte immer nur dieses Etiketts zu verfolgen.

[1] Ungefähr seit Jean-François Lyotard: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers. Paris: Éditions Galilée 1984, deutsch: Grabmal des Intellektuellen. Wien, Graz: Böhlau 1985. 2., überarb. Aufl. Wien: Passagen Verlag 2007. Aus deutscher Sicht vor allem Dietz Bering: Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt – Begriff – Grabmal. Berlin: Berlin University Press 2010, darin die wichtigste, auch internationale, Literatur. Es handelt sich bei der umfangreichen Untersuchung um eine Erweiterung von: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart: Klett-Cotta 1978.

[2] Dem vorliegenden Band soll in Kürze ein weiterer folgen mit dem Titel Intellektuelle und Antiintellektuelle im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Richard Faber und Uwe Puschner, und beide Sammlungen gehen zurück auf eine von Faber organisierte Ringvorlesung im Sommersemester 2010 an der Freien Universität Berlin.

[3] Die analytische Trennung von Sachgeschichte, Begriffsgeschichte und Wortgeschichte ist ein konstitutives Prinzip aller Artikel des neu konzipierten Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (3 Bde., De Gruyter 1997-2003), mit einem unerhörten Klärungspotential für den Umgang mit Begriffen, wie ein längerer Blick in jeden dieser Artikel sofort an den Tag bringt.

[4] Vgl. Jacques LeGoff: Les intellectuels au Moyen Âge, zuerst Paris 1976; deutsch Stuttgart 1986. Ähnlich auch der vor Jahren von Jutta Held herausgegebene Band: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. München: Fink 2002.

[5] Julien Benda: La trahison des clercs. Paris: Grasset 1927 (auch 1946, 1975). Die deutsche Übersetzung von Arthur Merin unter dem Titel: Der Verrat der Intellektuellen. München, Wien: Hanser 1978 (Reihe Hanser 234). Zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang auch eine Lektüre der Rez. des Materialien-Bandes 9 (2008) der Werke von Jean Améry von Jan Süselbeck in: literaturkritik.de Nr. 5, Mai 2008.

Titelbild

Richard Faber (Hg.): Was ist ein Intellektueller? Rückblicke und Vorblicke.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
236 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826044205

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