Russland in Zeiten des Mittelalters

Über eine Dokumenten-Sammlung zum Prozess gegen Pussy Riot

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sexismus boomt auch im 21. Jahrhundert noch. Wie in Deutschland, so andernorts. Die FDP etwa scheint zu Beginn des Jahres 2013 angesichts des sexistischen Ausfalls eines älteren Herren ihrer Führungsriege, der Gesprächspartnerinnen gerne seine Meinung über die Größe ihrer Brüste aufdrängt, dem Irrtum erlegen, kollektive Frauenfeindlichkeit könnte sie bei den anstehenden Bundestagswahlen doch noch über die 5%-Klausel hieven, wobei es offenbar insbesondere die Obermaskulinisten Wolfgang Kubicki und Dirk Niebel nicht im geringsten stört, dass das Akronym FDP künftig nur noch als Frauenfeindliche Deutsche Partei aufgelöst werden könnte.

Immerhin stärkt wenigstens Silvana Koch-Mehrin der sexistischen Herrenriege ihrer Partei nicht den Rücken, sondern macht gegen die allbekannte Verknüpfung von Galanterie und Verachtung Front, mit der bekanntlich nicht nur Herren der FDP Frauen zu belästigen pflegen. Das Verhalten der Katholischen Kirche wiederum könnte glauben machen, sie hoffe den Sinkflug ihrer Mitglieder-Zahl stoppen zu können, indem sie dafür Sorge trägt, dass ihre Krankenhäuser vergewaltigte Frauen abweisen. So geschehen Ende 2012 in Köln. Und zwar nicht nur einmal. Erst ein durch die gesamte Gesellschaft gellender Aufschrei der Empörung ließ hiesige Kirchenoberen vorsichtig ein, zwei Meter zurückrudern. Pfarrer Gauck wiederum stellte in Sachen Verharmlosung sexueller Übergriffe auf Frauen Kachelmanns Wort vom „Opfer-Abo“ jüngst das des „Tugendfurors“ zur Seite. Russische Glaubensbrüder deutscher Christen mögen es sogar nicht einmal dulden, wenn Frauen eine Kirche betreten, um zu beten. Jedenfalls dann nicht, wenn Art und Inhalt des Gebetes den Hausherren nicht genehm sind, wie die Performance-Künstlerinnen von Pussy Riot nach einem Auftritt in Form eines Punk-Gebetes in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale erfahren mussten. Vollends des Teufels erschien den rachsüchtigen Gottesmännern offenbar, dass sie dabei vor den Altar der Christ-Erlöser-Kathedrale, dem wichtigsten Prunkbau der Russisch-Orthodoxen Kirche, traten. Denn dort herrscht ein „striktes Zugangsverbot für Frauen“, was ja bei christlich-sexistischen Sekten nicht ganz unüblich ist. Jedenfalls reagierten die klerikale Inquisition und die lupenreine Putin-Demokratie in großer Eintracht und zettelten ein Strafverfahren gegen die Aktions-Künstlerinnen Marija (Mascha) Aljochina, Jekaterina („Katja“) Samuzewitsch und Nadeschda Andrejewna („Nadja“) Tolokonnikowa an, das einem Gottesstaat alle Ehre gemacht hätte. Aljochina und Tolokonnikowa wurden am 12. August 2012 zu je zwei Jahren Lagerhaft verurteilt.

Kaum war das Strafmaß ausgesprochen, erschien in der an der City University of New York ansässigen Feminist Press auch schon ein Band mit Briefen, Erklärungen und Gedichten der Anklagten, die durch Aussagen von ZeugInnen und den Plädoyers der Verteidigung ergänzt werden. Angehängt sind zudem einige Solidaritätserklärungen westlicher KünstlerInnen, allen voran von Yoko Ono, die Pussy Riot den von ihr gestifteten Friedenspreis verlieh.

Der in Hamburg ansässigen Edition Nautilus ist es zu danken, dass nun auch schon eine deutsche Übersetzung des Buches vorliegt. Sie trägt den Titel „Pussy Riot! Ein Punkgebet für die Freiheit“ und wurde gegenüber der amerikanischen Ausgabe um ein Vorwort von Laurie Penny erweitert. Selbstverständlich dokumentiert der Band gleich zu Beginn das vom russischen Staat und der Russisch-Orthodoxen Kirche gleichermaßen inkrimierte Gebet mit der unerhörten Bitte „Jungfrau Maria, räum Putin aus dem Weg“. Nun werden die Frauen von Pussy Riot sicherlich geahnt haben, dass sie sich in dieser Angelegenheit nicht alleine auf den Beistand eines Höheren Wesens verlassen dürfen, und sei es die Mutter Gottes persönlich. Doch gaben sie mit der Textzeile genau die richtige Antwort an die Adresse Wladimir Michailowitsch Gundjajews, der es unter dem Pseudonym Kyrill I zum Chef der Russisch-Orthodoxen Kirche gebracht hat, und als solcher seine Schäfchen dazu aufforderte, doch gefälligst seinen alten KGB-Kumpan Putin zu wählen.

Ein in den Band aufgenommener Brief aus dem Untersuchungsgefängnis von Marija (Mascha) Aljochina bietet sowohl Einblicke in die schikanösen Haftbedingungen, wie auch in eine gewisse Naivität der Autorin, die sich wundert, dass eine Mitgefangene trotz ihrer „aufmunternden Foucault-Zitate“ „nicht an Veränderung“ glaubt. Nadeschda Andrejewna („Nadja“) Tolokonnikowa paraphrasiert in einem Brief hingegen nicht Foucault, sondern Marx, wenn sie erklärt, „Philosophen sollten die Welt nicht einfach bloß beschreiben, sondern verändern“. Vielleicht aber paraphrasiert sie den Begründer dessen, was er für wissenschaftlichen Sozialismus hielt, aber auch gar nicht, sondern zitiert ihn, und nur die Mehrfachübersetzung vom Deutschen ins Russische, von dort ins Englische und dann wieder zurück ins Deutsche hat das Zitat in eine Paraphrase verwandelt. Doch nicht nur mit Marx befasst sich Tolokonnikowa, sondern noch mit einem zweiten deutschen Philosophen, indem sie Vermutungen darüber anstellt, was der Aufklärer und Weltweise Immanuel Kant wohl zu Pussy Riot gesagt haben würde.

Offene Briefe der Frauen richten sich an „Dmitri Anatoljewitsch“ Medwedew und an „Eure Heiligkeit, Patriarch“ Kyrill, dem die Künstlerinnen versichern, dass sie in der Kirche „ein leidenschaftliches, aufrichtiges Gebet“ vortrugen. Auch bekennen sie ihre Bewunderung für „Jesus’ Menschlichkeit und Toleranz und seine Fähigkeit, Menschen zu retten und aufzurichten.“ Überhaupt könne auch „der verbohrteste Atheist nicht umhin, den immensen Beitrag der christlichen Lehre für die menschliche Moral anzuerkennen.“ Solche tiefreligiösen Bekenntnisse der verteufelten Frauen mögen überraschen. Las oder hörte man doch – auch hierzulande – kaum etwas davon. Doch auch in ihren „Eingangserklärung“ vor Gericht bekannte sich Aljochina als „orthodoxe Christin“ und Tolokonnikowa betonte in der ihren, sie seien „keine Feinde des Christentums“ und auch nicht „aus Verachtung und Hass auf Christen in die Kathedrale gegangen“. Dies sei vielmehr eine „fürchterliche Anschuldigung“, denn sie begegneten dem Christentum „mit Hochachtung und Respekt“. Sie geht sogar soweit, sich schuldig zu bekennt, einen „moralischen Fehler“ begangen zu haben, der darin bestehe, „den unerwarteten politischen Punk-Auftritt in die Kathedrale verlegt zu haben“. Allerdings habe sie sich „nicht vorstellen könne, dass unser Punk-Auftritt jemanden kränken oder beleidigen könnte.“ Das Strafrecht sei von diesem Fehler jedoch nicht „berührt“.

Lesenswerter und aufschlussreicher noch als die Briefe und Eingangserklärungen der Künstlerinnen ist das „Schlussplädoyer von Verteidigerin Violetta Wolkowa“, in dem sie etwa darauf hinweist, dass es in Russland seit 1917 keinen Prozess wegen Blasphemie mehr gegeben hat. „Im Jahre 2012“, sagte sie, „ist die Zeit ins Mittelalter zurückgesprungen.“ Nicht weniger erhellend ist Tolokonnikowas Schlussplädoyer, in dem sie über die Liebe zur Wahrheit und „mittelalterliche Inquisitionsmethoden“ philosophiert.

Und was die ominösen Stickmützen betrifft, die schon längst als Markenzeichen von Pussy Riot gelten, so erfährt man aus dem Buch, dass sie nicht etwa der „Tarnung“ dienen, sondern vielmehr ein „konzeptuelles Element“ sind. Denn „Pussy Riot möchte den Fokus nicht auf das Aussehen von Frauen richten, sondern schafft Charaktere, die Ideen ausdrücken.“

Der Prozess gegen die Frauen aber ist nicht weniger als ein Lehrstück darüber, wie gefährlich das Christentum noch immer sein kann – vor allem, wenn es sich mit staatlicher Macht verbrüdert.

Free Pussy Riot!

Titelbild

Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit.
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Häusler.
Edition Nautilus, Hamburg 2012.
139 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017699

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