„Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“

Axel Winzers neue, ‚ganz große‘ Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm

Von Armin ErlinghagenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Erlinghagen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erschienen erstmals in den Jahren 1812 und 1815 in zwei Bänden, enthaltend 86 beziehungsweise 70 Märchen, eine Vorrede der Herausgeber zu jedem der beiden Bände und Anmerkungen zu den einzelnen Texten im Anhang eines jeden Bandes. Die Ausgangslage der aktuellen, von Axel Winzer herausgegebenen Edition der „Kinder- und Hausmärchen“ und das gewählte editorische Verfahren lassen sich nur vor dem Hintergrund der Text- und Publikationsgeschichte dieses erfolgreichsten literarischen Werks in deutscher Sprache beurteilen.

Wenn jüngst, 200 Jahre nach dem Erscheinen jenes Bändchens, das Ende 1812 unter dem Titel „Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm“ (im folgenden: KHM) veröffentlicht wurde, der berühmten, unterdessen zum UNESCO Weltkulturerbe beförderten Textsammlung gedacht worden ist, so sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es nicht die besagte Erstauflage der Grimm’schen Märchen von 1812/15 war, die ihre weltweite Verbreitung und ihren anhaltenden Ruhm begründete, sondern die nachfolgende Fassung der Märchensammlung, publiziert in sechs zwischen 1819 und 1857 erschienenen, kontinuierlich veränderten Auflagen.

Mit der 1. Auflage der Grimm’schen Märchen von 1812/15 war ein Titel, ein Programm formuliert, aber noch kein klar konturiertes publizistisches Konzept erkennbar geworden. Dieses nämlich schwankte anfänglich noch unentschieden zwischen den Zweckbestimmungen wissenschaftliche Dokumentation einerseits, populäres Hausbuch andererseits. Die zweite, 1819/22 erschienene, ‚vermehrte und verbesserte‘ Auflage der KHM bietet gegenüber der ersten konzeptionell Neues: Äußerlich unterscheidet sie sich von dieser darin, dass die in zwei Teilbänden publizierten Märchentexte, 161 an der Zahl, nun durchgehend nummeriert werden und der erweiterte wissenschaftliche Apparat in einem separaten 3. Band, erschienen 1822, veröffentlicht wird. Charakteristisch für diese wie für alle nachfolgenden Auflagen aber sind die weitreichenden und tiefgreifenden inhaltlichen Veränderungen, mit denen vor allem zwei Ziele verfolgt wurden: zum einen eine Auswahl der bekannt gemachten Märchen im Sinne des im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts sich ausprägenden ‚romantischen‘ Ideals einer letztlich auf mündliche Überlieferung zurückgehenden ‚Naturpoesie‘, zum anderen die redaktionelle Bearbeitung der Texte im Dienste der im Titel der Sammlung angezeigten Verwendung. In der Summe führten die besagten Maßnahmen zu einer durchgreifenden Revision des Textcorpus und einer Vereinheitlichung des dominierenden Erzählgestus. (Das Erkennungsmerkmal der sogenannten Gattung Grimm liegt nämlich weniger in der Einheit ihres literarischen Genres – die Sammlung enthält inhaltlich und formal disparate Texte unterschiedlichster Herkunft – als in der Gleichartigkeit des vorherrschenden Tons.)

Der Erfolg der gekennzeichneten Neukonzeption der KHM ist bezeugt durch deren zunehmenden ökonomischen Erfolg. Jedenfalls war sie wirksam genug, die nachfolgenden fünf Auflagen der ‚großen‘ wie auch die zehn Auflagen der begleitenden ‚kleinen‘ Ausgabe (1825-1858) ohne substantielle Änderungen zu überdauern. Irgendwann im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts muss der anfänglich schleppende Absatz der ersten, aber auch noch der zweiten Auflage in Bewegung geraten sein, so dass auf die dritte Auflage von 1837 in rascher Folge, 1840 und 1843, eine vierte und eine fünfte folgten und, nachdem auch der internationale Erfolge der KHM sich abzuzeichnen begann, in den Jahren 1850 beziehungsweise 1857, ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn der Sammeltätigkeit der Brüder Grimm, eine sechste und eine siebte Auflage sich anschlossen. (Die zweite Auflage des separaten Kommentars war ein Jahr zuvor erschienen.) Unzählige posthume Auflagen beider Ausgabenvarianten, vorzugsweise in den Fassungen Letzter Hand, bezeugen den nachhaltigen Erfolg der KHM, zahlreiche Übersetzungen, angeblich 160 an der Zahl, aber auch die Nachfolge gleichartiger Märchensammlungen in anderen Ländern, deren starke Wirkung und außerordentliche Verbreitung.

Der neuen, von Axel Winzer besorgten Edition der KHM mit dem Untertitel ‚Ganz große Ausgabe‘ liegt deren im Jahre 1843 erschienene 5., ‚stark vermehrte und verbesserte‘ Auflage zugrunde. Der Text seiner Edition folgt ‚wort- und zeichengetreu‘ der besagten Auflage, Ausgabe A. (ein modifizierter Neudruck dieser Ausgabe wird heute mit der Sigle B gekennzeichnet).

Die enthaltenen 194 Märchen des Haupttexts werden, dem Original folgend, proportional verteilt auf die Bände 1 (außer Widmung, Vorrede und Kurzadressen umfassend KHM 1-86) und 2 (umfassend KHM 87-194 & Kinderlegenden 1-9). Der 3. Band enthält in einem umfangreichen, chronologisch angeordneten Textteil die in der 5. Auflage nicht mehr oder noch nicht enthaltenen Märchentexte, 50 an der Zahl – mehrheitlich die aus der 1. Auflage ausgeschiedenen Texte –, daneben eine weitere Kinderlegende. Hinzu kommt eine Übersetzung der rund 20 enthaltenen Dialektmärchen ins Hochdeutsche. Der Anhang enthält neben diversen Materialien – Worterklärungen, Register sämtlicher wiedergegebenen Märchentexte, Bibliografie – ein umfängliches ‚Editorisches Nachwort‘ des Herausgebers, in dem unter anderem die Entscheidung für die Textgrundlage 5. Auflage gerechtfertigt und deren Charakteristika im Rahmen der skizzierten Textgeschichte dieser Auflage exemplarisch dargelegt werden. Abschließend wird das ein halbes Jahrhundert andauernde Publikationsprojekt KHM der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm in den Kontext vorangehender, gleichzeitiger und nachfolgender publizistischer Vorhaben anderer Herausgeber von Volkserzählungen gestellt. Die Kommentierung der Textsammlung im Anhang wird abgerundet durch eine Reihe älterer und neuerer Stellungnahmen von Schriftstellern und Kritikern zu den KHM.

Das außerordentlich hohe Niveau der wissenschaftlichen Erschließung der Grimm’schen Märchen in den Bereichen Edition, Kommentierung und historischer Erforschung der Texte bringt es mit sich, dass jeder Versuch, eine neue – eigenständige, unverwechselbare – Ausgabe der KHM herauszubringen, ein Wagnis darstellt. Hält man sich vorläufig an das Augenfälligste, die buchtechnische und -gestalterische Ausstattung der von Winzer herausgegebenen dreibändigen Ausgabe, so wird man dieser leichthin zubilligen können, dass sie mit ähnlichen Editionen, wie der von Heinz Rölleke im Reclam-Verlag herausgegebene dreibändigen Ausgabe der Fassung Letzter Hand (1980 u. ö.) – gemeint ist hier die gebundene Ausgabe – oder der von Hans-Jörg Uther im Verlag Eugen Diederichs 1996 herausgegebenen zweibändigen Ausgabe derselben Auflage, sich vergleichen lässt. Die äußeren Merkmale von Winzers Ausgabe in Stichworten: vorzügliche buchtechnische Ausstattung der in feines, dunkelblaues Leinen gebundene Bände; goldfarbene geprägte Lettern, Schutzumschlag mit ansprechenden Titelblättern nach Motiven einzelner Märchen von Jonathan Wolstenholme; gleichartig illustrierte, wenn auch wenig benutzerfreundliche, Kassette; Reproduktion je eines originalen Frontispizes im Vorspann zu den Bänden 2 und 3 beziehungsweise im Anhang zu letzterem; gute Druckqualität.

Doch die von Winzer besorgte Ausgabe will sicherlich nicht durch ihre bibliophilen Qualitäten allein überzeugen. Ohne eine wissenschaftliche Edition im Sinne der von Heinz Rölleke herausgegebnen Ausgabe der KHM 3. Auflage 1837 oder KHM 7. Auflage 1857 oder eine ‚Forschungsausgabe‘ im Sinne von Uthers Edition von KHM 2. Auflage 1819 sein zu wollen, stellt sie sich gleichwohl als eine wissenschaftlich fundierte Ausgabe dar. Im Falle der Konstitution der Texte, bei der aus gutem Grunde von einer Modernisierung der Orthografie und Interpunktion Abstand genommen wird, darf angenommen werden, dass die Textwiedergabe auf den unter der Adresse de.wikisource.org/wiki/Kinder-_und_Hausmärchen verfügbaren Digitalisisaten und ihrer durch zwei Korrekturgänge validierten OCR-Erkennung folgt, doch scheint, wie unter anderem die exakten Angaben des Herausgebers über die Differenz der Fassungen A und B der 5. Auflage bezeugen, die Konstituierung der Texte immerhin durch eine Autopsie der Originale gesichert worden zu sein.

Problematischer als die Textkonstitution erscheint die Entscheidung des Herausgebers für eine bestimmte Fassung der KHM, die 5., im Jahre 1843 erschienene Auflage. Folgt man weithin akzeptierten editionsphilologischen Grundsätzen, so ließe sich im Falle der Edition der KHM ohne weiteres eine Präferenz entweder der Fassung Erster Hand (1812/15) oder der Fassung Letzter Hand (1857) begründen, wenn auch in Folge der oben beschriebenen Revision der Sammlung im Übergang von der 1. zur 2. Auflage in diesem besonderen Falle die 2. Auflage (1819/22) mit einzubeziehen wäre. Scheidet man des Weiteren die 4. Auflage wegen ihrer gravierenden Textfehler, die 6. Auflage wegen ihrer geringfügigen Differenz zur Ausgabe Letzter Hand als Editionsvorlage aus, so wäre ein Wiederabdruck aller übrigen Auflagen mit gleichrangigen Gründen vertretbar. Die Präferenz der 5. Auflage, wie Winzer es tut, mit der größten Zunahme im Textbestand innerhalb der Bearbeitungsgeschichte der Grimm’schen Märchen zu begründen, erscheint mir, da diese im Übergang von der 2. Auflage zur jeweils nachfolgenden mit 11 beziehungsweise 10 beziehungsweise 16 zusätzlichen Texten nicht gravierend voneinander abweicht, ein wenig forciert. Plausibler erschiene mir die pragmatische Begründung, dass, weil von der 1., der 2, der 3. und der 7. Auflage bereits mehrere wissenschaftlich fundierte Ausgaben, in der Regel in gedruckter wie in digitaler Form, vorliegen und weil die 4. und die 6. Auflage aus den genannten Gründen ausscheiden, eigentlich nur die 5. Auflage als Grundlage einer weiteren Gesamtausgabe der KHM übrig bleibt.

Problematisch – auch irreführend – erscheint dem Rezensenten auch die Bezeichnung ‚Ganz große Ausgabe‘ im Untertitel von Winzers Ausgabe, um so mehr, als sie sich an Stelle des originalen Untertitels setzt. Schwerlich wird der Herausgeber sich dabei berufen können auf den in seiner Ausgabe enthaltenen ‚Anhang‘ solcher Märchentexte, die nur in vorangehenden oder in nachfolgenden Auflagen enthalten sind; ein solcher findet sich nämlich bereits sowohl in Röllekes Ausgabe der KHM, Ausgabe Letzter Hand (7. Auflage 1857) und, noch umfänglicher, in dessen Ausgabe der 3. Auflage (1837), als auch, diesen folgend, in Uthers Edition der Auflage Letzter Hand (7. Auflage 1857). Wenn aber in Winzers Edition die Anzahl der im Anhang enthaltenen Märchentexte, wie bereits in der genannten Ausgabe Uthers, ein wenig höher ist als in den genannten Editionen Röllekes, so ist dies allein darin begründet, dass in der betreffenden Ausgabe einzelne Märchen entweder Bestandteil des wiederabgedruckten Originalkommentars sind oder im Zuge der fortschreitenden Bearbeitung einzelne Märchentexte mit anderen so kombiniert (‚kontaminiert‘) worden sind, dass sie im Einzelfalle nicht mehr als selbständige Texte und unter dem ursprünglichen Titel erscheinen. Auch die beigefügte Übertragung der Dialektmärchen ins Hochdeutsche – im Einzelnen von unterschiedlicher sprachlicher Qualität –, rechtfertigt, so sehr sie als solche zu begrüßen ist, schwerlich den Untertitel ‚Ganz große Ausgabe‘. Eine Auszeichnung dieser Art – der Rezensent hält sie für überflüssig – käme nach meinem Urteil eher noch solchen Ausgaben zu, die neben dem Textkorpus sämtlicher Auflagen auch die originären Anmerkungen bieten, so wie es in Röllekes genannten Ausgaben der KHM 3. Auflage 1837 und 7. Auflage 1857 oder in der von Uther herausgegebenen Ausgabe Letzter Hand der Fall ist. Freilich ließe sich dagegen geltend machen, dass in einer Leseausgabe wie der Winzers die Mitteilung der unterdessen veralteten Dokumente entbehrlich erscheine und die parallele Benutzung eines aktuellen Kommentars, wie Uthers „Handbuch zu den KHM der Brüder Grimm“ (2008), sich eher empfehle. Der materiale Teil von Winzers ‚Anhang‘ jedenfalls kann einen solchen nicht ersetzen. Die vorhandenen Worterklärungen sind allzu dürftig; die begleitende Bibliografie entspricht nicht dem Niveau der übrigen Teile des Anhangs: Bei der Verzeichnung der sieben (seit der 3. Auflage so benannten) ‚Großen Ausgaben‘ werden Erstausgaben und Editionen nicht differenziert; bei der Verzeichnung der ‘Kleinen Ausgaben’ drei von zehn vorhandenen Ausgaben willkürlich ausgewählt, wobei nicht einmal die Ausgaben Erster und Letzter Hand genannt werden; die Auswahl der Forschungsliteratur tendiert im Falle der Titel jüngeren Datums zur einseitigen Bevorzugung der Schriften eines einzelnen, zweifellos verdienten, Märchen-Forschers gegenüber denen eines nicht minder verdienten anderen.

Bemerkens- und anerkennenswert ist Winzers editorisches Nachwort, das alles in allem überzeugt, weil es, soweit für den Rezensenten erkennbar, dem Stand der Forschung, jedenfalls der deutschsprachigen, entspricht, ohne dass die Ausführungen des Herausgebers an ein Fachpublikum allein adressiert wären. Die behauptete Sonderstellung der 5. Auflage indessen (von Uther übrigens mit ganz ähnlichen Argumenten für die 2. Auflage, KHM 2. Auflage 1819, geltend gemacht) hält, wie angezeigt, einer kritischen Prüfung nicht stand. Zwar trifft es zu, dass, sieht man von der umfassenden Revision der Sammlung bei Gelegenheit der 2. Auflage ab, im Übergang von der 4. zur 5. Auflage die meisten neuen Märchen hinzukommen; es ist aber nicht einzusehen, wie sich aus einem statistischen Befund dieser Art, einer graduellen Differenz, die Präferenz einer einzelnen Ausgabe herleiten ließe. Der Editor wird sich mit der Einsicht bescheiden müssen, dass zu jedem Zeitpunkt der Veröffentlichung einer einzelnen Fassung die jeweils aktuellste der Intention des Herausgebers/Redaktors am ehesten entspricht – es sei denn, die Entscheidung des Editors für eine bestimmte Fassung orientierte sich an dem extrinsischen Gesichtspunkt der sogenannten Authentizität der Texte. Unter diesem Aspekt mag er im Einzelfalle sogar der überlieferten handschriftlichen Fassung den Vorzug vor späteren, bearbeiteten Fassungen geben.

Es ist, so weit ich sehe, auch nicht nachweisbar, dass, wie von dem Herausgeber Winzer entweder angenommen oder suggeriert, die von Auflage zu Auflage fortschreitende Bearbeitung der Texte im Falle der 5. Auflage an Intensität gewonnen habe; dies gilt allenfalls für deren Verhältnis zur unmittelbar vorangehenden Auflage. Doch trifft es sich glücklich, dass der Herausgeber auf Grund besagter Prämisse sich veranlasst sieht, den Prozess der fortschreitenden Umarbeitung der Texte für ein bekanntes Märchens, „Hänsel und Gretel“, exemplarisch nachzuzeichnen – vielleicht die eigenständigste und überzeugendste Passage innerhalb des insgesamt reichhaltigen editorischen Nachworts des Herausgebers.

Mit seiner neuen Ausgabe von Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ hat Axel Winzer ein ästhetisch ansprechendes, im Textbestand gesichertes, reichhaltiges Werk vorgelegt. Den passionierten Leser der Grimm’schen Märchen werden die gebotenen Texte zufriedenstellen, dem historisch interessierten Laien wird das sachkundige Nachwort mancherlei Aufschlüsse bieten – eine Leseausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ für gehobene Ansprüche, sozusagen. Weitergehende Ansprüche an Winzers ‚ganz große Ausgabe‘ dieses bedeutenden literarischen Œuvres würden zu hoch greifen.

Titelbild

Kinder- & Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Ganz Große Ausgabe. 3 Bände.
Herausgegeben und mit einem editorischen Nachwort versehen von Axel Winzer.
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2012.
1424 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783861504597

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