Der Anfang des visuellen Zeitalters

Das Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum zeigt die Sammlung Gernsheim. Der Katalog präsentiert, was es dabei zu entdecken gibt: den Anfang der Fotografiegeschichte

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Eröffnung der Mannheimer Ausstellung ging bereits durch die Medien, was es hier zu besichtigen gibt, nämlich nichts weniger als den Anfang der Fotografie: Was auf den ersten Blick wie eine stark verfärbte Metallplatte aussieht, ist die erste Fotografie in der Geschichte der Menschheit. Belichtet wurde diese Aufnahme um das Jahr 1826, also etwa zehn Jahre, bevor Louis Jacque Mandé Daguerre, der als Erfinder der Fotografie gilt, sein Verfahren entwickelt. Ihr Urheber: der Franzose Joseph Nicéphore Niépce, der sein Experiment Heliografie nannte, Sonnenschrift. Ihr Gegenstand: ein „Blick aus dem Fenster in Les Gras“. Belichtungszeit: acht bis zehn Stunden. Und zu sehen ist beinahe nichts. Schatten vielleicht oder Anmutungen dessen, was es über den halben Tag damals in Les Gras zu sehen gab.

Im Jahr 1952 fanden Helmut und Alison Gernsheim dieses fotohistorische Dokument in einem Londoner Nachlass, mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem Niépces Aufnahme das letzte Mal, 1898, im Kristallpalast in Sydenham gezeigt worden war. Gut zehn Jahre später ging dieses Dokument mit der damaligen Sammlung Gernsheim an die University of Texas at Austin. Heute wäre das ein Politikum, in den 1960er-Jahren hingegen wurde die Tragweite dieses Verkaufs nicht wahrgenommen. Ein Verlust für Europa, in der Tat, und ein Gewinn für die USA, die sich eh als deutlich fotoaffiner erwiesen hatten als der alte Kontinent. Eine Sammlung von 35.000 Fotografien samt Forschungsbibliothek und Korrespondenz wanderte nach Texas. Für Europa blieb, was Gernsheim auch noch nach dem Tod seiner Frau und Kollegin Alison gesammelt hat, rund 5.000 Fotografien, die schließlich 2002 von der Curt-Engelhorn-Stiftung, Mannheim, erworben wurden. In der Sonderausstellung im Reiss-Engelhorn Museum Mannheim sind nun 250 ausgewählte Exponante aus beiden Sammlungen zu sehen.

Es liegt nahe, dass der Katalog sich intensiv mit der wohl größten Entdeckung der Gernsheims beschäftigt, der Heliografie Niépces aus dem frühen 19. Jahrhundert. Suche, Fund und vor allem die fotografische Auswertung der Platte ziehen die größte Aufmerksamkeit auf sich. Das Portal von der Vorzeit der Fotografie zu ihrer Realisierung muss immer wieder und mehrfach durchschritten werden.

Dass heutige Betrachter überhaupt erkennen können, dass es etwas auf der Platte wahrzunehmen gibt, liegt vor allem an den Anstrengungen Helmut Gernsheims, der sich in Zusammenarbeit mit dem Kodak Forschungslabor daran gemacht hatte, erkennbar zu machen, was dem Betrachter nur verschwommen vor Augen steht.

Herausgekommen ist der schemenhafte Blick auf einen Innenhof, auf Turm und Wirtschaftsgebäude, die – aufgrund der langen Belichtungszeit – von beiden Seiten von der Sonne beschienen werden. Ein Bild mithin, das von der Anstrengung zeugt, festzuhalten, was sofort wieder vergeht.

Insofern ist Niépces Heliografie noch weit entfernt von der visuellen Kultur der Gegenwart, weit entfernt vom iconic turn, aber der „Blick aus dem Fenster in Les Gras“ ist davon aller Anfang.

Denn auch wenn es zuvor bereits ein visuelles Medium gab, die Malerei samt Varianten, und auch wenn die Verwandtschaft zwischen den visuellen Medien größer ist als oft zugegeben, mit der Fotografie beginnt der Versuch, die flüchtige Gegenwart festzuhalten, den Durchgriff von der Wahrnehmung auf die Basis der Existenz selbst zu versuchen. Es ist die Authentizität, mit der die Fotografie so eng verbunden ist und der sie so häufig widersprochen hat. Für die Medienkritik der 1970er-Jahre bis in die Gegenwart ist die Fotografie nicht Signum von Wahrhaftigkeit, sondern Medium von Täuschung und Verführung.

Und dennoch, die Fotografie kommt immer wieder auf ihren Kern zurück: Die Fotoreporter der 1920er-Jahre sahen in ihr das Sigle auf die Wahrheit und Echtheit dessen, was sie schilderten. Und noch ein Rainald Goetz versucht in seinem „elfter september 2010“ (siehe literaturkritik.de 10-2010) dem echten Leben mit der Fotografie auf die Spur zu kommen. Vergeblich zwar, wie bei allen Versuchen zuvor, aber dennoch brechen diese Versuche nicht ab. Denn das Sichtbare steht für das Wahre, auch wenn eine Fotografie, wie bereits Bert Brecht wusste, von der Realität nichts auszusagen wusste.

Das sagt über die Frage, ob die Fotografie als Kunstform der Malerei oder der Literatur ebenbürtig ist, nichts aus. Das Bemühen Helmut Gernsheims um die Fotografie diente allerdings nicht einer professionellen Selbstaufwertungsstrategie – zumindest nicht nur (und wenn, wäre dies Gernsheim auch nicht übel zu nehmen). Gernsheims Publikationen und Initiativen zielen auf eine Archäologie des modernen Mediums Fotografie. Als Fotograf stammt Gernsheim offensichtlich aus dem Neuen Sehen, der Neuen Sachlichkeit (die sich allerdings in der bildenden Kunst in Verismus und Magischen Realismus aufteilt) – in seinen Stellungnahmen und Bewertungen sucht er jedoch nach dem Kurzschluss des Realen mit dem Medium, wie nicht nur an den Beiträgen des Bandes abzulesen ist, sondern auch an den knappen Zitaten, die der Mitherausgeber Claude W. Sui aus dem Werk Gernsheims den ausgestellten und aufregend zurückhaltend präsentierten Fotografien beigibt.

Die Fotoreportage als politischer und moralischer Auftrag, die Fotografie als Ausdruck der Person des Fotografen und der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Gelegentlich ging, wenn dies mit aller Zurückhaltung formuliert werden darf, Gernsheim die Distanz zum Medium als Medium verloren. Zumindest aber lässt sich daraus ein Kunstverständnis destillieren, das an einem der avanciertesten Medien der Moderne noch einmal die Unausweichlichkeit des Subjekts demonstrieren will. Das ist als Strategie durchaus nachvollziehbar, aber eben auch gefährlich, um nicht zu sagen wenig aussagekräftig oder genau das Gegenteil: jede Kunstauffassung transportiert eben auch – offen oder verdeckt – ihren sozialen Standpunkt und ihre These zur Gesellschaft (was, zugegeben, kein eigener Gedanke ist, sondern unverhohlener Brecht).

Die Fotografien, die in Mannheim zu sehen und die im Band abgedruckt sind, bestätigen die etwas getragenen Kunstanschauungen der Texte nicht. Gernsheims Interesse für Strukturen und für die klare Raumaufteilung von Fotografien ist deutlich zu erkennen. Form, Farbe (auch ihre Abwesenheit), Struktur und Kontrast sind das, was an Fotografie interessant ist. Dass die moderne Farbfotografie fehlt, die sich in den 1970er-Jahren durchzusetzen beginnt, wundert hingegen kaum. Helmut und Alison Gernsheim waren Protagonisten der hohen Zeit der Fotografie, vielleicht vor ihrem Durchbruch als Kunst und vor ihrer Musealisierung. Aber in jedem Fall zu einer Zeit, in der sie sich in der Gesellschaft durchzusetzen vermochte, als private Äußerungsform wie als Versuch, die Gegenwart zu dokumentieren. Was Helmut und Alison Gernsheim zusammengetragen haben, zeugt von außergewöhnlicher Kennerschaft und ist zweifelsohne grandios, nicht nur weil die allererste Fotografie dabei ist. Deshalb bleibt vor allem eins: Leute, schaut euch diese Fotografien an.

Titelbild

Claude W. Sui / Alfried Wieczorek (Hg.): The Birth of Photography. Highlights of the Gernsheim Collection.
Kehrer Verlag, Heidelberg 2012.
304 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783868283303

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