Diskurse des Niedergangs

Postum erscheint die Untersuchung der Literaturwissenschaftlerin Caroline Pross über das Verhältnis von „Moderne“ und „Dekadenz“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2009 war die hier in Buchform vorliegende Studie von Caroline Pross an der Universität Sankt Gallen als Habilitationsschrift angenommen worden. Die Autorin (geboren 1971) verstarb 2011. Zu diesem Zeitpunkt war von ihrer Seite wie auch von seiten des Wallstein Verlags eine Publikation anvisiert, sodass der Verlag, indem er das Werk nun im Einverständnis mit den Hinterbliebenen herausbringt, dem Wunsch der Verstorbenen folgt. Freilich steht die folgende Besprechung im Schatten des überaus traurigen Fatums libelli; doch gedenken wir der Verfasserin vielleicht am besten, wenn wir ihr wissenschaftliches Vermächtnis hier vorstellen und würdigen.

Dass es kein einfaches Unterfangen war, das ohnehin nicht sonderlich scharf konturierte Gebiet des mit „Dekadenz“ Gemeinten als ein essentielles Moment des kaum weniger problematischen Phänomens namens Moderne zu bestimmen, erhellt schon aus den hundert Seiten forschungsgeschichtlicher und definitorischer Vorüberlegungen, die Caroline Pross ihrer eigentlichen Untersuchung voranstellt. Diese gilt ausgewählten Romanen der hohen Zeit des „Erzählschemas ‚Dekadenz‘“, will sagen des Zeitraums zwischen den 1880er-Jahren und dem Ende des Ersten Weltkriegs. „Ziel ist es […], in close readings von Schlüsseltexten exemplarisch zentrale Argumentationsfiguren, Sprachformen, Vertextungsverfahren und Stilgesten des Dekadenzdiskurses der frühen Moderne herauszuarbeiten.“

Man geht wohl nicht ganz fehl, wenn man die hier zu besprechende Publikation als eine Anschlussschrift im Gefolge der bedeutenden Arbeit „Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts“ (Heidelberg 2004) von Dieter Kafitz liest. Pross hatte das immens materialreiche und auch vorzüglich lesbare Buch des Mainzer Germanisten 2005 (Kafitz war 2004 verstorben) eingehend rezensiert („Literarische Archäologie. Perspektiven der Forschung zur ‚Décadence in Deutschland‘“) und dabei vom Autor „aufgerissene“ „Lücken“ festgestellt. In ihrer Habilitationsschrift rekurriert Pross nun mehrfach auf Kafitz und markiert Gemeinsamkeiten wie Differenzen. Methodologisch ist Kafitz mehr als Pross dem diskursanalytischen Instrumentarium Michel Foucaults verpflichtet; Pross wählt eine „narratologische Untersuchungsperspektive“. Beide verzichten auf Personen- und Sachregister, was den Gebrauchswert der Bände schmälert.

Bei den von Pross ausführlich unter die Lupe genommenen „Schlüsseltexten“ handelt es sich um Max Nordaus „Die Krankheit des Jahrhunderts“ (1887), Gerhard Ouckama Knoops „Die Dekadenten“ (1898), Thomas Manns „Buddenbrooks“ (1901) und Eduard von Keyserlings „Abendliche Häuser“ (1914). Zum Schluss unterzieht die Autorin Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) einer dichten Analyse, die nicht zuletzt deshalb besonders ertragreich ausfällt, weil der Beginn der Arbeit Manns an diesem Roman (1913) noch in die Zeit der allgemein florierenden „Dekadenz“-Debatten fällt, ihr Abschluss jedoch erst nach dem epochalen Gewaltereignis des Krieges vollzogen wurde.

„‚ein Buch des Abschiedes‘ oder: Wie bringt man einen Diskurs zu Ende?“ lautet Pross’ Überschrift über ihrem allerletzten Abschnitt, der sich mit Manns „Abkehr und Distanzierung von einer Zeitdiagnostik“ befasst, „welche die Gegenwart in Kategorien des Niedergangs und des Verfalls beschreibt“. Dort, im „Zauberberg“ (Kapitel „Schnee“), steht: „Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdekrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da […]. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

„Dekadenz“ gelangt in den deutschsprachigen Raum während der frühen 1890er-Jahre, in erster Linie lanciert von dem österreichischen Modernitätspropagandisten Hermann Bahr, der französische Weltsichtsideen Théophile Gautiers und Charles Baudelaires über den Rhein transportierte. Von weitaus größerem Einfluss jedoch war – in diesem Punkt beispielsweise divergiert Pross’ Argumentation von der Kafitz’ – Friedrich Nietzsche. Dieser diagnostizierte in seiner Polemik „Der Fall Wagner“ (1888) im Anschluss an Paul Bourgets „Essais de psychologie contemporaine“ (1883): „Womit kennzeichnet sich jede literarische décadence? Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der décadence: jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘, moralisch geredet […] ‚gleiche Rechte für alle‘.“ Von dieser Warte aus gesehen, wurde die „strukturelle Desintegration von Bedeutungseinheiten und Formen“ zu einem Stilmerkmal, welches sowohl literarische als auch generell kulturelle Erscheinungen als Symptome einer müden und entkräfteten „Spätzeit“ charakterisierte.

Max Nordaus Roman „Die Krankheit des Jahrhunderts“ fiktionalisierte jene ominöse, vom Autor selbst wenige Jahre danach (1892/93) theoretisch elaborierte Theorie der „Entartung“, die hauptsächlich von der (psycho)pathologisch-kulturdiagnostischen Sicht des französischen Mediziners Bénédicte Augustin Morel („Traité des dégénérescences physiques, intéllectuelles et morales de l’espèce humaine“, 1857) inspiriert war. Mit diesem damals sehr erfolgreichen Buch führte Nordau, so Pross, das „Erzählschema der ‚Dekadenz‘ in die deutschsprachige Romanliteratur der 1880er Jahre“ ein und schuf auf diese Weise den Typus des „Dekadenzromans“, der von nun an Karriere machte – allerdings „unter veränderten Wertungsvorzeichen“. So figurierten plötzlich Schriftsteller, die Nordau noch als Prototypen der „Entartung“ denunziert hatte (Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Algernon Charles Swinburne, Emile Zola, Henrik Ibsen oder Leo Tolstoi), nach einer bemerkenswerten axiologischen Kehrtwende um 180 Grad als „wegweisende Gestalten“.

Der Roman „Die Dekadenten“ des nur wenig bekannten Autors Ouckama Knoop ist im von Max Nordau begründeten Diskursfeld zu verorten und behandelt auf neue Weise die „Entartungsfrage“, indem er typischen Merkmalen von „Dekadenz“ oder „Degeneration“: Nerven- und Willensschwäche, also den „Verlust an vitaler Kraft“, insofern Wert beimisst, als derartige Symptome, die auf „Verfeinerung“ hindeuten, Zeichen von „Degenerierten höherer Gattung“ sein können. „Im Ergebnis“, so Pross über Ouckama Knoop, „erscheint die gesellschaftliche Mehrheit […] nicht länger als positive Orientierungsgröße, sondern als eine ‚gewöhnliche[ ], stumpfe[ ] Masse‘. Dieser ‚Menge‘ und ‚Masse‘ gegenüber stellen die auf die ‚veredelten Menschen’ der Zukunft verweisenden ‚Dekadenten‘ sich nun nicht mehr als negative Ausnahme dar, sondern als eine menschheitsgeschichtliche Elite und Avantgarde.“

Thomas Manns „Buddenbrooks“ knüpfen „in vielerlei Hinsicht an […] Paradigmen des deutschsprachigen Dekadenzromans“ an. Bereits der Untertitel „Verfall einer Familie“ lässt keinen Zweifel an der thematischen Affinität zum zeitgenössischen „Dekadenzschema“. Wie dem Beispiel der „lebenszugewandten Hagenströms“ abzulesen ist, nimmt der Autor der „Buddenbrooks“ mitnichten einseitig Partei für das ungebärdig Vitale, das ja die Male der „rohen, nackten Instinkte der Selbsterhaltung“ auf der Stirn trägt. Dennoch ist mit dem Dahinscheiden des „Wagnerianers“ Hanno, des letzten Buddenbrook, ein unüberhörbares Signal gegeben, welches Nietzsches Dekadenzkritik herbeizitiert. Zwar diagnostiziert Thomas Mann im Anblick von Schwäche des Nervensystems und mangelnder Lebenskraft das Phänomen Dekadenz, inkriminiert jedoch solche Insuffizienz nicht; denn Hannos Tod, der den Buddenbrook’schen Niedergang beschließt, stellt sich „in Ermangelung einer kulturellen Alternative als der Preis dar, der für die Ausbildung einer ‚differenziertere[n]‘ Kultursphäre entrichtet werden muß“.

Pross’ narratologische Sichtung der „Buddenbrooks“ erbringt schließlich das Ergebnis, demzufolge dieser Roman – primär deswegen, weil er mit dem „‚Leitmotiv‘-Verfahren“ eine damals vielgeübte Technik des „‚Verfalls‘-Stils“ kultiviert – „nicht nur ein ‚novel of decadence‘, sondern auch ein ‚decadent novel‘“ ist. – Hier scheint, als widerspreche die narratologische Strukturanalyse der naiven Leseerfahrung recht gründlich.

Als „decadent novel“ kategorisiert Caroline Pross auch Eduard von Keyserlings „Abendliche Häuser“. Sie liest den Roman im Licht der Anthropologie des Autors, die ihrerseits parallel zum zeitgenössischen – biologisch und milieutheoretisch tingierten – Diskurs um Fortschritt und Niedergang, um höhere und niedere Entwicklungsstufen oder um Aufstieg und „Degeneration“ konstruiert ist: „Während der ‚primitive Mensch‘ durch die Dominanz von ‚Gefühl‘ und Sinnlichkeit gekennzeichnet ist, wird diese Disposition im Prozeß der Kultur immer weiter durch die Dominanz des ‚Geistes‘ ersetzt.“

So verwundert es wenig, wenn Keyserling in Gestalt der Roman-Erzählinstanz Sympathie für diejenigen erzeugt, die, mit „kränkliche[r] Konstitution“, „topische[r] Blässe und Zartheit“ und „nervöse[r] Motorik“ ausgezeichnet, die Jugend der Moderne verkörpern: „Radikaler noch als der frühe Thomas Mann bekundet der ‚verfeinerte Stilist[ ]‘ Keyserling keine nennenswerte Distanz mehr zu den ‚abendlichen‘ Welten seiner Werke, sondern gibt sich solidarisch mit deren Gedanken-, Sprach- und Formenrepertoire.“

Nur, und das wäre aus den „Abendlichen Häusern“ zu lernen: Ein konsequent gegen den Primitivismus des „Gefühls“ und der „Sinnlichkeit“ geführtes Leben im Namen des „Geistes“ überdehnt mitunter die Kapazitäten des Naturwesens Mensch und erschöpft seine Lebensressourcen: Manches geistes- und kulturgeneigte Individuum verliert, so Pross in Anlehnung an Eduard von Keyserling, die „Kraft weiterzuleben“ und wird „im Wortsinne ‚todmüde‘“.

Beim – von Thomas Mann 1913 konzipierten und 1924 publizierten – „Zauberberg“ handelt es sich bereits um ein „historical novel“. Der Roman zieht „eine Art summa des europäischen Seelen- und Geisteszustandes der Vorkriegszeit“, lässt die „unterschiedliche[n] Versionen des modernen Dekadenzdiskurses“ in ihrer irreduziblen Polyphonie noch einmal Revue passieren und erklärt sie sämtlich für passé. Mann hatte sich ja inzwischen für eine „zuversichtliche und affirmative Haltung“ gegenüber der Moderne entschieden und wehrte „Untergangsnarrative“ wie das Oswald Spenglers ab. Der „Zauberberg“ bringt den Diskurs über „Dekadenz“ qua Historisierung zu Ende, daher: „ein Buch des Abschiedes“:

Titelbild

Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
436 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312012

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