Im Regen verloren

Marie NDiayes früher Roman „Ein Tag zu lang“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie jedes Jahr, verbringt Herman mit seiner Frau Rose und dem gemeinsamen Sohn den Sommer auf dem Lande, bei strahlend schönem Wetter erholt er sich von den Strapazen des Lehrerdaseins in Paris. Doch anders als üblich, kehrt die Familie nicht bereits am 31. August zurück in die Stadt, sondern entscheidet sich kurzfristig, einen Tag länger zu bleiben. Und dieser eine Tag verändert alles. Wenn sie das Dorf in der Provinz nur bei schönem Wetter kennen, sich gut fühlen im Ort, die Tage genießen, muss Herman am Tag danach feststellen, dass nichts mehr ist, wie er es kennt. Es regnet in Strömen, und Rose und der Sohn sind verschwunden. Sie wollten nur Eier holen auf dem Nachbarhof, doch dort sollen sie gar nicht eingetroffen sein, wird Herman bescheinigt, als er triefend vor Nässe vor der Türe steht und auf Aufklärung hofft. Für Hermann beginnt eine Irrfahrt ohne Ende. Nicht nur, dass sich das Wetter schlagartig verändert hat über Nacht – wenn während des Sommers jeden Tag eine strahlende Sonne vom Himmel schien und es schön warm war, regnet es jetzt nur noch und ist eisig kalt –, auch aus dem Ferienhaus ist jede Gemütlichkeit gewichen, es ist feucht und abweisend, Herman kann sich schon kaum mehr vorstellen, wie gerne er bis am Vortag hier gewohnt hat. Seine Bemühungen, mehr über den Aufenthaltsort von Rose und dem Kind zu erfahren, sind vergeblich. Zwar sind alle Leute höflich zu ihm, doch sagen können sie nichts, oder sie tun es nicht. Und was macht Herman in dieser Situation? Er akzeptiert die Tatsachen – allein eine unbestimmte Angst bleibt ihm –, er lässt sich vorschreiben, was er zu tun hat, sein Alltag in Paris verblasst, ebenso die Erinnerungen an Frau und Kind. Und als er ihnen tatsächlich im Dorf begegnet, gehen sie aneinander vorbei, und Herman muss feststellen, dass Rose ihn nicht wirklich wahrnimmt.

„Warum hatte er Angst? Weder Rose noch das Kind zitterten, trotz der Kälte. Sie hatten ihren gewohnten Gesichtsausdruck, gelassen, etwas entrückt, aber nicht so viel anders als früher, dass Herman von Schrecken hätte erstarren müssen. Doch das tat er. Der Regenschirm fiel herunter und rollte in die Gosse. Rose sah ihn im Vorbeigehen an und lächelte ihm zu. Es war ein distanzierter, unpersönlicher Blick, ein reines Anstandslächeln. […] Es kostete ihn viel Überwindung, doch er drehte sich um und blickte ihnen nach, erleichtert, noch immer schaudernd. Sie entfernten sich schnell, leichtfüßig, mit außerordentlich anmutigen, geflügelten Schritten. Die dünnen Beine des Jungen schienen von Fäden gezogen zu werden, so zart, dass er zu tanzen schien.“

Hermans Welt ist aus den Fugen, und er fügt sich in eine Ordnung, die vom Dorf, das bis dahin für ihn das Feriendorf, ein Idyll, war, vorgegeben ist. Jeden Tag legt er mehr von seiner Eigenständigkeit ab, wird zu einem von ihnen, die nach Vorgaben, welche niemand so genau kennt, handeln. Es ist eine hierarchische Ordnung, in der es gilt zu wissen, wem man zu folgen hat und wer unter einem steht. Die Regeln sind nirgends einsehbar, doch auch Herman erfasst sie schnell und weiß sehr schnell, was er darf und was nicht. Ob Herman je wieder aus dem Dorf weg kommen wird, bleibt offen, vielleicht hat es dieses Feriendorf mit Haus, Rose und Kind auch gar nie gegeben.

Der Roman „Ein Tag zu lang“ erschien im Original 1994, die Autorin war damals erst 27 Jahre alt. Doch bereits hier ist ihre Fähigkeit zu erkennen, eine beklemmende Geschichte zu schreiben, deren kafkaeske Züge sofort auffallen, die sich damit gegen jede verharmlosende Identifikationsliteratur oder schwärmerische Heimatliteratur wendet. Marie NDiaye hat auch in ihren späteren Romanen immer bewiesen, dass sie eine sprachmächtige Erzählerin ist, insbesondere der Roman „Drei starke Frauen“ stieß auf lobende Kritik, und sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so mit dem Prix Goncourt für den eben erwähnten Roman. 2011 bekam sie auch den „Spycher: Literaturpreis Leuk“, der ihr erlaubt, während fünf Jahren jeweils zwei Monate in den Walliser Bergen zu verbringen und sich fürs Schreiben inspirieren zu lassen. Marie NDiaye lebt seit 2007 mit ihrer Familie in Berlin. Auf ihre weiteren Romane dürfen wir gespannt sein.

Titelbild

Marie NDiaye: Ein Tag zu lang. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
159 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423332

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