Literreur
Hans-Jürgen Schings untersucht in drei „Revolutionsetüden“ den Einfluss der Französischen Revolution auf Schiller, Goethe und Kleist
Von Johannes Schmidt
Die Bedeutung der Französischen Revolution für die europäische Kulturgeschichte steht außer Frage. Und niemand wird bezweifeln, dass auch die deutsche Literatur um 1800 sich immer wieder zu den Ereignissen in Frankreich positionieren musste. Im Gegenteil, dieser Umstand ist so anerkannt und selbstverständlich, dass er geradezu in Vergessenheit gerät. Entsprechendes attestiert Hans-Jürgen Schings in Hinblick auf die aktuelle Schiller-Forschung. Von der löblichen Ausnahme Walter Müller-Seidel („Friedrich Schiller und die Politik“, 2009) abgesehen, beschäftige man sich heute eher mit Schiller dem Spieler als mit Schiller dem Politiker.
Natürlich kann man gegen solche Befunde einwenden, dass auch in der Wissenschaft Trends kommen und gehen, dass große Themenkomplexe alle paar Jahre von anderen abgelöst werden, bis sie irgendwann wieder in den Vordergrund rücken – man könnte aber auch fragen, warum das eigentlich so ist, und ob es nicht viel besser wäre, wenn das Gesamtbild präsenter wäre, und alle Aspekte gleichermaßen betrachtet würden.
Diese Überlegungen sind selbstverständlich nicht Ausgangspunkt der drei „Revolutionsetüden“, die Schings nun vorlegt. Aber bezüglich Schiller (dem die erste Studie gewidmet ist) hält er doch daran fest, dass man den staats- und verfassungsrechtlichen Theoretiker nicht vergessen darf – zu groß sind seine Anteile am Gesamtwerk des Dichters. Und so macht er sich daran, Schiller an die Revolution heranzuführen, über die er in all der Zeit, in der er sie beobachtet, so gut wie kein Wort verliert. So einig man sich darüber ist, dass Schiller vom Sympathisanten zum Kritiker der Revolution wird, so oberflächlich nimmt man dieses Faktum hin. Schings hakt an ebendieser Stelle nach: Wie genau reagiert Schiller auf die immer gewalttätiger werdenden Ereignisse, wie schlagen sie sich in seiner Publizistik nieder? Und vor allem: Welche Kenntnisse hat er überhaupt von den Vorgängen in Paris?
Zu diesem Zweck hat Schings ein Mittel gefunden, das in der Forschung bisher eher selten genutzt wurde: den „Moniteur“, die große französische Zeitschrift der Revolutionsjahre, die die interessierte Öffentlichkeit in Deutschland genau gelesen hat. In langen Passagen referiert er, was das Publikum an Informationen gewinnen konnte, und damit auch, was Schiller über die Revolution wusste. Die Sitzungsprotokolle des Konvents, Reden und Pamphlete, alles wurde zugänglich gemacht. Entsprechend tief waren die Einblicke, die Schiller in die verfassungsrechtlichen Vorgänge tun konnte. Das aufklärerisch-staatstheoretische „Projekt Posa“, wie Schings es nennt, beschäftigt den Dramatiker und Historiker nicht von ungefähr in den Jahren ab 1787. Ob „Don Karlos“, der „Abfall der vereinigten Niederlande“, die Antrittsvorlesung zur Universalgeschichte oder die Arbeit über die „Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ – Schillers Interessen liegen bei der Verfassungsgebung, der Befreiung von fremder Herrschaft und der Neukonzeption seines Geschichtsverständnisses genau in dem Moment, in dem in Frankreich all dies praktisch vollzogen wird. Und so verwundert es nicht, dass der politische Aufklärer große Hoffnungen in die Revolution setzt: Sie hat das Potential, all das umzusetzen, was er programmatisch entworfen hat – solange sie dem Marquis Posa folgt und nicht dem Spartaner Lykurg.
Die Katastrophe zeichnet sich ab dem September 1792 ab. Erst kommt es zu den Septembermassakern, dann streitet die Revolution um den Prozess des Königs, den sie nach kurzem Ringen im Januar 1793 schließlich auf das Schafott schickt. Schiller muss erkennen, dass Saint-Just und Robespierre nicht den Weg einschlagen, der ihm vorschwebt, sondern Paris in ein neues Sparta des Lykurg zu verwandeln beginnen. Die Perversion der Tugend zum Terror ist das Mittel, mit dem die Jakobiner ihre Vorstellung eines aufgeklärten Staats verwirklichen wollen. Schiller kann das nicht mehr gutheißen, und er reagiert mit den Briefen über die ästhetische Erziehung. In ihnen propagiert er ein Konzept, das Freiheit durch Freiheit erzielen will, und nicht durch Terror. Der ästhetische Staat, der am Ende der Schrift aufleuchtet, lässt sich nur gegenüber der revolutionären Vorgänge richtig verstehen, so Schings, denn hier wird deutlich, dass der Staatstheoretiker Schiller nur mit der Hilfe des Ästhetikers eine Zukunft für seine Modelle sieht: Im Angesicht der Schreckensherrschaft vermag nur noch das Ideal des Schönen zur Freiheit zu führen.
Die Argumentation, die Schings hier vorlegt, ist schlüssig und ergiebig. Der Rückgriff auf den „Moniteur“ erlaubt fundierte Aussagen über den Einfluss der Revolutionsereignisse auf Schillers publizistische Tätigkeiten. Gleichzeitig vermag so der Mantel des Schweigens gelüftet zu werden, den der Dichter selbst über seine Einstellung zur Revolution breitete.
Das Ergebnis – der Wandel vom interessierten Befürworter zum entschiedenen Gegner – ist natürlich nicht neu. Aber die Methode, die auch schon Müller-Seidel anwandte, um Schillers Haltung zu Napoleon aufzudecken, wird hier gewinnbringend benutzt und trägt dazu bei, altbekannte Ansichten zu untermauern und aus einer neuen Perspektive zu beleuchten, die dazu einlädt, die staatstheoretischen Ideen Schillers gründlicher zu betrachten. Dass darüber hinaus neue Deutungsaspekte erschlossen und interessante Details geliefert werden, vermehrt nur den gewinnbringenden Gehalt des Textes.
Zwar macht die Schiller-Studie gut zwei Drittel der „Revolutionsetüden“ aus, aber wie der Untertitel „Schiller – Goethe – Kleist“ andeutet werden auch andere Autoren unter die Lupe genommen. Die beiden je gut dreißig Seiten langen Aufsätze zu Goethes „Natürlicher Tochter“ und Kleists „Hermannsschlacht“ lagen (im Unterschied zu dem Text über Schiller, der aus einer Vortragsskizze ausgearbeitet wurde) schon in der einen oder anderen Vorform vor. Sie arbeiten etwas konventioneller als die vorangehende Abhandlung, schöpfen aber aus dem gleichen profunden Wissen über die Französische Revolution. Schings verweist auf Parallelen und historische Vorlagen, etwa wenn er aufzeigt, dass die Gewaltdarstellungen im dritten Akt der „Natürlichen Tochter“ den zeitgenössischen Rezipienten an die ähnlich grausame Ermordung der Prinzessin von Lamballe im Zuge der Septembermassaker erinnern musste. Diesen zeitgeschichtlichen Reflex nimmt er als Anlass um zu erläutern, inwieweit die Revolution tiefere Spuren in Goethes Werk hinterlassen hat, als bisher angenommen.
Ähnlich geht auch der Aufsatz über Kleist vor, etwa wenn er auf Zitate aus der „Marseillaise“ aufmerksam macht: „Die Marseillaise im Munde eines germanisch-deutschen Freiheitskämpfers gegen die Franzosen und Napoleon – verdrehter und vergifteter könnte die Pointe kaum sein.“ Kleist, so wird argumentiert, findet im Terror der Revolution den Anlass für die Grausamkeit, die er in die Welt seiner Werke hineinträgt, nutzt sie aber auch für seine Ideen und Zwecke. Auf brillante Weise macht er sich die Mitleid verachtende Argumentation der Revolutionäre zu eigen, wenn es gilt, mitleidlos gegenüber dem postrevolutionären Feind zu sein.
Ohne Frage – der Schwerpunkt der „Revolutionsetüden“ liegt (schon rein quantitativ) auf der Beschäftigung mit Schiller. Tatsächlich erweist sich diese Studie als besonders ergiebig, schlägt sie doch neue Wege ein, um ein bekanntes Thema wieder ins Gedächtnis der Forschung zu rufen und ihm andere, interessante Seiten abzugewinnen. Sie strahlt aber auch, vor allem in Form der gewonnenen Kenntnisse über die Revolution, auf die beiden anderen Arbeiten aus, die so dafür plädieren können, die Auswirkungen der Ereignisse in Frankreich auf die deutsche Literatur neu zu bewerten: nämlich als sehr viel tiefergehend als bisher angenommen.
Dass die drei Untersuchungen auch völlig unabhängig voneinander funktionieren, zeigt sich schon in ihrer bewussten Trennung. An keiner Stelle wird auf andere Erwägungen des Bandes verwiesen, zentrale Textzeugnisse werden mehrfach zitiert und kontextualisiert. Man mag das als störend und überflüssig abtun, es sichert aber die Eigenständigkeit der jeweiligen Arbeiten, sodass sie auch für sich wahrgenommen werden können. Bei den „Revolutionsetüden“ handelt es sich eben nicht um eine Monografie, sondern – die Anspielung auf Chopin hat durchaus ihren Sinn – um kleine Stücke, die neue Kenntnisse vermitteln und neue Methoden vorschlagen wollen. Beides gelingt ihnen.
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