Kafkas „Schloss“ neu gelesen
Matthias Schusters Analyse der Handschrift erweitert den Interpretationshorizont
Von Marcel Schmid
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMatthias Schusters Studie zu den Handschriften von Franz Kafkas letztem Romanfragment „Das Schloss“liefert Quellen- und Interpretationsarbeit zugleich. In minutiöser Analyse werden die zahlreichen Unterschiede zwischen der Handschrift und den Leseausgaben herausgearbeitet. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Resultate dieser Arbeit auch die Interpretation zum „Schloss“ beeinflussen. Die meisten bisherigen Interpretationen folgen Ausgaben, welche auf der Arbeit Max Brods basieren.
Brod „vollendet“ die Handschrift zur Druckvorlage, da er zum Teil massiv in die Handschriften eingreift. Er glättet sie, indem er löscht und ergänzt. Schuster fügt sich in die Reihe der Brod-Kritiker ein, welche die Editionsarbeit keineswegs als kongeniale Ergänzung zur Arbeit des Autors sehen. Anhand von Kafkas „Schloss“ zeigt Schuster nun auf, dass durch Brods Glättungen das Fragmentarische, die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten auf der Strecke bleiben. Da die meisten Interpretationen auf Brods Quellenarbeit basieren, liefet Schuster eine neue Interpretation des Romanfragments gleich mit. Da die Faksimile-Ausgabe der Handschrift zum „Schloss“ noch aussteht, wird mit den Originalhandschriften aus der Bodleian Library in Oxford gearbeitet.
Die Studie führt somit schön ins Feld, wie untrennbar Quellenanalyse und Interpretation sind. Im ersten Teil der Arbeit wird unter anderem diese Verflechtung theoretisiert. Dabei geht der Autor nicht nur detailliert auf Brods Streichungen und Ergänzungen ein, sondern auch auf die Geschichte interpretatorischer und editionsphilologischer Theorie. Während die Problematisierung von Leseausgaben wichtige editionsphilologische Fragen wie zum Beispiel die Diskussion um die Notwendigkeit von Faksimile-Ausgaben in Erinnerung ruft, hätte die Aufarbeitung der Geschichte der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik – der Überblick reicht von Johann Martin Chladenius bis hin zu Friedrich Schleyermacher – knapper ausfallen dürfen. Gleichzeitig beeindruckt Schusters Analyse mit einer Vielzahl von Interpretationsangeboten, von denen die Kafka-Forschung künftig profitieren wird. So wird „Das Schloss“mit Fragen nach erzähltheoretischen, autoreferentiellen, dramaturgischen, ethischen und soziologischen Implikationen durchdrungen. Besonders aufschlussreich ist Schusters Interpretation allerdings dort, wo sie „Das Schloss“ narratologisch und editionsphilologisch analysiert.
Am Beispiel der editionsphilologischen Überlegungen zum „Schloss“ zeigt sich, wie sehr die Leseausgabe sinnstabilisierend wirkt. Die Streichungen und Auslassungen in Kafkas Handschrift werden dabei schlicht ignoriert. Dabei geht Entscheidendes verloren, denn die Leseausgaben „berauben auf unzulässige und editorisch veraltete Weise Kafkas Literatur ihrer Sprengkraft […]. Kafkas Handschriften widersetzen sich Kategorien und Begriffen der Literaturwissenschaft.“ So wird zum Beispiel der Anfang des „Schlosses durch Brod deutlich markiert, obwohl gerade der Anfangspunkt in den Handschriften problematisch ist. Im Leseband der Kritischen Kafka-Ausgabe Malcolm Pasleys ist das sogenannte „Fürstenzimmerfragment“ – eine Art Prolog zum Romanentwurf – in den Apparatband verbannt, obwohl dieses Fragment „räumlich wie inhaltlich in engstem Zusammenhang steht“ und in geradezu idealer Weise einen sinnvollen Anfangspunkt markieren könnte. Da diese editionsphilologische Kritik an der sinnstabilisierenden Arbeit durch Brod und Pasley auch die Interpretation beeinflusst, könnte sie zu strukturalistischer oder posthermeneutischer Kritik an klassischen Interpretationsverfahren führen. So schreibt Schuster, dass die Interpretation klassische Muster verlässt, denn „Kafka tilgt Eindeutigkeiten durch Streichung, um Polyvalenz und Polysemie zu entfesseln.“ Dennoch bleibt Schuster grundsätzlich der Hermeneutik treu, obwohl zum Beispiel formalistische Positionen (Michail Bachtin und Gérard Genette) bezüglich der Erzähltheorie sehr wohl mitgedacht werden.
Die Erzählperspektive ist denn auch ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit. Schuster stellt fest, dass die Erzählperspektive des „Schlosses“ keinesfalls einheitlich ist. Die von Kafka zunächst gewählte Ich-Perspektive wandelt sich im Laufe des Schreibprozesses in die Er-Perspektive. Somit wird ein aussenstehender Erzähler eingeführt, der mit einem Einblick in die Innenwelt der Figuren ausgestattet ist. Darüber hinaus stellt die Arbeit dar, inwiefern sich in Kafkas Handschrift unterschiedliche Stimmen und die Rede verschiedener Figuren vermischen und durchdringen.
Aus der Vielzahl von Uneindeutigkeiten, die sich in der intensiven Relektüre der Handschriften wieder eröffnen, lässt sich mit Schuster schließen, dass „Das Schloss“ als eine Versuchsanordnung des Erzählens zu betrachten sei, „in welcher dessen Grundkonstanten wie Variabeln ständig verändert werden.“ Deshalb legt Schuster überzeugend dar, dass die Form der Leseaufgabe „in ihrer Linearität und Abgeschlossenheit“ nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht höchst problematisch, sondern auch allgemein „für Kafkas Roman unangemessen“ ist.
Schuster ist eine umfassende Analyse gelungen, die auch die Faszination von Kafkas Erzählen jenseits jeglicher editorischer Linearisierung hervorhebt. So problematisiert Kafkas Erzählen „in autoreferentieller Weise sich selbst und seine Voraussetzungen – und macht den Leser durch ostentative Brüche der Erzählebenen und Dehnungen hierauf aufmerksam.“ Das ist nicht nur ein starkes Votum für eine Auseinandersetzung mit den Handschriften, sondern auch für eine Interpretationsbasis in Form der einzufordernden Faksimile-Ausgabe.