Galizien – in Randlage und verachtet, doch ausgerichtet an der „Heiligkeit des gedruckten Wortes“

Über den Sammelband „Galizien im Diskurs“, herausgegeben von Paula Giersch, Florian Krobb und Franziska Schößler

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch, dessen Titel fast nur aus Fremdwörtern besteht wie dieses hier, hat etwas Abweisendes an sich; die Lektüre könnte sperrig sein. Doch dies ist nicht der Fall: Die sechzehn Beiträge des Bandes sind insgesamt sehr gut lesbar und fast jeder bietet am Ende ein leserfreundliches Fazit. Die ausführliche Einleitung der Herausgeber resümiert jeden der Beiträge und ordnet ihn in die allgemeine Forschungslage zu Galizien ein.

Sind die Begriffe Inklusion, Exklusion, Repräsentation, die im Titel stehen und in der Einleitung definiert werden, wirklich nötig als Denkhilfe für das Verständnis des Bandes? Jeder Leser wird es für sich entscheiden. Wichtiger als sie sind die einführenden Erklärungen zu Galizien, jenem Land, das 1772 zu Österreich-Ungarn kam, dort eine extreme Randlage hatte, von Armut gezeichnet war und für die Menschen in Mitteleuropa etwas Fremdartiges, ja Bedrohliches bedeutete. Die Juden bildeten einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil. Ihre Bereitschaft auszuwandern war groß. Dieses Galizien gibt es nicht mehr, seit die Nazi-Truppen ab 1941 sein Judentum vollständig vernichtet haben.

Karl Emil Franzos, der dieser Sphäre entstammt und in Wien und Berlin ein erfolgreicher Schriftsteller und Herausgeber geworden ist, hat Galizien „Halb-Asien“ genannt (so ein Werktitel, 1876). Zu Recht bringt ein Beitrag des Bandes (von Iulia-Karin Patrut) die bekannte ‚Orientalismus‘-Debatte ins Spiel, die Edward W. Said angestoßen hat: Aus deutscher Position habe man herablassend auf dieses zurückgebliebene Gebiet geblickt, es habe „dem orientalistischen Voyeurismus Anschauungsmaterial“ geliefert. Franzos habe die Zivilisation der Galizier heben wollen und dabei ein „Zelebrieren der Überlegenheit des Deutschen“ unternommen, während ein anderer berühmter Galizier, Leopold von Sacher-Masoch, in seinen Werken immerhin andeute, dass das Judentum Galiziens selbst die Anlage habe, eine segensreiche Kulturmacht zu sein.

Einen wunderbaren Einblick in die geistige Kultur Galiziens geben in diesem Band die Zitate aus der Autobiografie des Schauspielers Alexander Granach: Der Knabe wächst auf, indem ihm jiddisches und slawisches Liedgut und ukrainische Legenden dargeboten werden und ihm, in der jüdischen Schule, die „Heiligkeit des gedruckten Wortes“ erklärt wird. Der Wert des Wortes, der Gehalt der Namen prägen ihn lebenslang: Nein, „Name ist nicht Schall und Rauch!“

Die Beiträge des Bandes sind solche, die über das Schicksal einzelner aus Galizien stammender Dichter und Schriftsteller berichten, sodann solche, die Werk-Interpretationen bieten, und schließlich sind es Beiträge, die die überlieferten Galizien-Bilder und -Darstellungen, also die „Galizien-Diskurse“ und den Mythos Galizien, umreißen und bewerten. Natürlich sind die Grenzen zwischen diesen drei Kategorien fließend.

Was die einzelnen Schicksale angeht, so sei besonders der Essay (von Hans-Jürgen Schrader) empfohlen, der die Dichterin Mascha Kaléko behandelt, die durch ihre rebellischen Berliner Gedichte bekannt und leider einseitig darauf festgelegt wurde. Der Essay behandelt Kalékos mehrfaches bitteres Vertriebensein: Von Galizien nach Berlin, von dort nach New York, späte Lebensjahre in Jerusalem und auf Reisen. 1933, sie war noch in Deutschland, mussten die politischen Anspielungen in ihren Texten abgeschwächt werden. Kaléko ist eine Dichterin in der Nachfolge Heinrich Heines, die durch „satirische Waffen“ das Katastrophenjahrhundert und „die Erblast der eigenen Herkunft“ zu bewältigen versucht hat. Andere Beiträge (von Alexandra Strohmaier und Primus-Heinz Kucher) berichten über Alexander Granach, Ella Schapira und Henry W. Katz und legen dar, wie diese Galizier durch ihr autobiografisches Erzählen ihr Selbst fanden und sich dabei der Unsicherheit aller angeblicher „Verwurzelung“ bewusst wurden. Das Scheitern ihrer „jüdisch-deutschen Inklusionsanstrengungen“ habe ihr poetisches Können bewirkt. Aus Granachs Autobiografie haben wir schon zitiert.

In der Reihe der Wirkinterpretationen dieses Bandes wird der Bogen gespannt von den zionistischen Romanen und ihrem für die Juden Galiziens hoffnungsfrohen Gehalt (Beitrag von Mark H. Gelber) bis zur Lyrik von Rose Ausländer. Ausländer hat (so Elaine Martin) immer wieder ihren Heimatort Czernowitz verklärt und auf diese Weise den Bruch zwischen einst und der neueren Zeit beschworen. Nach dem Holocaust heißt diese Verklärung so viel wie Einsicht in die endgültige „Unerreichbarkeit“. Die Konversionen, die oft bei Heiraten in Galizien nötig waren, und das Thema Heirat erörtern zwei Beiträge (von Annette Werberger und Paula Giersch). Die Konversion bedeutete für einen Juden in Galizien einen radikalen Wechsel des kulturellen und oft sogar des politischen Standorts, und sie ist daher in den Romanen aus dieser Region ein gewichtiges Handlungsmotiv, gewichtiger als das traditionelle Motiv ‚unglückliche Liebe‘.

Bedeutsam ist der Blick (von Katharina Krčal) auf Joseph Roths galizische Reiseberichte. Roth kannte die Klischees über Galizien, wusste von ihrem teilweisen Wahrheitsgehalt und ging auf souveräne und aufklärerische Weise damit um. Er schrieb, Galizien habe „mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt“, forderte durch solche und andere Pointen das Erstaunen seiner Leser heraus und attackierte damit den „westlichen Überlegenheitsgestus“.

Mit Roths Behandlung der Klischees sind wir bei der Auseinandersetzung mit dem „Mythos Galizien“, dem einige Beiträge speziell gewidmet sind. Reiseberichte von geografischen Forschern aus dem 18. Jahrhundert haben (so Ritchie Robertson) stark mit Stereotypen gearbeitet und sie verbreitet. Für sie war „alles umsonst“, was man in Wien plante zugunsten der armen Juden, weil die Juden „in Ewigkeit die Betrüger, die Meyneidigen“ seien. Die allmähliche Ausrottung der Juden durch Heiratsverbot sei sehr zu wünschen. Gleichwohl sind die alten Reise-Werke dank ihrer genauen Berichte über die Armut wertvoll. Die Scheu vor den Ostjuden hielt fortan an, auch unter den Juden in Deutschland und Mitteleuropa. Selbst ein Victor Klemperer distanzierte sich (wie Arvi Sepp darlegt) von diesem fremden, voraufklärerischen Judentum. Klemperer schrieb, eine Gemeinschaft des Geistes habe er mit anderem, nämlich „mit dem, was europäisch“ ist. Ein Aufsatz (von Maria Kłańska) befasst sich mit der soziologischen Analyse „Das Elend Galiziens in Ziffern“ (1888) von Stanisław Szczepanowski, die die materielle und geistige Not Galiziens statistisch erfasst und die Rückständigkeit seines wirtschaftlichen Systems charakterisiert. Diese klarsichtige Schrift ist nie ins Deutsche übersetzt worden.

In vielen Beiträgen schwingt der Respekt vor dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit, der dadurch, dass er sich nicht als Nationalstaat definiert hat, eine hohe „Toleranz gegenüber ethnischer Divergenz und Vermischung“ besaß, wie die Herausgeber betonen. Interessanterweise haben manche aus Galizien Stammende schon dieses Land selbst und seine Multikulturalität als einen Hort der Toleranz empfunden. So Rose Ausländer; der erwähnte Beitrag über sie berichtet und diskutiert diese – freilich allzu positive – Sicht.

Ich habe einen Aufsatz über Franzos und Sacher-Masoch erwähnt und möchte noch einen zweiten zu diesem Thema (von Anna-Dorothea Ludewig) vorstellen. Der Aufsatz ist inhaltlich sehr gut: Er arbeitet die Unterschiede zwischen den beiden Schriftstellern heraus, beschreibt ihre publizistische Gegnerschaft und beleuchtet die bei beiden vorhandene Spannung, einerseits sich innerhalb ihrer jüdischen Identität bewegen und andererseits eine Außenperspektive einnehmen zu wollen. Die flapsige Sprache in diesem Aufsatz stört, den Ausdruck „nachvollziehbar“ etwa sollte sich die Autorin abgewöhnen. Seltsamerweise ist gerade in diesem Fall die Zusammenfassung der Herausgeber fehlerhaft. Ein weiterer Kritikpunkt an diesem Band: Öfters werden Lebensdaten nicht genannt. Wer zum Beispiel über Rose Ausländer referiert, sollte auch ihr Geburts- und ihr Todesjahr nennen.

Die Forschung über Galizien ist reichhaltig. 2004 hat in Wien das große Symposion anlässlich des 100. Todestages von Karl Emil Franzos stattgefunden, und kürzlich ist die Gesamtdarstellung „The Idea of Galicia“ des amerikanischen Historikers Larry Wolff erschienen. Unser Band, hervorgegangen aus einer Tagung an der irischen Universität Maynooth unter Mitwirkung der Universität Trier, steht würdig in dieser Tradition. Er bietet kluge Überlegungen und Deutungen zum „Mythos Galizien“ und liefert viele Einzelheiten über die Literaten – über ihre Schicksale und über ihre Werke –, die aus Galizien stammen oder sich mit Galizien befasst haben. Die Herausgeber berichten in ihrer Einleitung, dass es in unserer Zeit in der Ukraine offizielle Feiern zu Ehren von Kaiser Franz Joseph gibt, bei denen man sich zu Galiziens Historie bekennt und, davon ausgehend, sich als Teil Mitteleuropas sieht. Der letzte Beitrag (von Hans-Joachim Hahn) schließt indirekt daran an. Er sagt, Galizien könne heute „ein Drittes“ in Europa sein, ein Drittes neben West- und Osteuropa, und er erklärt, die alten Begriffe „Zentrum Europas“ und „Peripherie Europas“ taugten nichts mehr. In der Tat, es sind die Begriffe, die dem Ansehen Galiziens von Anfang an geschadet haben.

Titelbild

Franziska Schößler / Florian Krobb / Paula Giersch (Hg.): Galizien im Diskurs. Inklusion, Exklusion, Repräsentation.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
369 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783631635018

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