Rühren im Erinnerungsmix

„Das umstrittene Gedächtnis“: Der Historiker Arnd Bauerkämper beschreibt, wie in 14 Ländern an Nationalsozialismus und Krieg erinnert wurde – ein Muster für eine europäische Identität springt dabei nicht heraus

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnern ist aktuell! Doch die deutsche Geschichte ist dunkel. Deshalb wird es häufig moralisch. Hier ein Beispiel von Bundespräsident Joachim Gauck: „Unsere jungen Leute sollen nicht zwei konkurrierende Geschichtserzählungen verinnerlichen. Nämlich die eine, dass es sich für einen Deutschen gehört, niemals zu vergessen, was die Nazibarbarei getan hat. Und eine, die auf das Glück des Mauerfalls schaut. Diese beiden Geschichten gehören zusammen.“

Was bedeutet der Ratschlag an die „jungen Leute“? Schmerzt das Erinnern weniger, wenn der Blick hastig von der katastrophalen deutschen Geschichte auf den Mauerfall gelenkt wird? Und: Warum sind konkurrierende historische Deutungen ein Problem? Ist es denn nicht so, dass die NS-Zeit seit jeher unterschiedlich – privat, pädagogisch, literarisch, politisch, wissenschaftlich – erinnert wird? Und dass sich gesellschaftliche Akteure dieses Thema je nach Interessen- und Mentalitätslage aneignen?

Lieber historisch statt moralisch

Aufklärung darüber verspricht ein nüchterner Zugriff, der jetzt vorliegt: Arnd Bauerkämper (Jahrgang 1958) hat eine groß angelegte Studie über „Das umstrittene Gedächtnis“ geschrieben. Der Historiker von der Freien Universität Berlin analysiert, wie in ausgewählten europäischen Staaten nach 1945 an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg erinnert wurde.

Auf den gut 500 Seiten nimmt sich Bauerkämper sage und schreibe 14 (!) Länder vor: Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Sowjetunion (Russland), Polen, Tschechoslowakei (Tschechien und Slowakei), Ungarn, Rumänien, Spanien, Schweden und Schweiz. Die Auswahl sei dahin gestellt – hier tut sich eine beachtliche Bandbreite von Erinnerungshorizonten auf: faschistische, besetzte, Krieg führende, kollaborierende, „neutrale“ und kommunistische Staaten. Bauerkämpers Länderstudien widmen sich der rechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit, beschreiben die politischen Erinnerungskonflikte nach 1945 als politischen Machtkampf und beleuchten die innergesellschaftlichen, kulturellen Auseinandersetzungen um die Geschichte. Umrahmt ist all dies von einer Darstellung des Forschungstands zur Theorie der Erinnerung und des Gedächtnisses sowie einem abschließenden „Plädoyer für eine Geschichte der Erinnerungspraxis“.

Angesichts des Pensums frohlockt der Ferdinand Schöningh Verlag im Klappentext, das Buch sei „das erste Kompendium zu den Erinnerungswelten Europas nach 1945“. Auch der Leser kann nur staunen. Als beschreibender Historiker rekapituliert Bauerkämper Gedächtnispolitik und Geschichtsvorstellungen Staat für Staat. Der Autor stellt die vergleichende Methode, politische Konflikte sowie internationale Bezüge in den Mittelpunkt – Dimensionen, die bisher zu wenig beachtet worden seien. Ergebnis: ein detailreiches Werk mit Handbuch-Charakter.

Schlachtfeld Europa – Konflikt statt Konsens

Wie geht die Forschung heutzutage überhaupt mit Geschichte um? Das sind die Trends: Erstens erfährt der Holocaust eine Neubewertung. Jüngst erschienene Bücher wie Timothy Snyders „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ oder Jörg Baberowskis „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ beziehen Osteuropa als Gewaltraum sowie Stalins Verbrechen in die Analyse des Judenmordes ein (siehe Michael Wildt, „Ist der Holocaust nicht mehr beispiellos?“, „Süddeutsche Zeitung“, 23. Mai 2012). Von den geografischen Rändern aus betrachtet, kommen auf dem europäischen Schlachtfeld – zweitens zahlreiche Komplexe und Traumata zum Vorschein: neben Holocaust der Sowjetkommunismus, Vertreibungen, Kriegserlebnisse, Kolonial- und Migrationsgeschichte (so Claus Leggewie: „Der Kampf um die europäische Erinnerung“).

Drittens: Wie werden solche Kriegserfahrungen individuell, kulturell und politisch, in Familien sowie öffentlich von Generation zu Generation weitergegeben? Tradierungsforscher, die das untersuchen, stoßen auf Konflikte zwischen einzelnen Erinnerungen und offizieller Gedächtnispolitik, zwischen persönlicher Identität und nationalem Selbstverständnis (dazu: Harald Welzer [Hg.]: „Der Krieg der Erinnerung“, sowie Christoph Cornelißen und andere [Hg.]: „Erinnerungskulturen“).

Methodisch tendieren viertens manche Historiker dazu, übergeordnete globale Prozesse zu rekonstruieren. Etwa Jürgen Osterhammels „Geschichte der Welt“ (mit Akira Iriye) oder die Reihe „Geschichte Europas“ (Beck Verlag), die sich nahezu komplett von einer einzelstaatlichen Perspektive lösen. So weit geht Bauerkämper denn doch nicht. Erinnerung ist demnach unmittelbar nach 1945 (noch) in einen nationalstaatlichen Rahmen eingebettet. Doch Bauerkämpers Länderstudien verweisen auf „transnationale Bezüge“. Politisch stellt sich nämlich die Frage, wie an die Trümmerfelder Europas gemeinschaftlich europäisch erinnert werden soll.

„Nie wieder Auschwitz“ – eine Staatsräson?

Bauerkämper macht klar, dass die internationale Dimension der Erinnerungsdiskurse verstärkt nach 1989, dem Zusammenbruch des Sowjetreiches, hervorgetreten sei. Jedoch habe sich in Europa „keine einheitliche Erinnerungskultur herausgebildet“ – wenn das auch seit der Stockholmer Erklärung zum Holocaust im Jahr 2000 ein Wunsch gewesen sein mag. Ein „negatives Gedächtnis“ oder die bloße moralische Warnung vor Krieg und Völkermord könne die europäische Integration allein nicht sichern – eine Einschätzung übrigens, über die sich vor dem Hintergrund der grassierenden Finanzkrise nachzudenken lohnt.

Tatsächlich herrscht ein Erinnerungsmix vor. Nachkriegszeit in Deutschland: Es wird verdrängt und verharmlost, man stilisiert sich zum Opfer und glorifiziert sich zum Helden, man will einen „Schlussstrich“, sieht sich vertrieben und ausgebombt oder selten befreit. Die Debatten in West-Deutschland stehen häufig unter dem Eindruck des Wettbewerbs mit der DDR (und umgekehrt). Bauerkämper zufolge setzt die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker („Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“) zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 ein selbstkritisches Schlaglicht. Nach der Vereinigung bleiben die Diskussionen über Entschädigung von Zwangsarbeitern, Wehrmachtsausstellung oder Denkmal für die ermordeten Juden Europas vielfältig und widersprüchlich. Mittlerweile sei es eine Staatsräson geworden, sich von der NS-Diktatur und vom Holocaust abzugrenzen, so Bauerkämper.

Anderswo schälen sich freilich andere Erinnerungskontexte heraus: In Frankreich beispielsweise mit seinem Bezug zur Résistance, in Spanien mit der Erfahrung des Bürgerkriegs und späten Wechsels zur Demokratie oder in der Schweiz mit ihrer insularen Position. In der damaligen Sowjetunion zeigt sich die Erinnerungskultur – wen wundert’s – „politisch-ideologisch überformt“, in den südosteuropäischen Vielvölkerstaaten von regionalen Interessen überlagert.

Wie Geschichte instrumentalisiert wird, zeigt sich nicht zuletzt in Gefechten um Leben und Tod: Bauerkämper erwähnt den Jugoslawienkonflikt, in dem die Machthaber bewusst auf tief sitzende Feindbilder aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgriffen. Von der deutschen Regierung (Joschka Fischer) sei damals das Postulat „Nie wieder Auschwitz“ emotionalisierend ins Spiel gebracht worden, um eine „globale Interventionspolitik“ (sprich: den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo) zu rechtfertigen.

Konkret bleiben

Bauerkämpers Werk lehrt dieses: Statt von Erinnerung sollte man besser von Erinnerungen oder Erinnerungskonstrukten reden, statt von dem einen Gedächtnis eher von Deutungskonflikten über die Vergangenheit. Erinnerungspolitik kann nicht zuletzt dem Selbstschutz und dem Machterhalt politischer Eliten und Gruppen dienen. Der Forschung bleibt die Aufgabe, die Prozesse möglichst konkret ins rechte Licht zu rücken.

Allerdings: Bauerkämpers Ambition zur wissenschaftlichen Kleinarbeit hat ihren Preis. Der Leser stößt auf zahlreiche Wiederholungen und unzählige Einzelaspekte, die gern etwas mehr Tiefe vertragen hätten oder manchmal gestrichen hätten werden können. So kommt man zu dem Ergebnis, dass weniger Fülle der Darstellung keinen Abbruch getan hätte. Die Einsicht jedoch, dass Europa – wie Bauerkämper meint – ein „überaus dynamischer Erinnerungsraum“ ist, kann man sicher den jungen Leuten guten Gewissens mit auf den Weg geben.

Titelbild

Arnd Bauerkämper: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
520 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783506775498

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