Von wegen Reiseverbot

Cornelia Klauß und Frank Böttcher haben einen Band über die illegalen Trips junger DDR-BürgerInnen in die große Sowjetunion publiziert

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat sich als Erklärungsmuster bis in die Geschichtsbücher hinein erhalten: Fehlende Reisemöglichkeiten jenseits der üblichen Ferienaufenthalte in Badeorten am Schwarzen Meer oder am ungarischen Balaton brachten die Bevölkerung der DDR so sehr gegen ihr Regime auf, dass sie fluchtartig im Sommer 1989 das Land verließen und so zum Zusammenbruch des Staates beitrugen. Mag dies im Großen und Ganzen auch zutreffen, so tauchen im Rückblick bei genauerem Hinsehen auch Alternativen zu dieser staatlichen Reiselenkung und -verhinderung auf. Einige DDR-BewohnerInnen verfügten durchaus über eigene Ausweichstrategien gegenüber der herrschenden Partei- und Polizeimacht, so dass auch das Reiseverbot seine Umgeher fand. Sich der Menschen zu erinnern, die auf ganz besondere Weise vorgeschriebene Regeln kreativ umgingen, war das Ziel der Filmemacherin Cornelia Klauss, die in einem Dokumentarfilm und mit einer Ausstellung das Phänomen „Unerkannt durch Freundesland“ (UdF) einem größeren Publikum bekanntmachte. Glücklicherweise überführte sie Film und Ausstellung dann auch in eine gelungene und äußerst lesenswerte Buchform. Zwei Jahre nach Erscheinen liegt nun bereits die dritte, um weitere Beispiele erweiterte Auflage vor.

Worum geht es? Um die bürokratische Existenz der „Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“, die Bürgern der DDR erlaubte, „über VR Polen, UdSSR, CSSR, Ungarische VR auszureisen“. Seit 1969 galt diese Regelung des Transits durch die Sowjetunion, um vorgegebene Drittländer innerhalb des Warschauer Pakts zu erreichen. Der Transit war auf 2-3 Tage festgelegt. Die Stasi musste aber, wie der Historiker Christian Halbrock akribisch belegt, hin und wieder zur Kenntnis nehmen, dass einige Reisende diese Vorgabe ganz individuell auslegten: Etwa jene drei Dresdner Studenten, die 1988 von der sowjetischen Miliz am Japanischen Meer mit einer längst abgelaufenen „Reiseanlage“ für den Transit nach Rumänien aufgegriffen wurden – einem Land, das offensichtlich nicht auf ihrer Reisestrecke lag. „Zu ihrer Entschuldigung gaben sie an, zur ,Eröffnung eines Karl-Marx-Denkmals‘ zuvor über Petropawlowsk nach Kamschatka gereist zu sein.“

Die erforderliche ,Einladung‘ hatten sie sich mit Xerox-Kopien eines Schriftwechsels zwischen dem Oblast-Komitee des Komsomol auf Kamschatka und einer DDR-Jugendorganisation selbst gebastelt. Wie drei andere Dresdner Studenten auf ähnliche Weise ihren Trip nach Baku in Aserbaidschan realisierten, kann nun von den Protagonisten ausführlich geschildert in dem opulenten Band nachgelesen werden.

Es ging den Wenigsten um die Möglichkeit einer Flucht aus der DDR via SU (wenn auch das Beispiel einer solchen Reise im Buch zu finden ist), sondern darum, den Transit in der Sowjetunion nach eigenem Gutdünken auszudehnen. Ihr Ansporn lag in einer eigensinnigen Uminterpretation der vorgegebenen Rhetorik von der Freundschaft zur UdSSR und einem Denken der Freiheit, wie es amerikanische Beatniks, Tramper und Dissidenten in aller Welt vorgemacht hatten. Das Ergebnis war ein im Nachhinein höchst staunenswert erscheinender Beweis von Kreativität und Selbstbestimmung in Zeiten der Diktatur. Die wenigsten der UdF’ler hatten eine selbst auferlegte Mission, wie jener Pfarrer und Bibelschmuggler, der mit seiner heißen Fracht häufig in Russland unterwegs war. Die meisten zog die Weite des Landes, das Unbekannte und Unerwartete an – und dies wurde ihnen reichlich geboten. Ohne genauere Kenntnis des Riesenlandes, meist mit nur wenig Geld, ohne „marschrut“ oder lokale Aufenthaltserlaubnis und daher auf der Hut vor Kontrollen der Miliz und des KGB erlebten sie häufig eindringliche Erlebnisse mit den Bewohnern: Kontakte zu Künstlern und gleichgesinnten Jugendlichen, Einladungen zum Essen und Wohnen, Hilfe bei allen möglichen Fährnissen wie Radbrüchen und dem immer in Abenteuer ausufernden Fahrkartenkauf. Vieles von dem, was heute an Ausrüstung für solche Trips selbstverständlich ist: Rucksäcke, Schlafsäcke, Landkarten und Stadtpläne, Bergschuhe und Eispickel für diejenigen, die in der SU Berge besteigen wollten, gab es in der DDR kaum. Sie mussten von den Illegalen in mühsamer und erfinderischer Arbeit selbst hergestellt werden. Landkarten wurden entweder aus Schulbüchern oder von Reisebekanntschaften abgezeichnet oder aus dem Gedächtnis reproduziert.

Ob auf Zügen, zu Fuß, im Flugzeug, im Bus, mit dem Moped oder Motorroller, dem Fahrrad oder einem selbstgebauten Eissegler auf dem Baikal-See – das Erlebnis fantastischer Landschaften und freundlicher Menschen war für jeden der UdF’ler der eigentliche Gewinn oft abenteuerlicher Trips bis tief nach Asien oder Sibirien hinein. „Kein Buch hätte jemals ein so plastisches Bild der Sowjetunion vermitteln können, wie wir es unterwegs gewannen. Wir lernten bewundernswerte Menschen kennen, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen, und verachtungswürdige. Wir begegneten Bürokraten, Denunzianten, Antisemiten, zynischen Nutznießern der politischen Verhältnisse, aber auch Menschen, die dem System tapfer ihre Freiheit und Würde abtrotzten.“

Für die Nestflüchter war UdF auch Teil einer Initiation in das Leben als Erwachsener und einer Einsicht in die unter ideologischen Phrasen verschüttete Realität. Einige brachten es später als Politiker recht weit, der Mitherausgeber und UdFler Frank Böttcher gründete den erfolgreichen Verlag, in dem das Buch „Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich” erschienen ist. Glücklicherweise ist der Band mit zahlreichen, von den UdF’lern aufgenommenen, sehr ausdrucksstarken Fotos und im Umschlag mit typischen Postkarten der Zeit versehen, so dass die lebhaften Erzählungen mit der Gestaltung des Bandes sich für den Lesenden zu einem differenzierten Gesamteindruck dieser historischen Reiseform ergänzen. Nachzuholen ist diese nicht mehr, denn viele der damals innerhalb des Sowjetimperiums ohne Pass erreichbaren Regionen sind heute unabhängige Staaten und unterliegen eigenen (oft sehr restriktiven) Passbestimmungen.

Titelbild

Cornelia Klauß / Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich.
Dritte erweiterte Auflage.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2012.
500 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783867320764

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