Klassiker auf Abwegen

Günter de Bruyn erzählt einfühlsam vom Leben Jean Pauls

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedenkjahre sind die Herrenjahre der Wirkungsgeschichte. Selbst ungelesene Klassiker kommen, steht ein Dichterjubiläum an, zu publizistischen Ehren. Neuausgaben erscheinen, Anthologien und Lesebücher machen die Runde, Kritiker gehen in meist freundliche Habachtstellung, die Öffentlichkeit wird, vorausgesetzt, sie ist daran interessiert, mit Tagungen und Symposien bedacht. Das ist ein Element des deutschen Kulturbetriebs. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Aber wer liest heute wirklich noch Jean Paul (1763-1825)? Lohnt es überhaupt, ihn wiederzulesen? Einen Autor immerhin, der in 47 Schreibjahren doppelt so viele Werkseiten produziert hat wie Goethe und wie Thomas Mann und dessen Wortschatz zu den reichsten der deutschen Literatur gehört (mit Wortneuprägungen wie „Leihbibliothek“, „neureich“ und „Katzensprung“)? Ja, man sollte Jean Paul wiederlesen, am besten mit einem Leitfaden wie dem von Günter de Bruyn.

Der 1926 in Berlin geborene Autor darf unter den Lesern Jean Pauls als einer der ein- und umsichtigsten gelten. 1975 erschien seine Jean Paul-Biografie, eine Nebenarbeit zum Romanwerk, wie es schien, hinter der aber weit mehr steckte, was man schon in de Bruyns besten Romanen, der „Preisverleihung“ und der „Neuen Herrlichkeit“, erkennen kann, die ersichtlich vom trockenen Jean Paul’schen Sprachwitz angesteckt sind. Auch in den großen Essays de Bruyns über die preußische Kultur 1786 bis 1815, „Als Poesie gut“ und „Die Zeit der schweren Not“, findet man elegante Miniporträts Jean Pauls.

Für de Bruyn ist Jean Paul ein unklassischer Klassiker in der „Zeit der schweren Not“ zwischen Französischer Revolution und Restauration, umschwärmt und vielverehrt, zumal von Leserinnen. Jean Paul war einer der wenigen humorbeseelten Autoren der deutschen Literatur, der der Humor nicht in die Wiege gelegt worden ist, ein gottgläubiger Aufklärer, ein Weltbürger in Bayreuth: Das sind die Vorzeichen, unter die Jean Pauls Leben und Schreiben von Günter de Bruyn gestellt werden. Und das stets mit milder Ironie. So bekommt der „beständig auf ehescheuen Freiersfüßen“ (Kurt Wölfel) wandelnde Junggeselle in dem Kapitel „Weiber die Menge“ sein Fett weg.

Gegenüber den neuen Jean Paul-Biografien von Pfotenhauer und Zaremba hat das Buch von Günter de Bruyn den Vorzug einer Einfühlsamkeit, die man des stillen Humors wegen, mit dem sich der Verfasser seinem Kollegen nähert, fast kongenial nennen könnte. Fast, denn de Bruyn ist zu sehr Realist, auch als Erzähler, um den Fehler zu begehen, der Jean Paul von Zeitgenossen oft angekreidet wurde, voran von Goethe: allzu verschwenderisch mit dem sprachlichen Reichtum umzugehen, der dem Dichter zu Gebote steht. Jean Paul wollte seine Feder wie einen „Eiszapfen“ führe, geriet aber immer wieder ins „Sieden und Flammen“. Deutlich macht der Biograf das in dem Kapitel „Der Chinese in Rom“. Der Titel stammt aus einem Gedicht Goethes aus dem Jahr 1796. Im Juni war Jean Paul bei Hofe, hatte aber den Weimarer Meister durch eine offenbar missverstandene Briefäußerung so verdrossen, dass ihn dieser, so de Bruyn, kurzerhand zum „Barbaren in der Stadt der Kultur“ stempelte. Der letzte Vers etabliert die bekannte Goethe’sche Differenz vom Klassisch-„Gesunden“ und romantisch-schwärmerisch „Kranke(n)“.

Dass die unbändige Erzählfreude Jean Pauls, die einer findefreudigen Sprache entspringt, die vielleicht liebenswürdigste Einladung zum Wiederlesen ist, zeigt de Bruyn vor allem an den frühen, den „heroischen“ Romanen. In „Die unsichtbare Loge“ (1793), „Hesperus“ (1795) und auch im „Titan“ (1800) – dem er eine Einladung bei Königin Luise verdankte – lässt Jean Paul uns tief ins Kuriositätenkabinett der bürgerlichen Seele blicken. In den räsonierenden Satiren lernt man den 1825 verstorbenen Autor von seiner wohl witzigsten Seite kennen.

Günter de Bruyns Jean Paul-Biografie ist eine kundige Lese-Einladung und Empfehlung.

Titelbild

Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
352 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100096449

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