„Die Sehnsucht gehört zum Abenteuer“

Linus Reichlin erzählt in seinem neuen Roman „Das Leuchten in der Ferne“ von Liebe, Verrat und der verhängnisvollen Sucht nach einem Leben jenseits des Gewöhnlichen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moritz Martens ist am Tiefpunkt seines Lebens angekommen, wenn ihm der Leser von Linus Reichlins neuem Roman „Das Leuchten in der Ferne“ zum ersten Mal begegnet. Lukrative Aufträge schnappen dem 53-jährigen Journalisten inzwischen die jüngeren Kollegen weg. Seine Ehe ist kaputt, die teure Wohnung in Berlin-Schöneberg nicht zu halten, das kleine Vermögen, welches ihm sein gefährlicher Job als Kriegsberichterstatter eingebracht hat, längst ausgegeben.

Da führt ihm im Wartesaal des Berliner Bürgeramtes der Zufall eine Frau über den Weg, die ihm ein verlockendes Angebot macht. Miriam Khalili ist Halbafghanin und als sie erfährt, dass Martens bereits als Reporter in Afghanistan unterwegs war, erzählt sie ihm die Geschichte eines Mädchens, das als Junge aufwuchs. Diese „Bacha Posh“, wie man auf Dari weibliche Personen nennt, die in söhnelosen Familien für eine gewisse Zeit die Rolle des Sohns auch in ihrem Äußeren übernehmen, hat sich aus Angst vor einer ihr drohenden Zwangsverheiratung zu einer kleinen Talibaneinheit geflüchtet und lebt dort in der ständigen Gefahr, enttarnt zu werden. Es würde ihren Tod bedeuten, käme der die Einheit befehligende Warlord Dilawar Barozai ihr auf die Schliche, zumal der Mann für seinen Frauenhass und seine Grausamkeit berüchtigt ist.

Martens muss nicht allzu lange überlegen. Das in Aussicht gestellte Abenteuer elektrisiert ihn sofort und er besitzt journalistische Kontakte, die ihm für die zu erwartende Top-Story die 10.000 Euro zur Verfügung stellen, die die junge Frau für ein Interview verlangt. Mit dem Geld und Miriam Khalili, die ihn schließlich gegen seinen Willen als Fotografin begleitet, besteigt er einen Bundeswehr-Airbus und macht sich auf den Weg nach Feyzabad, wo sich eines der kleineren deutschen Camps im nördlichen Afghanistan befindet. Seinen Weg aus dem geordneten, zivilisatorischen Dasein im Herzen Europas in die Ungewissheit und Gefahr, die ihn am Zielpunkt der Reise erwarten, begreift er als eine Art Befreiung von den Fesseln des „Gewöhnlichen“: „Er dachte, dass er hier der Einzige war, der in sein natürliches Habitat zurückkehrte wie ein Tier, das eine Weile im Zoo verbracht hatte und nun wieder ausgewildert wurde.“

Nach seinen von der Kritik hochgelobten drei Romanen um den belgischen Ex-Polizisten Hannes Jensen – „Die Sehnsucht der Atome“ (2008), „Der Assistent der Sterne“ (2010) und „Er“ (2011) – hat der in Aarau geborene und heute in Berlin lebende Ex-Reporter und – Kolumnist Linus Reichlin (Jahrgang 1957) nun mit „Das Leuchten in der Ferne“ einen Abenteuerroman vorgelegt, der die Grenzen des Genres sprengt. Verhandelt werden über die spannende Geschichte, in der sich natürlich alles anders entwickelt, als es Reichlins Held erwartet, existenzielle Fragen von Leben und Tod, Zivilisation und Barbarei, Liebe und Abenteuerlust. Durchaus provokativ vertritt sein Protagonist dabei Positionen, die jenseits sämtlicher politisch korrekten Aussagen zum Afghanistan-Konflikt und der Beteiligung Deutschlands an diesem Krieg angesiedelt sind. In Moritz Martens’ Augen wird am Hindukusch weniger die Freiheit Deutschlands verteidigt als das Recht jedes Einzelnen auf ein Leben jenseits der Gewöhnlichkeit und Monotonie des Alltags.

„Sie hatten sich für das Herumstreifen entschieden, weil ihnen bei der Feldarbeit Wurzeln gewachsen waren, sie hatten die Füße angehoben und die Wurzeln gesehen, die ihre Füße an den Acker fesselten, und ein heimliches Grauen hatte sie anfällig gemacht für die Versprechungen des Horizonts“, heißt es an einer Stelle. Da ist der Protagonist des Romans längst bei der kleinen marodierenden Einheit um Dilawar Barozai gelandet und wird von dem Häuflein als Geisel mit durch die raue Bergwelt des nördlichen Afghanistan geschleppt. Dass Miriam, in die er sich verliebt hat, obwohl sie ihm in wesentlichen Punkten die Wahrheit verschwieg, in Deutschland tatsächlich das Geld auftreibt, um ihn auszulösen, weiß er noch nicht. Doch durch die tägliche Beobachtung der Männer, mit denen er notgedrungen für Monate zusammenleben muss, verfestigt sich in ihm der Eindruck, es ginge bei deren Tun weniger um das Erreichen von politischen Zielen als um das gelebte Plädoyer für ein Leben jenseits all jener Belanglosigkeiten, aus deren Summe sich für ihn das durchschnittliche bürgerliche Leben zusammensetzt.

Alles in allem ist „Das Leuchten in der Ferne“ ein sehr gut lesbarer, spannender Roman, dessen ideeliches Grundgerüst freilich zu sehr auf Mystifizierungen beruht. Alle Widersprüche unserer Welt zurückzuführen auf den ewigen Gegensatz zwischen dem „Sesshaften“ – „Wie klug war es, zu Hause zu bleiben, und wie dumm, es nicht zu tun“, liest man da etwa – und einer entwurzelten Lebensweise, die im „Herumstreifen“ ihre Erfüllung findet, übersieht doch eine Menge Konkretes: politisch Konkretes, historisch Konkretes, mentalitätsgeschichtlich Konkretes. Mit der Glorifizierung eines abenteuerlichen Lebens jenseits des „Normalen“ einen Konflikt erfassen zu wollen, der am Anfang des dritten Jahrtausends nicht nur Afghanistan erschüttert, mag literarisch reizvoll sein und erinnert wohl nicht von ungefähr an Ernst Jüngers Glorifizierung mannhaften Kriegertums. Dass es aber auch geo- und weltpolitische Interessensstrukturen gibt, innerhalb derer den Taliban kaum mehr als die Funktion von Erfüllungsgehilfen zukommt, ist ebenfalls eine Wahrheit, um die man nur schwer herumkommt.

Titelbild

Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne. Roman.
Galiani Verlag, Köln 2013.
301 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710532

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