Mehr als eine Modefibel

Jan Keupp zur sozialen Verweisfunktion von Kleidung im Mittelalter

Von Jörg-Christian KlenkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg-Christian Klenk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon in der Einleitung seiner knappen, aber informativen Monografie „Mode im Mittelalter“ macht Jan Keupp klar, dass er keineswegs eine historisch verbrämte Mode- oder gar Mitmachlektüre vorlegen möchte. Bereits das pointierte Eingangsbeispiel setzt den Fokus auf die soziale Verweisfunktion von Kleidung und Mode. Sogleich nimmt Keupp sein Publikum an die Hand und führt es innerhalb nur eines Absatzes vom Rummel eines zeitgenössischen Mittelalter(schau)marktes mitten ins 14. Jahrhundert hinein. Einmal im Mittelalter angekommen, verbleibt er dort die meiste Zeit; direkte Parallelen zur Jetztzeit werden zwar zwischendurch gezogen, Gegenwartsbezug ist aber zumeist durch die Lesenden selbst herzustellen.

Von 2008 bis 2009 war Keupp Leiter des DFG-Projektes „Die Hüllen des Selbst: Mittelalterliche Mode im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Norm und subjektiver Verortung“. Derart mit dem Thema vertraut, kann er für sein Buch aus einem breiten Wissensfundus schöpfen. Von Handschriftenminiaturen über die Stifterfiguren des Naumburger Doms bis zu konkreten mittelalterlichen Kleidungsstücken dienen Keupp praktisch sämtliche heute noch zugängliche Formen von Kulturgütern als Untersuchungsgrundlage. Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf sowohl literarischen wie nicht-fiktionalen Textzeugnissen. So wertet er einerseits Kleiderschilderungen der höfischen Epik oder Strophen Walthers von der Vogelweide aus, andererseits zieht er Chroniken ebenso wie städtische Kleidervorschriften und -erlasse zu Rate. Dazu kommen klerikale Vorschriften, die sich mit den jeweiligen Ordensrichtlinien befassen, vor allem aber dazu dienten, der Versündigung der nicht-klerikalen Bevölkerung durch Spottreden oder zur Nachahmung empfohlene Heiligenleben Einhalt zu gebieten. Diese unterschiedlichen Quellen bleiben erfreulicherweise nicht unverbunden nebeneinander stehen, da Keupp sowohl intra- wie auch intermediale Parallelen herausarbeitet, die verschiedenen (literarischen) Welten miteinander in Beziehung setzt und deren Spiegelungen aufzeigt.

Die Untersuchung gliedert sich in fünf Haupt- und zahlreiche Unterkapitel: Schutz, Scham, Schmuck – und Status, Die Autorität der Äußerlichkeiten, Die Mode und ihre Mechanismen, Das Mittelalter auf dem Laufsteg, Machtkämpfe im Zeichen der Kleidung, Epilog: Was vom Mittelalter übrig bleibt. Alleine der Umfang der Kapitel verrät schon den Schwerpunkt der Untersuchung, der mit über 50 Seiten klar bei der „Autorität der Äußerlichkeiten“ liegt. Die Gewichtung ist unmittelbar der Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft(en) und deren Mentalität(en) geschuldet, was unter der Formel der „Lesbarkeit der Welt“ zusammengefasst und wiederholt betont wird: Die stark ständisch gegliederte Gesellschaft war auf äußerliche Zeichen angewiesen; auf den ersten Blick musste erkennbar sein, ob das Gegenüber gleich, höher oder niedriger gestellt war. Gleichwohl führt Keupp zahlreiche literarische Zeugnisse an, die den aus Oberflächen geschaffenen sozialen Kitt hinterfragen, ja dazu aufrufen, sich entgegen den Konventionen zu verhalten.

Mode wurde also gerade im Mittelalter kritisch betrachtet, jedoch unter wesentlich weiter reichenden Vorzeichen als jenem eines schlechten Geschmacks. Die Mode dient Keupp somit eigentlich zur Beschreibung der mittelalterlichen Standesgesellschaft und zeichnet zugleich ein Bild der jeweils verbindlichen Normen und der davon abhängigen Lebensumstände. Kleidungs- und Stilfragen verhandeln letztlich Fragen des angemessenen Verhaltens und somit des Verhältnisses jedes Einzelnen zur Welt. Dies gilt nicht nur nach außen auf der Makro- sondern auch nach innen auf der Mikroebene, wenn in der bekannten Szene im „Iwein“ Kleidungs- mit Identitätsverlust einhergeht. Die Gewandung dient so als Spiegel innerer Zustände beziehungsweise des ganzen Wesens. Mit diesem Vorwissen gewappnet, wundert sich der Leser nicht mehr, dass die Obrigkeit öfters steuernd eingriff. Verdächtige Modeerscheinungen demonstrierten als äußeres Symptom die innere Hoffart beziehungsweise superbia, also die Todsünde des Hochmuts. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn Derartiges um sich griffe: Es galt nicht weniger, als das jüngste Gericht abzuwenden. Aller Obrigkeit zum Trotz zeigt das Beispiel des Schnabelschuhs, dass derartigen Verboten nicht immer Folge geleistet wurde. Die Zuwiderhandlung dessen darob schier bewegungsunfähigen Trägers mag dem auf dem Schlachtfeld Gestrandeten in seinen letzten Sekunden wie ein böses Omen vorgekommen sein.

Doch nicht nur geckenhaftes Auftreten war für den Einzelnen gefährlich: Wer Standeszeichen modisch mischte, musste laut Bernhard von Clairvaux in letzter Instanz im ewigen Feuer brennen. Die Androhung derart drakonischer Strafen lag weniger in der geschmacklichen Verwerflichkeit begründet als vielmehr in – Lesbarkeit der Welt – der Gefahr, die ständische und gesellschaftliche Ordnung ins Wanken zu bringen. Einschränkungen dieser Art machten auch vor den Herrschenden nicht Halt. Galt zwar die gesellschaftliche Elite als Trendsetter, war es deren Spitze implizit untersagt, modische Experimente einzugehen. Die Stabilität der Gesellschaft zeigte sich auch in der Stabilität ihrer Majestäts Garderobe.

Trotz der Betonung auf Statik und Normerhaltung darf man nicht der Täuschung unterliegen, die Mode hätte sich nicht gewandelt – im Gegenteil. Keupp ordnet grob den drei Phasen des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters eigene Modeströmungen zu, die sich ihrerseits in ständiger Bewegung befanden. Dies galt nicht nur für textile Moden. Gerade bei der unmittelbaren körperlichen Verschönerung gab es sowohl lautstarke Kritiker wie auch bekennende Befürworter und der Autor lässt beide Parteien zu Wort kommen. Mehr noch: Auch wenn Keupp seinem Versprechen, nicht etwa Schnittmuster referieren zu wollen, treu bleibt, gibt er in kosmetischen Belangen den einen oder anderen konkreten Schönheitstipp, natürlich abgestützt auf mittelalterliche Rezepturen. Wer keine Scheu davor hat, sich mit Quecksilber und – erheblich bekömmlicherer – Eselsmilch einzureiben, mag hier durchaus einige Kniffe dazulernen. So lockern zahlreiche eingestreute Anekdoten das Leseerlebnis auf und bringen einiges an Anschaulichkeit in die Schilderung mit ein. Kritische Reflexionen über die Begrenztheit der eigenen Methode und die Quellenlage runden die Darstellung ab.

Dem thematischen Fokus geschuldet, fallen magische Stoffe und deren wunderbare Herkunft (etwa in Helden- und höfischer Epik) fast vollständig aus der Untersuchung heraus. Dass die ökonomische Dimension kaum zur Sprache kommt, wiegt dagegen schwerer: Einige wenige Beispiele hätten hier einiges zur genaueren Einordnung in damalige gesellschaftliche Realitäten beigetragen.

Zudem hätte dem Band nicht nur aufgrund des größeren Erkenntnisgewinns die eine oder andere Farbabbildung gut gestanden, da die s/w-Bilder gerade im Vergleich zum farbigen Umschlag stark abfallen. Auch erweisen sich einige Bildnachweise als dürftig. Wer sich beispielsweise für die Herkunft der Miniatur auf S. 100 interessiert, wird sich wohl oder übel beim Autor persönlich erkundigen müssen, lässt sich als Angabe auf S. 160 doch nur „Archiv des Autors“ ermitteln. Überhaupt hätte der Verlag den Lesenden hier einige Blätterei ersparen können, ließen doch die Kommentare zu den ganzseitigen Abbildungen jeweils genügend Platz, einen Bildnachweis gleich an Ort und Stelle zu erbringen.

Dessen ungeachtet erfüllt der Titel alle Erwartungen, die sich mit dem Verlagsprogramm verbinden: „Mode im Mittelalter“ ist der verständlichen Wissensvermittlung auf hohem Niveau verpflichtet, was sich in der zugänglichen und dennoch präzisen Sprache niederschlägt. Der Autor präsentiert hier ihm zu Eigen gewordenes Wissen mit großer Leichtigkeit. Im Gegenzug dürften Kenner der 2010 erschienenen Habilitationsschrift Keupps, „Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters“, wenig Neues entdecken. Die kommentierte Kurzbibliografie (neun Druckwerke und zwei Websites) im Anhang berücksichtigt nebst der grundlegenden Arbeit von Elke Brüggen aus dem Jahr 1989 vor allem neueste Forschung zum Thema und wird Interessenten bei der weiteren Vertiefung ins Thema nützliche Dienste leisten. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist hier die Habilitationsschrift von Andreas Kraß, „Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel“, zu ergänzen.

Zusammenfassend: Der bei der Lektüre gewonnene Einblick geht weit über die Mode hinaus dahin, was mittelalterliche Gesellschaften im Innersten zusammenhielt. Insbesondere für Laien eine eindeutige Lektüreempfehlung.

„Mode im Mittelalter“ kann nebst der gebundenen Ausgabe auch als eBook im epub-Format sowie als von Martin Falk eingelesenes Hörbuch erworben werden.

Titelbild

Jan Keupp (Hg.): Mode im Mittelalter.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
160 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896788047

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