Hochphilosophische Kunstkomik

Thomas Kapielskis Ton wird höher, sein Witz ätherischer. Doch bleibt „Neue sezessionistische Heizkörperverkleidungen“ extrem unterhaltsam und geistreich

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein anderer deutschsprachiger Autor glänzt im Genre hochphilosophischer Kunstkomik heller als Thomas Kapielski. Seine collagierenden Montagen von Alltagsbeobachtungen und Gedankensplittern der Kunsttheorie oder der – oft antiken oder kirchenväterlichen – Philosophie leben von einem unvergleichlichen Sinn für die Verbindung des Abständigen. Kapielskis logbuchartige Prosaglossen beruhen auf seinem gelenkigen Sprachgefühl, das seinen Gedankenflügen von zart bis derb ihren modulationsreichen Ausdruck ermöglicht. In seinem neuen Suhrkamp-Band findet der Sprach-, Bild- und Konzeptkünstler zunehmend Gefallen an altertümlichen Worten. Wodurch seinen komischen Texten, die aus dem Kontrapunkt zwischen Trivialfotografien, begriffsgeschichtlichem Wissen und pointensicher fabuliertem Anekdotenschatz Funken schlagen, eine weitere Ebene hinzugefügt wird. Kapielskis sprachliche wie gedankliche Altertümelei verspricht zumindest für den gebildeten Leser, a fortiori für den Philologen, köstliche Lesefrüchte.

Diese Art der lustigen Hirnakrobatik, die geistesschnell zwischen abendländischer Höhenkammtradition und populärer, ja proletarischer Direktheit und Bierseligkeit changiert, gedeiht wohl nur in urbanen Kontexten, die dem volkstümlichen Diskurs der Eckkneipe so nahe stehen wie akademischen Theoriedebatten. Kapielski ist in seinen grenzüberschreitend universaldilettanischen Kunstwerkereien – trotz Vorliebe für fränkische Braukunst und trotz temporärer Braunschweiger Kunstpädagogik-Professur – ganz und gar ein Produkt der Westberliner Bohème.

,Wurstwasser‘ (oder: Darmwasser) auf Latein: „Aqua Botulus“, hieß ein Band Kapielskis, der erstmals vor 20 Jahren im kleinen Maas Verlag erschien und seit dem Jahr 2000 durch einen Nachdruck im Zweitausendeins Verlag weitere Verbreitung fand. Auf jeder Seite bot das obere Drittel ein Schnappschuss-Foto. Die Fotos zeigten meist Abbilder von Kuriositäten und Hässlichkeiten aus dem Großstadtalltag, welche in emblematischer Weise mit pointiert komischen Bildunterschriften versehen waren. Unter den tristen Schwarzweißfotos liefen die logbuchartigen Reflexionen des Gesamtkünstlers. Diese Texte schweiften von kleinen, vermeintlich trivialen Gegenwartsbeobachtungen mittels artistischer Sprachkunst zu den ersten und letzten Dingen. Schon hier fanden sich Fotos, die mittels emblematischer Unterschrift als ,Heizkörperverkleidungen‘ ausgewiesen wurden. Sie zeigten die Motorhauben von Sportwagen der Mantaklasse, die mit zusätzlichen Luftschlitzen aufgemotzt waren. Diese Vierer-Serie der Motorhaubenluftschlitze (der in „Aqua Botulus“ weiter hinten noch ein Trabbi mit abgeklebter Fensterscheibe nachfolgte als ,Heizkörperverkeidung >Ost<‘) erinnerte ein wenig an die strenge Architekturfotografie von Bernd und Hilla Becher. Doch besaßen diese Schnappschussreihen über die schlichte Schönheit ihrer subkulturellen Motivwahl und über ihre morphologische Dokumentationsfunktion hinaus den komischen Mehrwert ihrer poetischen Bildunterschrift, die den geneigten Betrachter und Leser zum Denken, zum Assoziieren und Lachen einlud.

Im jüngsten Buch Kapielskis dient die ästhetisch wie funktional gewiss fragwürdige Idee der Heizkörperverkleidung (näher spezifiziert als ,sezessionistisch’ abtrünnige, mithin avantgardistische) nun als Titel unter dem gut 100 Fotos und Kurztexte versammelt wurden – denen es im übrigen nie wirklich (aber um zwei Ecken gedacht vielleicht doch immer auch) um Heizkörper geht. In seiner Arbeit als bildender Künstler mit stark konzeptkünstlerischem Einschlag hatte das Berliner Universalgenie 2002 auch schon eine Zeichnung von einer solchen sezessisonistischen Heizkörperverkleidung vorgelegt (vgl.: auf Kapielskis Homepage).

Im jüngsten Band seiner bildunterstützten Prosareflexionen schreibt der Essayist nunmehr kompakter und formbewusster als je zuvor. Jeder Text ist eine gute Seite lang. Und auf jeder zweiten Seite findet sich ein Schwarzweiß-Foto, das architektonische Formen (im weitesten Sinne) festhält: von Bettkissen bis zu Wolken, viele Straßenansichten, gelegentlich Kircheninterieurs, öfters Blicke aus Zugfenstern oder U-Bahnen. Kapielksi gibt sich in seinen Notaten zunehmend als Konservativer, der an den Moden der Kunst und der Politik spöttisch zweifelt. Er echauffiert sich als Freidenker; er wütet (in hohem Ton) als Anarchist, dem Ökologie, Vegetarismus und political correctness ein Graus sind. Sein Lob des einfachen Lebens liebäugelt auch mit Gott, dem Herren, als Hüter der Erde und des Himmels (und dies nun scheinbar weniger ironisch als in seinen beiden berühmten Merve-Bänden voller anekdotischer Grenzerfahrungen, die als ,Gottesbeweise‘ überschrieben waren):

„Dort hinzufinden, vermag nicht jeder. Die zu Lebzeiten himmelsfern blieben, treiben jene unebenen und liebesspröden Schläge und Schatten aus, die sich in Seelendüsternis zerreißen und noch mehr saufen als Horaz, Grabbe und ich zusammen! Uns freilich verzückt und läutert der Trunk! Wie Wonneschauer reißt es uns hinauf, wenn wir ihm aus Tassen opfern! Die trüben mögen drunten bleiben! Goethe, der sich auf steilste Gipfel zu zechen verstand, wußte ebenfalls Bescheid: ,Gott, wenn wir hoch stehen, ist alles; stehen wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit.‘ – So umsäumen mich, neben Gottesfurcht drei, nein vier Ranken in Gestalt schlichter Auszeichnungen, nebst Zierrat und Kordeln, als da sind: Abiturium, Magister artium, Diplom rer.nat. und Freischwimmer.“

Wie hier in exquisit gewählter Sprache der Alkoholismus theologisch überhöht wird, wie der eigene Lebenslauf und die Lebenskunst mit Goethe hinauf und zum Freischwimmer hinunter stilisiert wird, das macht den in seinem Spätwerk immer abgeklärter dichtenden Kapielski zum herausragenden Rhapsoden deutscher Zunge. Ein in seiner Vielschichtigkeit beispielhafter und vollkommener Text, der wie eine aphoristische Achterbahnfahrt durch Metaphysik, Familien-, Kunst- und Geistesgeschichte wirkt, steht exakt in der Mitte dieser 220 Seiten. Als Kostprobe wollen wir hier ausführlicher aus dieser Meditation Kapielskis zitieren; nicht zuletzt, weil ihr Ende so olympisch gelassen wirkt, als stamme sie vom altersweisen Goethe, der in diesem Buch übrigens häufiger vorkommt als in Kapielskis früheren Logbüchern:

„Einem furchtsamen Menschen, beteuert Aristoteles, wüchse feines Haar, so wie dem Hasen, dem scheuen Reh; grobes, drahtiges Haar wüchse mutigen Menschen, so wie dem Eber, dem Büffel, dem Wombat. […] Der Gott der Genesis wußte noch die wahren Namen der Dinge. Goethe wußte, daß die Phänomene die Dinge selbst seien und weiter nichts dahinter. Mich wollte eine Mathematik entzücken, der alles eignete nach Satzung und Regel, bloß das Gleichheitszeichen nicht; das sollte probehalber bis auf weiteres getilgt sein. […] Wenn man mir, was vorkommen soll, die Pistole auf die Brust setzte und mich zur Entscheidung zwänge zwischen Aristoteles und Platon, dann täte ich mich schleunigst für den ersteren entscheiden. Das Maß will mir tauglicher scheinen als Schattenspiel. Täuschung und Maßlosigkeit bleiben ja dennoch verfügbar. Meine Zeichnungen freveln bisweilen gegen die Wahrheit, nie aber wider die Schönheit und lieber auch wider diese als jene! – Welcher Affekt trägt eigentlich den Verriss Neo Rauchs unter Fachleuten, da er doch sonst alle verzückt? Das möchte ich mal wissen! Keiner sagt mir was, obwohl über ähnliche Gegenstände die Rede rege zu sein pflegt. Vielleicht verdrießt sein Erfolg beim Volk? – Als mein Vater vor Zeiten gestorben war, lag er aufgebahrt daheim, und ich steckte ihm heimlich Charons Fährgeld unter die Zunge, den Obolus, womit er würde zahlen können, denn selbst unter Toten lebe die Habsucht, wußte ich von Apuleius. In die hintere Hosentasche seines Sonntagsanzugs gab ich ihm noch ein silbernes Kreuz in die Brieftasche; das sollte die Götter wider den Atheisten gnädig stimmen, oder notfalls verhandelbar sein als wie ein Silberling. – Denn Geld ist das stehende comparationis aller Menschen und Dinge! Meine Mutter, die ein Jahrzehnt später starb, wurde aus Umweltschutzgründen vor der Einäscherung nach Metallen und körperfremden Materialien ausgeforscht und durfte allein in ein genehmigtes Leichenhemd gekleidet werden. Ich mußte sie ganz geplündert und verlassen hingeben. Aber ich wußte ihr mit besserem Zauber, mit Fürbitten und Andenken, zu helfen. – Da ich ohnehin nichts bis auf den Grund begreifen kann, sitze ich öfters in Heiterkeit nur so da und lassen den Dingen ihren Lauf. Dann winken sie mir heimlich!“

Kapielskis Werke wurden von der Literaturkritik als ein großer, fortgeschriebener Bildungsroman bezeichnet und in ihrer motivisch abschweifenden doch moralhaltigen Anlage auch mal als Widergänger der evangelischen Predigt begriffen. Von Seiten der Literaturwissenschaft wurden sie bisher ignoriert. Dabei sind ihre kunsttheoretischen Reflexionen wie ihre sprachkünstlerische Performanz für philologische Exegesen gewiss ergiebig. Fraglos steht diese essayistische, aphoristische, anekdotenselige, tagebuchartige Prosa quer zu herkömmlichen Gattungen. Doch gilt eine solche narrative Reflexionsprosa bei weniger humoristischen Autoren (von Peter Handke über Botho Strauss bis zu Alexander Kluge) als willkommene Herausforderung zeitgenössischer Literaturforschung. Während das Werk eines essayistisch erzählenden Autors wie Alexander Kluge als das eines scheinbar weitgehend ernsten Künstlers und Theoretikers zwischen den Medien intensiv beforscht wird, dichtet und denkt, malert und musiziert sein artistisch-komisches Pendant, als das man Kapielski auffassen könnte, von der Germanistik bisher unbemerkt. Hier liegt eines der dringlichsten unter den vielen Desideraten einer systematischen, gattungstypologischen, intermedialen und literaturgeschichtlichen Erforschung komischer Gegenwartsliteratur.

In Kapielskis Werk verdichten sich so witzig wie gebildet, so reflektiert wie artistisch alle wirkmächtigen Hybridisierungsprozesse der zeitgenössischen Literatur: Der Berliner Gesamtkünstler betreibt die intermediale Grenzüberschreitung der Künste zwischen Wort, Bild und Klang. Er forciert die Vermischung von ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis. Er adressierte die multikulturelle Herausforderung – und als Berliner verhandelte er (vor allem in seinen „Gottesbeweisen“) auch die intra- oder interkulturellen Friktionen der deutsch-deutschen Trennungs-und Vereinigungsgeschichte.

Wenn die Epoche um 1800 als „Goethe-Zeit“ mit dem Namen eines herausragenden Denkers und Universalkünstlers bezeichnet wurde, so begreift man unsere Epoche um 2000 wohl am gründlichsten, wenn man sie als „Kapielski-Zeit“ erkennt. In seinem jüngsten Buch wurde der 1951 geborene Autor dem alten Weisen in Weimar und seinem zu Aphorismus und Allegorie neigenden Spätstil der „Wanderjahre“ und des „Faust II“ immer ähnlicher. Mithin verbindet diese beiden epochalen deutschen Dichter weit mehr als ein exorbitantes Trinkvermögen. Sein Weg von Berliner Kleinstverlagen über den Merve Verlag und Zweitausendeins in die edition suhrkamp weist den Weg. (Oder war es umgekehrt? Zog nicht Suhrkamp zu ihm und den Seinen – Nach Berlin?) Wir sind gespannt, wann die Werkausgabe im Klassiker-Verlag erscheint.

Titelbild

Thomas Kapielski: Neue sezessionistische Heizkörperverkleidungen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
213 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126806

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