„Ein poeta, der philosophiert.“

Eine textkritische Ausgabe der Gedichte Ernst Meisters sowie zwei Materialienbände sind erschienen

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Meister, Büchnerpreisträger des Jahres 1979, ist vor allem Gedichtlesern als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts bekannt – und er ist auch heute keineswegs ein kanonischer Autor; über weite Strecken seines Lebens musste er sich verkannt und wenig beachtet wähnen.

Dabei erschienen mehr als 20 Gedichtbände zu Meisters Lebzeiten, teils im Jahresabstand. Noch während des Theologie-, dann bald Philosophie-Studiums in Marburg, das Meister an die Heidegger-Schüler Karl Löwith und Hans Georg Gadamer heranführte, erschien unter dem Titel „Ausstellung“ 1932 in einem kleinen Marburger Verlag Meisters erster Gedichtband. Vielleicht für das gesamte Werk bezeichnend ist das Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“ entnommene Motto: „In der Tat ist das Leere unerschöpflich, nicht das Volle; aus dem Luftmeer ist länger zu schöpfen als aus dem Wassermeer; und dies ist eben die rechte schriftstellerische Schöpfung aus Nichts…“.

Der Urgrund von Meisters Schaffen ist die Leere, seine Texte sind existenzbeschwert und todesnah. Im ersten Gedicht „Monolog der Menschen“ des Debütbandes heißt es:

Im Nichts hausen die Fragen.
Im Nichts sind die Pupillen groß.
Wenn Nichts wäre,
o wir schliefen jetzt nicht,
und der kommende Traum
sänke zu Tode unter blöden Riesenstein.

Mit Meister trat erst in den 1950er-Jahren noch einmal ein Dichter der europäischen (Spät-)Moderne auf, einer, der die zur Tradition gewordenen, zum Klassischen zu zählenden Dichtungen von Rimbaud bis Benn genauestens studiert hatte und der diese Tradition bis ins letzte Jahrhundertdrittel in hohem Ton fortschrieb. In einem Gespräch hatte Meister geäußert: „Moderne Dichtung sei […] nur verständlich, wenn Tradition präsent sei, die ganze Tradition wohlgemerkt.“ Damit ist keineswegs so etwas wie moderne Epigonalität gemeint. Klaus Mann etwa zeigte sich vom Erstling „Ausstellung“ begeistert und hob auf Meisters Eigenständigkeit ab – im Unterschied zu vielen jungen Lyrikern, die sich zu sehr am Expressionismus, an Rilke oder an George orientierten.

Gottfried Benn galt offenbar Meisters besondere Wertschätzung. 1957 publizierte Meister ein den Titel von Benns letztem Band aufnehmendes Gedicht namens „Après-Aprèslude“:

Ah, nun ein Evergreen,
Efeulied, Benn in den Schlaf,
danke verbindlichst, und jetzt…

eine Rosenphalanx.

Benns zitierende Negation des vom Vater überkommenen Luthertums ist Meister nicht fremd:

Totsein an und für sich
nicht erfahrbar dem Ich.
Worte vom Vaterhaus
sind mir genehm.

Der lebenslang von Dissoziationserlebnissen sowie weiteren psychischen und physischen Problemen gepeinigte Meister hielt sich zunächst als kleiner Angestellter in der Firma seines Vaters finanziell über Wasser, die beiden letzten Lebensjahrzehnte verbrachte er als freier Schriftsteller, dessen Ruhm sich sehr gemächlich einzustellen begann. Seinem akademischen Lehrer Karl Löwith schrieb er bereits 1949: „ich hoffe, das einzige, was ich wurde, weil ich es war, zu bleiben: ein poeta, der philosophiert.“

In den fünfziger Jahren zählte Meister zum Kreis um Hans Bender und Victor Otto Stomps’ Eremiten-Presse, wo auch Gabriele Wohmann und Christoph Meckel erste Bücher publizieren konnten. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde er über die Grenzen seiner westfälischen Heimat hinaus bekannt, der junge Nicolas Born wandte sich Rat suchend an ihn. 1961 verglich Wieland Schmied anlässlich des im Titel Novalis zitierenden Bandes „Zahlen und Figuren“ Meister mit Paul Celan, dessen Band „Sprachgitter“ fast zeitgleich erschienen war. Eine weitere wichtige Lebensstation war der Gewinn des Petrarca-Preises, zusammen mit Sarah Kirsch, im Jahr 1976.

Der letzte, in Meisters Todesjahr 1979 erschienene Band „Wandloser Raum“ erschien mit einer beachtlichen Startauflage von 2.200 Exemplaren und erlebte im Zuge der posthum erfolgten Büchnerpreisverleihung noch im selben Jahr eine zweite Auflage.

Die späten Gedichte wie etwa die im Band „Im Zeitspalt“ versammelten leben von einer Sprache diszipliniertester Verknappung. Oft sind es beinahe einzelne Stichworte, die Meisters Texte konfigurieren. Mit Paradoxie und Wortspiel als rhetorischen Figuren nähern sie sich dem Aphoristischen an, das mystisch-theologische Wurzeln nicht leugnet, doch den Gestus der Hoffnungslosigkeit pflegt:

Und was
will diese Sonne
uns, was

Springt
aus enger Pforte
jener großen Glut?

Ich weiß
nichts Dunkleres
denn das Licht.

Das letzte Gedicht in „Wortloser Raum“ schließlich lautet:

Spät in der Zeit
wirst du sagen,
du seist

ein Mensch gewesen.

Du sagst es nicht,
kannst es nicht sagen –
du sagst es jetzt.

Die anlässlich des 100. Geburtstages 2011 erschienene Edition sämtlicher Gedichte sowie die umfassend informierende, bebilderte Lebenschronik gehen ebenso wie der zwei Jahre vorher erschienene Materialienband aus der von Stephanie Jordans geleiteten Ernst-Meister-Arbeitsstelle an der RWTH Aachen hervor, die der vor allem als Celan-Herausgeber bekannte Axel Gellhaus im Jahr 2000 ins Leben gerufen hatte. Ein großartiges Projekt hat nun vor allem in Gestalt der in jeder Hinsicht überzeugenden textkritischen und reich kommentierten Ausgabe der Gedichte seinen Abschluss gefunden.

Die fünfbändige gedruckte Ausgabe mit den weit über 1.000 Seiten der drei Textbände und den zusammen nochmals über 1.000 Seiten umfassenden ergänzenden Bänden mit editorischem Apparat und ausführlichem Kommentar wird durch die online zugängliche Edition aller hand- und maschinenschriftlichen Textzeugen in Gestalt von Image-Digitalisaten ergänzt. Unter http://ema.germlit.rwth-aachen.de findet der interessierte Leser nicht nur Informationen über das Ernst-Meister-Archiv und das nun abgeschlossene Editionsprojekt, sondern er kann sich zu jedem einzelnen Gedicht einen Einblick in die mitunter langwierige und komplex anmutende Textgenese verschaffen. Die Leser von Meisters Handschrift sind jedenfalls nicht zu beneiden. Am besten benutzt man die Digitalisate zusammen mit dem Apparatband. Vorsorglich sei erwähnt: Zugänglich sind die (passwortgeschützten!) digitalen Materialien nur für diejenigen Interessenten, die die gedruckte Edition zur Hand haben.

Gewiss: der Leser der chronologisch letzten maschinenschriftlichen Textzeugen, mutmaßlich also der Druckvorlagen der Gedichte, bekäme bei open access einen mehr als flüchtigen Eindruck von Meisters Texten – Buchverkäufe wären dennoch kaum gefährdet, da nur spezialisierte wissenschaftliche Nutzer überhaupt auf die Idee kommen dürften, die Digitalisate zu konsultieren. Kurz: die Freischaltung der Materialien für die Öffentlichkeit wäre wünschenswert. Sie ersetzen weder die angesichts ihres Umfangs und ihrer Vorzüge durchaus preiswerte fünfbändige Ausgabe des Wallstein Verlags noch die übrigen derzeit lieferbaren Bände Meisters, die, von einem Suhrkamp-Bändchen abgesehen, nun im Rimbaud Verlag erscheinen.

Über den in Münster aufbewahrten Nachlass, aber auch über Meisters umfangreiches und zu Lebzeiten ebenfalls erfolgreiches bildkünstlerisches Werk informiert der Materialienband. Die anlässlich von Ernst Meisters 100. Geburtstag erschienene textkritische und kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte ist eine gelungene philologische wie literarische Großtat. Den Bänden sind zahlreiche Leser zu wünschen, ihrem Autor noch viel mehr Publizität als bisher.

Titelbild

Karin Herrmann / Stephanie Jordans (Hg.): Ernst Meister - Perspektiven auf Werk, Nachlaß und Textgenese. Ein Materialienbuch.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
237 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305670

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Karin Herrmann / Stephanie Jordans: Ernst Meister. Eine Chronik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
182 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307872

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Axel Gellhaus / Stephanie Jordans / Andreas Lohr (Hg.): Ernst Meister. Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
2436 Seiten, 198,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307926

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