Von Melange zu Melange

Robert Schindels großer Wienroman „Der Kalte“

Von Iris HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der beste Ort, um den „Kalten“ zu lesen, ist sicher das Caféhaus. Hier ist das Stimmengewirr, das Gewimmel an Geschichten und das ,Gesums‘ zu finden, das diesen Roman umgibt und ihn ausmacht. Sich eine der zahlreichen Geschichten erzählen zu lassen, braucht etwa genau so lang, wie eine Melange zu trinken. Im Roman wechseln die Stimmen, die die Geschichten erzählen, in nahezu jedem Abschnitt. Selten hält der Erzähler die Fäden lange in der Hand, immer wieder wird der Faden fallengelassen, um alsbald wiederaufgenommen zu werden und sich von Episode zu Episode weiterzuspinnen, bis ein dichtes Geflecht entstanden ist.

Alle diese Geschichten führen durch Wien, durch seine Caféhäuser und die im Roman genau bezeichneten Straßen und Plätze. Der Roman ist ein Wien-Roman im besten Sinne, Wien ist nicht nur der Ort, an dem alles spielt, Wien markiert auch eine Befindlichkeit, eine Atmosphäre und, vor allem, eine Bezogenheit der Figuren aufeinander, die man enger sich kaum vorstellen kann.

Robert Schindel lässt das Geschehen in zwei unterschiedlichen Zeiträumen stattfinden: Die Geschichten erzählen von den Schrecknissen des „Dritten Reiches“ und vom Umgang mit der Schuld vierzig Jahre später: Die 1980er-Jahre in Österreich, die sogenannten Waldheimjahre, in denen heftig gestritten wurde um den Umgang mit der ungeliebten, unbequemen und schrecklichen Vergangenheit, bilden nicht nur den Hintergrund der erzählten Geschichten, sondern der Roman handelt davon: von Waldheim, der als österreichischer Präsident zurücktritt, als seine Rolle in der Wehrmacht bekannt wurde, des weiteren von Alfred Hrdlickas Mahnmal am Albertinaplatz, das nur unter Protest aufgestellt werden konnte und schließlich von Thomas Bernhards Drama „Heldenplatz“, das schon als Nestbeschmutzung verrissen wurde, bevor es überhaupt erst auf der Bühne des Burgtheaters zu sehen war.

Der Roman erzählt diese Geschichten als Schlüsselroman, die Figuren tragen, obwohl unschwer zu erkennen, andere Namen. Dennoch ist der Roman kein Geschichtsbuch, aber er ist ein Geschichtenbuch. In die politischen Ereignisse dieser Jahre webt er weitere Geschichten hinein, die den Kern des Romans ausmachen. Im Mittelpunkt dieser Geschichten sehen wir Edmund Fraul, den KZ-Überlebenden und Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Internationalen Brigaden, immer noch ein unermüdlicher Kämpfer für die gerechte Sache. Persönlich aber hat ihn das Trauma um seine Empfindungen gebracht, die er nur sehr spärlich zum Ausdruck bringt, wenn er sie überhaupt in sich wahrnimmt.

Mit ihm lebt seine Frau Rosa, die als unpolitische Jüdin im KZ war, mit Glück überlebte und nun als Buchhändlerin arbeitet. Beide sind Eltern eines Sohnes Karl, der als Schauspieler am Burgtheater seine ersten erfolgreichen Saisons spielt. Fast alle anderen Figuren sind mit dieser Kleinfamilie auf irgendeine Art und Weise verbunden. Edmund Faul erlebt im Roman im Alter von etwa 70 Jahren noch einmal eine entscheidende Wende in seinem Leben. Er beginnt ein Gespräch mit Wilhelm Rosinger, der im KZ die Ermordung von mindestens sieben Kindern verantwortet hat. Dafür war er im Gefängnis und ist zum Zeitpunkt des Romans wieder auf freiem Fuß.

In einem seltsamen Dialog von Täter und Opfer, ähnlich dem, was Dan Diner als negative Symbiose bezeichnet hat, entsteht auf drängende Initiative Frauls ein gegenseitiges Erzählen über Auschwitz. Beide erzählen sich ihre Erlebnisse und an manchen Stellen wird deutlich, dass sie (fast!) von gemeinsamen Erfahrungen sprechen müssen. Was hier im Gespräch geschieht, ist eine Katharsis, die schlussendlich beiden Figuren zu Teil wird. Rosinger fühlt eine tiefe Reue und bekennt sich vor Fraul zu seiner Schuld; Fraul weint später um den toten Rosinger und erlebt, wie sich lange verschüttete Gefühle mit dem Weinen einen Weg in sein Inneres bahnen. Anrührend, ja bestürzend wird von dieser Katharsis im Roman erzählt, die Fraul Frau und Sohn mit nie zuvor gekannter Wärme begegnen lässt.

Mindestens ebenso interessant wie die zweifellos Aufsehen erregende Geschichte um Fraul und Rosinger sind aber die Geschichten, in die die Nebenfiguren involviert sind. Rosa etwa ist eine stille Erdulderin ihres Schicksals, sie erträgt keinen Publikumsverkehr und arbeitet deshalb im Hinterzimmer der Buchhandlung, in der sie angestellt ist. Über sie wird wenig gesagt, und gerade deshalb ist sie geeignet, die Imaginationen der Lesenden umso mehr freizusetzen. Sie ist eine leidenschaftliche Leserin und spiegelt in dieser Lesewut die Geschichtenwut des Romans wider.

Ergänzt wird sie durch andere Figuren, deren Leben die Literatur ist: Paul Hirschfeld, eine vielleicht an Robert Schindel selbst angelehnte Figur, ein Lyriker, der zum spätberufenen Romancier avanciert, zudem Paula Grünhut und Paula Williams, zwei Schriftstellerinnen, die ihr Leben schreibend bewältigen (und an Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek denken lassen). Der Roman reflektiert sich in diesen Figuren des Lesens und Schreibens selbst, bleibt aber in dieser Selbstreflexion nicht stehen. Sie bleibt angedeutet und gerade das ist es, was sie so wirksam macht.

Letztlich geht es, wie in jedem großen Roman, um Verhandlungen über das Vorhandensein, die Reichweite und das gültig Bleiben der Liebe: Wenn Helen und Dolores etwa um Karl wetteifern, stellen sie bald ihre Eifersüchteleien ein und nehmen wahr, was ist, eine komplexe Art des Liebens, die nicht mehr besitzen will, sondern die Gegenwart der jeweils anderen einfach anerkennt. Im Roman stirbt die Figur der Margit einen frühzeitigen und sinnlos erscheinenden Tod, weil sie sich aufgibt, als sie ihr Liebesobjekt verabschieden muss. Schindel stellt hier zwei sehr verschiedene Liebesarten nebeneinander, die der besitzen wollenden Unbedingtheit, die ihr ganzes Leben mit dem Geliebten verknüpft und die eines leichteren Liebens, das im anderen eine Bereicherung, aber nicht den alleinigen Lebenssinn sieht.

„Der Kalte“ wäre aber kein Wien-Roman, wenn in ihm nicht über den Tod nachgedacht würde. Im Kaleidoskop der Geschichten wird Brahms „Ein deutsches Requiem“ zum Leitmotiv, es gemahnt an die zerbrechliche Vergänglichkeit des Menschen. So erhält zwar der Roman seine melancholische Grundsignatur, die aber nicht alles einfärbt, denn letztlich siegt das Erzählen über die Schuld, der entstandene Dialog zwischen Fraul und Rosinger reißt die gläserne Wand ein, die noch in „Gebürtig“, Schindels erstem großen Wien-Roman, die jüdischen von den nichtjüdischen Figuren getrennt hatte. Es gilt jetzt, die Notwendigkeit und kathartische Kraft des Erzählens zu behaupten und zu feiern: Aus diesem Grunde sind hier so viele Geschichten versammelt, damit der Tod nicht die Oberhand behält; das hat eine lange literarische Tradition.

Robert Schindels Roman setzt ein ganzes Mosaik an Geschichten zusammen und wird seinem Anspruch, die Geschichten einerseits zusammenzuhalten und andererseits die Erzählfäden aber auch gekonnt schießen zu lassen, gerecht, in dem er eine leichte, aber der Komplexität immer angemessene Sprache wählt. Die mitunter lyrische Dichte, die „Gebürtig“ auszeichnet, mag man hier mitunter vermissen, aber aufgewogen wird dies vom großen politischen Panorama, das in der Lage ist, deutliche Konturen seiner Akteure und Akteurinnen zu zeichnen. Im ,Gesums‘ der Geschichten geht man nicht verloren, sondern nimmt sie mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit der Caféhausbesucherin wahr: „Herr Ober, noch eine Melange bitte!“

Titelbild

Robert Schindel: Der Kalte. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
663 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423554

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch