Konservativer Rebell

Rolf Hochhuth bilanziert „aphoristisch“ sein Jahrhundert: „Was vorhaben muß man“

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ab siebzig hat man nur wenig Zeit noch für Geschichten und Geschichten; man sucht ihr Resümee in Aphorismen und Anekdoten: die Bedrohung des Romans“ – was hier in einem Atemzug vom Autor dieser Sammlung genannt wird, ist in ihr weder quantitativ noch qualitativ gleichrangig. Aphorismen im strikten Sinne nehmen den allergeringsten Anteil der Prosastücke ein und kommen nur im ersten, mit dem Titel „Privat“ überschriebenen Teil des Bandes vor – wie unglücklich, wenn dieser ausgerechnet breit mit „Aphorismen“ untertitelt ist. Rolf Hochhuth wird sicher nicht als formbewusster Stilist in die Literaturgeschichte eingehen, gleichwohl hätte er – und wenn nicht er, dann wenigstens sein Lektor – seinen Lesern diesen veritablen Etikettenschwindel und damit falsche Erwartungen ersparen können. Aber der Sinn für Gattungen und Formen wie für ihre Eigenheiten ist im literarischen Bewusstsein ohnehin schon länger im Schwinden.

Mitunter volkstümlich-lakonisch wie Kalendersprüche daherkommend, mitunter in kleine Begebenheiten verpackt, enthält der erste Teil Lebensweisheiten aller Couleur, neben Bemerkungen zum Altern vor allem auch aus dem Feld der Geschlechterpsychologie. Mit welcher erfrischenden Unbekümmertheit der Autor von „den“ Frauen spricht, gemahnt an äonenweit entfernte Zeiten, lange vor Political Correctness und postmoderner Dekonstruktion, letztlich an die französischen Moralisten. Sie, allen voran der auch von Hochhuth erwähnte Chamfort mit seiner Vorliebe für das Anekdotische, sind auch am ehesten die geheimen Geistesverwandten bei diesen Maximen und Lebensweisheiten, die allemal die gesammelte Lebenserfahrung eines heute fast Achtzigjährigen erkennen lassen.

Die Affinität des Geschichtsdramatikers Hochhuth zur Anekdote – man möchte sie eigens für ihn, den deutschen Skandaldramatiker vom Dienst, zur „Aneck-dote“ verballhornen –, liegt bereits in der Gattungsgeschichte dieser Kurzprosaform angelegt, meinten die Histörchen um historische Persönlichkeiten ja ursprünglich bei Prokop und Herodot das „Unedierte“, was der offiziellen Historiografie nicht genehm war. Hier hat Hochhuth seine Stärke, was er auch schon in früheren Sammlungen bewiesen hat; der Aphorismus als Form hingegen setzt, mag er auch tendenziös sein, eine freie Geistigkeit voraus und kennt kein stoffliches Substrat. Und was Hochhuth noch schwerer fallen dürfte: Er kennt auch keine Ich-Form, sowenig wie der klassische Cartoon einen Bildtext.

Im zweiten, „politisch-historischen“, Teil entfaltet sich diese Stärke des Autors, auch wenn er keineswegs nur Anekdoten enthält. Hochhuths Geschichtsbetrachtung ist geprägt vom Geschichtsdenken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der Geschichtserfahrung bis zum Kalten Krieg, was man nur goutieren kann, wenn man die Notizen als Resümee einer lebenslangen Umgangs mit Geschichte auffasst. Seine Koordinaten sind nicht Diskurse oder Strukturen, sondern die großen Persönlichkeiten wie Bismarck, Burckhardt, Churchill, Golo Mann und nicht zuletzt Hitler sowie zur Genüge abgehandelte Fragen wie nach Fortschritt und Sinn der Geschichte, deutsche Identität, Machtpolitik und Krieg. Wo ausnahmsweise Gegenwartsfragen berührt werden, wie Eurokrise oder Finanzbranche, wird Hochhuth schnell populistisch und sagt nichts, was man nicht schon gehört hätte. Der polemische Witz eines Enzensbergers in dessen Eurokratie-Kritik geht Hochhuth ab.

Auch ästhetisch ist der Autor, wie der „Kulturell“ überschriebene letzte Teil der Aufzeichnungen deutlich macht – ganz dem 19. Jahrhundert verpflichtet: Goethe, Hegel, Storm, Fontane sind hier die Referenzautoren. Zeichnungen Adolph von Menzels gliedern den Band. Der preußische Maler wird als erster Impressionist in Anschlag gebracht – in Replik auf ein Verdikt von Adorno gegen die deutsche Malerei. Adorno bei der Gelegenheit als „eingefleischten Rassisten“ zu bezeichnen, setzt schon eine recht eigenwillige Definition von Rassismus voraus: „Rassist ist, wer ein Volk oder eine Gruppe im ganzen infamiert“. Noch weit schlechter weg kommt Dante, „der dogmatisch Meistzugenagelte“ und „nur noch als Chefpropagandist des Christentums namhaft, doch als Dichter ungenießbar“. Hier schlägt das Ressentiment des Kirchen- und Religionskritikers Hochhuth voll durch. Doch ganze 50 Jahre nach seinem „Stellvertreter“ ist diese Kritik – wie überhaupt Hochhuths durchgängige Attitüde des Entlarvens von allen Epochen und Weltanschauungen als „nur anders albern“ – schal geworden; sie hat sich intellektuell nicht weiterentwickelt, sich als Aufklärung nicht selbst reflektiert angesichts einer gewandelten Welt.

Was soll man von jemandem halten, der der heutigen Jugend allen Ernstes das Glück bescheinigt, „nicht Ideologien in die Hände zu fallen, die man früher Religion nannte“ – als hätten mit der Emanzipation von kirchlich-religiöser Autorität die Probleme der Moderne nicht erst begonnen. (Hier offenbart sich Hochhuth als dem Typus des „emanzipatorischen Intellektuellen“ zugehörig, der bis zum Endes des Sozialismus, quasi „vor-postmodern“, dominierend war und sich als Entlarver von ideologischem Schein im Namen eines zu befreienden Kollektivs verstand, was hier nicht weiter entfaltet werden kann.) Ebenso schal geworden ist die vom Autor kultivierte Pose des Rebellen und Nonkonformisten, die in vielen Eintragungen, so auch in den allerersten der Sammlung, aufscheint: „Wer nur normal ist, ist schon genormt“, „Mit vierzehn konfirmiert, mit dreißig konformiert“.

Das Lob des Nonkonformismus und des Aufbegehrens wird schal, wenn nicht reflektiert wird, dass die „Querdenker“ längst mainstreamkompatibel sind, in den Talkshows sitzen und sich ein „Konformismus des Andersseins“ (Norbert Bolz) etabliert hat. Es handelt sich hier um Schlüsselattitüden des literarischen Intellektuellen und „engagierten Schriftstellers“, mithin eines Typus, der in Hochhuth und dem fast gleichaltrigen Günter Grass, der ähnlich ungebrochen bis heute die Rolle des Mahners und Warners pflegt, seine letzten Vertreter hat. Wie in einem Prisma führen sich diese geistigen Attitüden in der Hochhuth’schen „Aphorismen“-Sammlung als Konzentrat seines Denkens selbst als historisch vor, freilich eher ungewollt. Da nimmt es nicht Wunder, dass mit Uta Ranke-Heinemann, die ein Nachwort von rührender Unbeholfenheit beisteuern zu müssen glaubte, eine in die Jahre gekommene Intellektuelle vom gleichen Schlage dem Autor sekundiert.

Durchaus geistreich unterhaltend ist Hochhuth dort, wo er nicht selbst Urheber ist, sondern Äußerungen von anderen – sei es Ernst Jünger, Churchill oder auch eines Mitschülers von Hitler – anekdotenhaft kolportiert. Wer allerdings Glossen zum Zeitgeist und zur Politik sucht, die von großer Brillanz und Schärfe sind, ist mit den Notizbüchern von Johannes Gross aus den achtziger Jahren oder mit Peter Sloterdijks – gleichzeitig mit Hochhuths Sammlung erschienenen – Tagebuchaufzeichnungen „Zeilen und Tage“ besser beraten.

Titelbild

Rolf Hochhuth: Was vorhaben muß man. Aphorismen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
140 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783498030032

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