Anregung zum kreativen Nachdenken

Joschka Fischer und Fritz Stern begeben sich in dem Band „Gegen den Strom“ ins Gespräch über Geschichte und Politik

Von Maite Katharina KallweitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maite Katharina Kallweit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei kritische, genau beobachtende Geister treffen sich zum Gespräch über Geschichte und Politik, genauer über historische Entwicklungslinien und politische Kräftefelder: In der Begegnung pflegen der amerikanische Historiker Fitz Stern und der deutsche Politiker Joschka Fischer eine Gesprächskultur, die in Zeiten polemisch zugespitzter TV-Debatten und spontan-knapper, entpersonalisierter Netzäußerungen die Produktivität gegenseitig interessierten Zuhörens und Nachfragens vorführt.

Dabei gewinnt die Gesprächsform gerade durch die asymmetrische Konstellation der Dialogpartner an Reiz. Hierdurch gelingt es nicht nur, aus der Perspektive zweier Generationen etwa auf den für die Demokratisierung in Deutschland bedeutsamen Generationenkonflikt zu blicken, sondern die Sichtweise des deutschen Europäers kreuzt sich mit der des Amerikaners deutscher Herkunft, die wissenschaftliche Analyse des Historikers wird mit dem Handeln des Politikers konfrontiert. Das Gespräch auf Augenhöhe mit gleichgewichteten Redeanteilen unterscheidet sich insofern vom Interview, in dem Positionen weniger verhandelt als behauptet werden. Selbst in der Buchform ist dem Gesprächsfluss gut zu folgen, der von der Kapiteleinteilung kaum aufgehalten wird. Die Redaktion verantwortet Thomas Karlauf, der die im Mai 2012 stattfindenden Gespräche offenbar behutsam zu moderieren verstand. Der aus den Mitschriften entstandene Text liest sich als fortlaufender Dialog, der von inhaltlich hergestellten Verbindungen, Anekdoten und Assoziationen, persönlichen Erinnerungen und Fragen der Gesprächspartner getragen wird. Die Kapitelüberschriften dienen somit kaum der Abgrenzungen einzelner Abschnitte, sondern verweisen lediglich auf den umfangreichen Themenkatalog, der von Immigrationserfahrungen, Aufarbeitungsprozessen und verfehlten „Schlussstrich“-Forderungen über die Zukunft Israels in der arabischen Welt bis hin zur krisenhaften Situation Europas und der beängstigenden Frage nach der Regierbarkeit Amerikas reicht.

Der Titel „Gegen den Strom“ bezeichnet weniger das zum Nachdenken anregende Buch selbst als die beiden Sprechenden, denen eine langjährig erprobte kritisch-unangepasste Haltung gemein ist. Obwohl konkrete politische Handlungsmöglichkeiten erfragt und aufgezeigt werden, etwa hinsichtlich der deutschen Außenpolitik im Nahostkonflikt, überwiegt die scharfsinnige Analyse historischer Prozesse sowie der aktuellen politischen Dynamik. Stern und Fischer erklären Parallelen beziehungsweise Differenzen im Auftreten ebenso wie in der Selbstwahrnehmung ihrer Länder.

Als kenntnisreich profilieren sich die Gesprächspartner insbesondere, indem sie lokale Ereignisse kontextualisieren. Die vielfältige Auffächerung der Perspektiven ermöglicht es, Aspekte des kulturellen Wandels, den innen- und außenpolitischen Staus quo sowie Ausblicke in den globalen Zusammenhang zu stellen. Dabei wird grundsätzlich weder Vergangenes noch Zukünftiges geschönt, vielmehr schrecken die hellsichtigen Diagnostiker auch nicht vor Worst-Case-Szenarien zurück. So bezeichnet Fischer beispielsweise eine mögliche militärische Eskalation im Nahen Osten, die er als realistisch einstuft. Stern schaut mit Sorge auf die korrupten und propagandistischen Tendenzen in den USA: Anstelle einer öffentlichen Diskussion herrsche ein Kulturkampf mit ungleichen Mitteln, hinzu kämen Bildungs- und Informationsferne, die Stern in Ermangelung eines besser passenden Begriffs als „Verdummung“ bezeichnet, die Ablehnung des Staates und die Macht des Geldes.

Anders als es die Formulierung „gegen den Strom“ nahelegt, bewegen sich die Gesprächspartner nicht geradlinig. Stern und Fischer legen sich auf keine Richtung fest, sondern positionieren sich differenziert zum jeweiligen Diskussionsgegenstand. Urteile werden folglich in der Sache und nicht pauschal gefällt, sodass etwa Angela Merkels Europapolitik scharf kritisiert, ihr Auftreten gegenüber Israel jedoch befürwortet werden kann. Dieser differenzierenden, kontextabhängigen Betrachtungsweise entsprechend bestehen beide auf sprachliche Genauigkeit, Begriffe wie „Multikulturalismus“ werden präzise verwandt.

Hier diskutieren zwei Persönlichkeiten, respektvoll und durchaus mit Lust an der Kontroverse, die verstehen und erklären wollen, die sich überzeugen lassen, Positionen verteidigen und revidieren. Der Leser merkt auf und erkennt Zusammenhänge, er lässt sich informieren über Hintergrundgespräche oder sieht Bekanntes eventuell in neuem Licht. Auch wenn die Redner ihren intellektuellen Horizont nicht bedeckt halten, gelingt es ihnen, dank der Form eines offenen Gesprächs, nicht belehrend zu erscheinen. Nach „Unser Jahrhundert“, dem 2011 in Textform erschienenen Dialog mit Helmut Schmidt, verheißt dieses zweite Gesprächsbuch Fritz Sterns die erhellende Lektüre folgender Begegnungen.

Titelbild

Fritz Stern / Joschka Fischer: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645532

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch