Bodies, biographies and buildings

Monika Shafis Studie „Housebound“ beschäftigt sich mit den Wechselbeziehungen von Häusern und Menschen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Interieur ist nicht nur das Universum, sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichen Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab.“

(Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)

Im Leben wie in der Literatur sind Häuser bedeutsame Objekte, ja, Subjekte: Sie verkörpern – häufig sehr emotionale – Erfahrungen und Erinnerungen, repräsentieren den finanziellen Status ihrer Besitzer, zeigen architektonische und ästhetische Merkmale und Vorlieben einer Epoche auf, geben Hinweise auf soziale Traditionen einer Kultur. Das Haus kann, so die Ausgangsthese von Monika Shafis Studie, betrachtet werden „as the key space for our constructions of selfhood and belonging“.

In der Einleitung zu ihrer Untersuchung spricht Shafi, Elias Ahuja Professor of German und Chair of the Department of Women and Gender Studies an der University of Delaware, die ihr für das Schreiben ihrer Monografie ein Sabbatjahr gewährte, von ihrem starken und kontinuierlichen Interesse an Häusern, an „location, design, materials, furniture, and, most importantly, the relationships we build in and through houses“.

Eine beeindruckende Anzahl deutschsprachiger Gegenwartsautoren beleuchtet in ihren Werken die facettenreichen Interdependenzen von Bewohnern und häuslicher Sphäre, das komplexe Wechselspiel von Subjektivität und Raum: „Houses are powerful objects and can provoke great passion. Like love or travel […] houses belong to the basic inventory of literary traditions, and the interaction between dwelling and traveling, stasis and movement […] has yielded ample fictional material“.

Ihrer Interpretation der ausgewählten Texte stellt Shafi einen Überblick über die theoretischen Aspekte und Paradigmen ihres Themas voran, wobei sie sich primär auf die gängigen kulturwissenschaftlichen, anthropologischen und literaturwissenschaftlichen Diskurse bezieht. Die von ihr fokussierten Studien belegen die Bedeutsamkeit von Häusern sowohl in der europäischen wie in der amerikanischen Literatur. So spricht beispielsweise Nacim Ghanbari in ihrer auf die Jahre 1850 bis 1926 bezogenen deutschen Literaturgeschichte des Hauses von sogenannten „Häuserromanen“, in denen das Haus eine genealogische Metastruktur darstelle.

Hier mögen einem sogleich die „Buddenbrooks“ in den Sinn kommen, in denen der Verfall der Familie an der Transformation ihrer Räume anschaulich wird: Narrativ wird eine Genealogie verschiedener Subjektbegriffe und Raumkonzepte entfaltet. Mit der Entwicklung der Räume von sozial-geselligen hin zu solitär erlebten und selbstreferentiellen, zunehmend metaphorisch aufgeladenen, abgegrenzten Bezirken einzelner Familienmitglieder geht die Entwicklung der Figuren hin zu empfindenden, sinnlich-emotionalen einher. Dem Monologisch-Werden der Subjekte und dem Selbstbezüglich-Werden der fiktionalen Räume korrespondiert zugleich das sich mehr und mehr ausprägende Selbstreflexiv-Werden des textuellen Raums, sodass sich ein diffiziles und engmaschiges Geflecht von Raum, Figur und Text herausbildet.

Nicht allein in Gaston Bachelards „Poetik des Raums“ wird das Haus als eine wichtige räumliche Metapher konzeptualisiert: Es ist „Lagerraum“ und „Fundgrube“ personaler Erinnerungen und Träume. Räume werden von Subjekten erlebt und belebt. Solcherart ist erlebter Raum niemals leblos, sondern lebendig und atmosphärisch: Subjekte leben in mit Qualitäten versehenen, von Fantasmen bevölkerten Räumen: „Der Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften – sie enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten; es ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum; […] es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der Kristall“ (Michel Foucault, Andere Räume). Im Zentrum des Wahrnehmungsraumes befindet sich stets das wahrnehmende Subjekt.

In sechs Kapiteln nimmt Shafi ihre Leser via „close readings“ mit auf „house tour, showing them doors, rooms, attics, basements, and closets – that is to say, domestic areas rich in symbolic meaning“. Jenny Erpenbecks „Heimsuchung“, Katharina Hagenas „Der Geschmack von Apfelkernen“ (im Inhaltsverzeichnis findet sich hier fälschlicherweise „Der Geschmack von Apfelkernen“ mit Katharina Hacker als Autorin assoziiert) und Monika Marons „Endmoränen“ geraten hierbei ebenso in den Blick wie Katharina Hackers „Die Habenichtse“, Arno Geigers „Es geht uns gut“, Walter Kappachers „Selina oder das andere Leben“, Susanne Fischers „Platzanweiserin“, ausgewählte Erzählungen Judith Hermanns sowie Emine Sevgi Özdamars „Der Hof im Spiegel“ und „Seltsame Sterne starren zur Erde: Wedding-Pankow 1976/77“.

Das Panorama ist breit angelegt, das ausgewählte Textkorpus vielfältig und das interpretatorische Verfahren detailliert und kenntnisreich. Diskurse um Körper und Heimat, Erinnerung und Gedächtnis, Eskapismus und das Unheimliche bereichern das vornehmlich textorientierte, hermeneutisch-deutende Vorgehen Shafis.

Konstitutiv für das Verhältnis von Subjekt und Häuslichkeit scheint die paradoxe Spannung von Heimat und Fremdheit zu sein: So heißt es beispielsweise in Erpenbecks „Heimsuchung“: „Daheim zu sein, war schon die Hälfte der Fremdheit, ohne dass sie es damals, als sie noch daheim war, schon gewusst hätte, Kapitel eins sozusagen, und das Fortgehen dann nur die andere Hälfte, Kapitel zwei, die Fremdheit von außen gesehen, beide Hälften gleich groß und einander entsprechend […] Kapitel eins: das Haben, und Kapitel zwei: das Verlieren“.

Zugleich gehen Haus und Bewohnter eine intensive, ja intime Verbindung ein: Sie kommen sich so nah, dass Körper und Gebäude eins werden: „Über die Jahrzehnte“, ist in Hagenas „Geschmack von Apfelkernen“ zu lesen, „hatte sie sich das Haus ganz einverleibt, und wenn man sie obduziert hätte, dann hätte man bestimmt anhand der Windungen ihres Gehirns oder des Aderngeflechts ihres Blutkreislaufs einen Wegeplan durchs Haus erstellen können. Und die Küche war das Herz“.

Wem fiele an dieser Stelle nicht das „Urnekloster“ Malte Laurids Brigges ein, das, so wie er es in seiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfindet, kein Gebäude ist: Es ist ganz aufgeteilt in ihm, „da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang… In dieser Weise ist alles in mir verstreut, – die Zimmer, die Treppen… und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern.“ Zimmer und Säle sind im Herzen des Protagonisten erhalten geblieben, sind zu Körperräumen geworden.

Der Körper ist, wie der Raum, für das Erinnern unabdingbar, denn das Erlebte hat auch im Körpergedächtnis Räume bezogen. Sehr eindringlich beschrieben findet sich dies in „Swanns Welt“ von Proust: „Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Seiten, seiner Knie und Schultern bot ihm nacheinander eine Reihe von Zimmern, in denen er schon geschlafen hatte, an, während rings um ihn die unsichtbaren Wände im Dunkel kreisten und ihren Platz je nach der Form des vorgestellten Raumes wechselten.“ Noch bevor das Denken des Protagonisten die Wohnung durch ein Vergleichen der Umstände eindeutig feststellen kann, erinnert der Körper sich „von einem jeden an die Art des Bettes, die Lage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhandensein eines Flurs, gleichzeitig mit dem Gedanken, den ich beim Einschlummern gehabt hatte und beim Erwachen wiederfand“.

Häuser, per se konnotiert mit dem Gedanken eines Gehäuses, eines Schutzraums, eines „heimeligen“ Bezirks, werden zugleich auch als „unsave“ imaginiert und verbildlichen so die Verkehrung von Gewöhnung beziehungsweise Gewohnheit, Sicherheit und Zugehörigkeit. In Katharina Hackers „Die Habenichtse“ hoffen die Figuren darauf, einen Ort zu finden, der die durch Verlust und Abschied erfahrenen Verletzungen zu heilen vermag, müssen aber erleben, dass „the loss […] cannot be healed“: „In creating homes, characters hope for safety and stability, but dwelling is a fluid and transitory experience to which loss and displacement is integral. They hope to find a protected place in which to develop a coherent narrative, but instead they experience discontinuity and fractured lives“.

Shafis Studie zeigt in überzeugender Weise auf, dass dem Raum – in Gestalt des Hauses – eine herausgehobene Position und Funktion in der Analyse nicht allein zeitgenössischer Erzähltexte zukommt: „In all texts and for all characters, space emerges as the single most important category and by implication as a most useful analytic tool. Space as represented in a domestic setting […] defines how figures perceive themselves and how they relate to the burdens of the past, the memories they carry, and the challenges they face in the present“.

Durchgängig ist die Begeisterung Shafis für ihr Thema spürbar. „Housebound“ stellt, über die beschriebenen spezifischen inhaltlichen Zusammenhänge hinaus, eine ebenso gelungene allgemeine Hinführung zu den analysierten Erzähltexten (und damit zu einer breit gefächerten Auswahl fiktionaler deutschsprachiger Gegenwartsliteratur) dar.

Titelbild

Monika Shafi: Housebound. Selfhood and Domestic Space in Contemporary German Fiction.
Camden House, New York 2012.
223 Seiten, 61,78 EUR.
ISBN-13: 9781571135247

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