„Was bleibt von Marx?“

Bernd Ziesemers „Sentimental Journey“ durch Leben und Werk von Karl Marx

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „Abenteuerreise“, die auf dem Friedhof beginnt. Auf dem Londoner Highgate Cemetery, wo seit 1883 Karl Marx begraben liegt. Ebenso tot wie Marx selbst ist auch sein Werk: „Seine gesellschaftlichen Prophezeiungen widerlegt durch die Wirklichkeit, seine ökonomischen Theoreme hundertfach falsifiziert, seine politischen Schriften diskreditiert durch die Horrorgeschichte des Realsozialismus, sein gesamtes geistiges Erbe bis zur Unkenntlichkeit dogmatisiert durch eine ebenso selbstgefällige wie sektiererische Linke, seine Gedanken fast völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden.“

Man könnte leicht dem Irrtum verfallen, als wolle Bernd Ziesemer, der Autor des Buches „Karl Marx für jedermann. Der erste Denker der Globalisierung“, Karl Marx wieder auferstehen lassen: Mit frischer, schwungvoller Diktion verspricht er eine „ungehemmte“ und aufregende „Kaperfahrt“ durch das „labyrinthische Werk“ von Marx, um „einen ganzen Ozean aufregender Gedanken [zu] entdecken“. Allzu schnell stellt sich jedoch heraus, dass diese Fahrt in erster Linie ein „persönlicher Abschied“ sein soll – vom Marxismus und von denjenigen Seiten von Marx und seiner Lehre, die Bernd Ziesemer noch an den jugendlichen, „rebellischen Wahn“ um 1968 erinnern. „Vernünftig“ und „produktiv“ solle man jetzt Karl Marx lesen – Wo bleibt denn die „Kaperfahrt“? – und ganz im Gegensatz zu den bisher üblichen „Kanonisierung“ und „Dämonisierung“ des Philosophen. Und vor allem durch das Prisma des „liberalen Konservativen“ Bernd Ziesemer, der zum „überzeugten Marktwissenschaftler“ konvertiert ist, „im Zweifel“ für den Markt optiert und nun – Warum aber? – „unter dem Müll des Marxismus“ Karl Marx hervorholen möchte.

Letztere Prozedur entbehrt nicht einer gewissen Raffinesse. Unter dem Titel „Das Leben eines Revolutionärs“ breitet Ziesemer im ersten Kapitel seines Buches die Biografie von Karl Marx aus, die er zunächst als „Dreiklang“ von Politik, Philosophie und Ökonomie bezeichnet. Doch nicht nur die „drei Leben in einem“, sondern auch zahlreiche Widersprüche zeichnen Marx aus: „getaufter Jude und Antisemit, Privatgelehrter und Feuerkopf, Bohemien und Geheimbündler, Verschwender und Bettler, liebender Familienvater und eitler Einzelgänger, Vorkämpfer und Verächter des Proletariats, Neidhammel und Großherz, ein Bewunderer des Kapitalismus und zugleich sein schärfster Kritiker, ein Meister des großen Wurfs und der kleingeistigen Intrige, begnadeter Polemiker und dröger Scholastiker, Romantiker und Materialist, einer der größten Stilisten der deutschen Sprache und einer ihrer peinlichsten Verdreher, öffentlicher Sozialist und privater Bourgeois, Rebell und Rentier, ewiger Deutscher und entwurzelter Emigrant, ein Mann des Worts und ein Mann der Tat.“

Dennoch möchte Ziesemer aus dem ‚Kampf der Gegensätze‘ in Marxens Persönlichkeit und Wirken keine Einheit entstehen lassen. Genauer gesagt, er möchte die Einheit aus Marxens Persönlichkeit tilgen, denn: „Karl Marx war Revolutionär, bevor er Geschichtsphilosoph wurde – und Geschichtsphilosoph, bevor er sich in einen Ökonomen verwandelte.“ Und: „Karl Marx wollte vor allem anderen eines: die sozialen und politischen Verhältnisse seiner Zeit umstürzen.“

Die Biografie des Revolutionärs Karl Marx fällt unter der Feder von Bernd Ziesemer recht kläglich aus – die Geschichte eines großen Scheiterns, die Ziesemer wieder (wie in der Einleitung zu seinem Buch) und früh im biografischen Teil des Buches auf dem Highgate Cemetery ausklingen lässt. Es bleibt auch nicht bei dem Aufweis von Widersprüchen in der „Dialektik“ von Marx’ Persönlichkeit. Verstärkt wird die ‚Negation‘ des Revolutionärs Marx auch mit mehreren ‚Enthüllungen‘ über seinen unangenehmen Charakter, zum Beispiel über seine „übertriebene Selbstgefälligkeit“, seinen Dogmatismus und Antisemitismus. Höchst bezeichnend ist außerdem, dass in einem Buch, das sich als ,Rettung‘ von Marx ausnehmen mag, mehrere Motti an exponierter Stelle den „negativen“ Marx in den Vordergrund rücken – den Egoisten, den ,Versager‘ und so weiter. Zwar möchte Ziesemer mit solchen Strategien manchen Mythos zerstören, es fällt aber angesichts fehlender Quellen und Belege zuweilen schwer, ihm zu folgen – etwa wenn er behauptet, Marx habe als Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“ seine radikaleren, den Kommunismus propagierenden Freunde davon abgehalten, ihre Meinungen frei zu äußern, um die „Existenz des Blattes“ nicht zu gefährden. Während Ziesemer dem Publizisten Marx, der wegen seiner Konfrontation mit der Zensur immerhin Deutschland verlassen musste, fast jegliche Bedeutung abspricht, sorgt der Text dafür, dass im Leser das klischeehafte Porträt eines Mannes haften bleibt, der „im Schuldturm gelandet“ wäre, hätte er es versäumt, bei seinem langjährigen und uneigennützigen Freund Friedrich Engels dauernd Geld „loszueisen“.

Um den „Dreiklang“ aus dem Geiste der Revolution zu zerstören, weist Bernd Ziesemer im biografischen Teil seines Buches der „ökonomischen Arbeit“ von Marx eine untergeordnete Stellung zu: „Doch der Geschichtsphilosoph und Revolutionär setzte sich schnell wieder gegen den ökonomischen Autodidakten […] durch: Marx unterbrach seine wirtschaftlichen Studien sofort wieder, um gemeinsam mit Friedrich Engels eine ziemlich gehässige (und inhaltlich völlig unbedeutende) Streitschrift gegen seine ehemaligen Berliner Freunde zu verfassen. Im März 1845 erschien sie unter dem ironischen Titel „Die heilige Familie“ und mit der Unterzeile „Gegen B. Bauer und Consorten. Leser fand sie nicht.“

Bei seiner Rehabilitierung von Marx setzt Ziesemer gerade hier an und widmet sich im Teil II seines Buches dem ökonomischen Werk von Marx. Und hier erblüht ein anderer Marx als im ersten Teil und ein anderer, faszinierter Biograf und Interpret seines Werks, der Marx’ Begeisterung für die Errungenschaften seiner Zeit teilt, etwa wenn er einen Brief von Marx an Josef Weydemeyer von 1852 zitiert: „Man kann in keiner famoseren Zeit auf die Welt kommen als heutzutage. Wenn man in 7 Tagen von London nach Kalkutta fährt, werden wir beide längst geköpft sein. Und Australien und Kalifornien und der Stille Ozean! Die neuen Weltbürger werden nicht mehr begreifen, wie klein unsere Welt war.“ Hier spart Ziesemer nicht mit Adelsprädikaten für Marx: wie „kein anderer Ökonom seiner Zeit“ habe er den „Weltgeist der modernen Industrie“ und des „globalen Kapitalismus“ erkannt und sei damit „der erste wirkliche Denker der Globalisierung“ gewesen.

Nun gerät auch das „Manifest der Kommunistischen Partei“, das in ein „kapitalistisches Manifest“ umbenannt wird, Bernd Ziesemer zum Meisterwerk, während Marx selbst zum wortmächtigen Propheten avanciert. Ziesemers Aufgabe ist es aber auch hier, zwischen Marx, dem „weitsichtigen Denker der Globalisierung“, und Marx, dem „engstirnigen Kritiker der politischen Ökonomie“, zwischen „packende[m] Lob des Kapitalismus“ und „beißende[r] Kritik“ am Kapitalismus einen Keil zu treiben. Lob also auf Marx’ „Gedanken zur Sprengkraft der Globalisierung“ und kaum ein Wort über die daraus folgenden Einsichten von Marx über die Gewissenlosigkeit und Brutalität der „Handelsfreiheit“: „Sie [die Bourgeoisie] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“

Doch trotz Ziesemers Stilisierung von Karl Marx zum „ökonomischen Genie“ und zum Herold der Globalisierung, findet sich bei Marx – wie auch Ziesemer zugibt – wenig Konkretes und Systematisches über die globale Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass Ziesemer die „kreative“, aber offensichtlich unzureichende Leistung von Marxens „frühe[r] Globalisierungstheorie“ dermaßen in den Mittelpunkt rückt und zum Fokus seines Buches macht (wie auch der Untertitel verrät), zumal schon Hannah Arendt auf Marx’ Lob auf den Kapitalismus aufmerksam gemacht hat und Ziesemer hiermit keineswegs Neuland betritt. Der Großteil von Ziesemers Auseinandersetzung mit Marx’ ökonomischem Werk dreht sich hingegen um den Aufweis der Unzulänglichkeiten, Irrtümer, Verdrehungen und Verfälschungen im „Kapital“, das Marx „zum Fluch“ geworden sei. Diese Ausrichtung des Buches trägt allerdings dem Haupttitel – „Karl Marx für jedermann“ Rechnung, bietet der Text hier auf weiten Strecken doch eine allgemein verständliche und nicht uninteressante Analyse von Marx’ schwierigem Hauptwerk „Das Kapital“. Will Ziesemer aber die „Neuentdeckung“ der ökonomischen Lehre vom Marx mit seinem Buch befördern – ein Versäumnis, das er den 68ern vorwirft? Wohl kaum, erklärt er doch „Das Kapital“ zum „toten Ast der Wissenschaftsgeschichte“.

Was bleibt also von Marx? In zehn prägnant formulierten Punkten destilliert Ziesemer im letzten Teil seines Buches Marx’ Beitrag als Ökonom heraus. Mehr als um Marx selbst geht es hier jedoch um Ziesemers eigene Bilanz über das Wesen und die Zukunft des Kapitalismus sowie um das Ende seiner eigenen „sentimental journey“. Wir erfahren, dass sich der Kapitalismus – anders als von Marx angenommen – „trotz seiner wiederholten Krisen als erstaunlich stabil“ und wandlungsfähig erwiesen habe und dass der Glaube an seine Überlegenheit trotz einiger durch den „wirtschaftlichen Fortschritt“ hervorgerufenen „Schattenseiten“ berechtigt sei. Und vor allem müsse man einsehen, dass der globale Kapitalismus unvermeidlich „Gewinner und Verlierer – innerhalb von Nationen und auch zwischen Nationen insgesamt“ schaffe. Wenn Ziesemer hier aber pathetisch von der „Zerstörung des Bestehenden“ spricht, welches den Fortschritt herbeiführe, meint er keineswegs die Zerstörung des Kapitalismus, sondern die Zerstörung eben dieser „Verlierer“, das heißt die unumgänglichen „sozialen Kosten“, die zum „Fortschritt“ gehören und ihn erst ermöglichen. Und doch könne man sogar hier die Überlegenheit des Kapitalismus erkennen – und das habe Marx mit seiner grundfalschen „Verelendungstheorie“ ebenfalls übersehen, denn: „Wenn der Wohlstand insgesamt wächst und der Kuchen größer wird, den man verteilen kann, profitieren letztlich alle davon.“ Ganz dem Fortschritt zugerechnet wird vom ehemaligen Chefredakteur des Handelsblatts Bernd Ziesemer auch „ein gutes Drittel der heutigen DAX-30-Konzerne in Deutschland“, welche sich während des vom Marx beschriebenen und von Ziesemer gefeierten Aufstiegs des industriellen Kapitalismus herausbildeten. Eine „Kaperfahrt“ im Segelwind von Marx.

Und was bleibt von Bernd Ziesemers Buch? Die Aufforderung, auch dem Ökonomen Marx und besonders dem „Kapital“ Aufmerksamkeit zu schenken, der Hinweis auf Engels’ beträchtlichen und oft unterschätzten Beitrag, die eher oberflächliche und meist selektive, doch immerhin nützliche Übersicht über die Rezeption von Marx durch eine Reihe von Denkern wie Bernstein, Lenin, Popper, Schumpeter, Keynes, Böhm-Bawerk, Hilferding und so weiter, die voreingenommene und deutlich verzerrte, aber für zukünftige Forschungen wichtige Hervorhebung des Stilisten Marx und insbesondere die sehr treffende Einschätzung von Marx’ ökonomischem Werk als einer „zerklüfteten Landschaft“. Zu erkunden ist diese Landschaft allerdings nicht „vernünftig“ und „produktiv“, letztendlich aber wie bei Bernd Ziesemer ambivalent-sentimental, mit Kategorien wie „Fluch“ und „Wahn“ und unter Ausblendung der wichtigsten Prioritäten von Marx, um einen zahmen und zahnlosen Marx zum Vehikel von Kapitalismus- und Globalisierungseuphorie „für jedermann“ zu degradieren, sondern als eine kritische und erbarmungslose Zergliederung von Marx in der Gesamtheit seines vielseitigen, wenn auch widersprüchlichen und oft bedenklichen Werks.

Bernd Ziesemer: Karl Marx für jedermann. Der erste Denker der Globalisierung.

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Bernd Ziesemer: Karl Marx für jedermann. Der erste Denker der Globalisierung.
Verlag Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt am Main 2012.
224 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783899812848

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