40 Thesen über einen ausländischen Vater
Aris Fioretos entdeckt in seinem „Buch über einen Vater“ ein lange gehütetes Geheimnis
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas wissen die Söhne von ihren Vätern? Oft nicht viel, und wenn es sie zu interessieren beginnt, sind die Väter meist schon tot. In seinem berührenden Vater-Buch „Die halbe Sonne“ gelobt ein Sohn in der Aufbahrungshalle, nicht vergessen zu wollen, „was er sieht, als er den Vater zum letzten Mal sieht“. Die wenigen Dinge um sich herum kritzelt er auf die herausgerissene Seite eines Gesangsbuches: „4 Wände, keine Fenster / 2 Türen / Ziegelsteine, rot und unübersichtlich…“ Hinzu kommen ein paar unsortierte Gedanken. „Bevor der Sohn das rote Zimmer verlässt, denkt er, dass der Vater auch aus Mythen bestand.“
Diesen Mythen forscht Aris Fioretos in seinem Buch „Die halbe Sonne“ nach. Er konsultiert dafür keine Archive, er durchforstet keine Nachlässe oder Fotoalben, die Rekonstruktion folgt Bildern aus dem Gedächtnis, und demnach aus dem poetischen Empfinden und Vermuten des Autors. Vom Naheliegenden ausgehend wagt er den Blick in eine Ferne, die Vergangenheit ist. Dem Blick folgt die Schrift. Fioretos’ Rekonstruktion eines Lebens zielt auf die Wiederherstellung eines zuletzt dementen und hinfälligen Menschen. In kurzen, anekdotischen Kapiteln erzählt das Buch rückwärts auf der Lebenslinie, um am Ende den Vater mit seiner Vitalität und Lebenslust nochmals aufleben zu lassen. Er war einst ein starker Mann, der die Emigration bestanden hat. Dabei wird dem Sohn bewusst, „dass der Vater seine eigene Geschichte ungern erzählt“ hat. Die Erinnerung hat viele Türen, sagte er einmal, und nicht alle brauchen geöffnet zu werden.
Fioretos’ Buch macht uns zu Zeugen einer umgedrehten Migrationsgeschichte, die in groben Zügen an jene aus seinem Roman „Der letzte Grieche“ von 2011 erinnert. Auf der Zeitachse berichtigt ließe sie sich wie folgt skizzieren. Ein 16-Jähriger verlässt 1947 sein Dorf, um in Athen das Gymnasium abzuschließen und danach als mutmaßlicher Anarchist aus Griechenland zu fliehen, nach Wien, Paris, Schweden. Hier studiert er Medizin, heiratet eine österreichische Kunststudentin und arbeitet als Arzt. 1960 wird sein Sohn geboren. Weil er seine Arbeitsstellen in kurzen Zeitspannen immer wieder wechselt, ist das Familienleben durch unzählige Wohnortwechsel geprägt. Gegen Ende kehrt er im besten Alter nach Griechenland zurück, um eine Klinik aufzubauen. Nach längerer Krankheit stirbt er hier im Alter von 79 Jahren.
Diese Lebenslinie gerät im „Rückwärtsgesang“ des Sohnes – „zurück zu der Zeit, bevor du Papa wurdest“ – aus den Fugen der Chronologie. Fioretos zeichnet das Bild eines glücksbegabten Menschen, der auch mit dem schwedischen Pass im Herzen Grieche blieb. Seine sprühende Spielernatur ließ ihn zuweilen die eigenen Möglichkeiten überschätzen, doch für ihn blieb „das Mögliche Teil des Wirklichen“. Warum es also nicht versuchen? war seine Devise. So bleibt im Gedenken die Erinnerung an einen Papa zurück: „Vater kann irgendein beliebiger Mann sein, ,Papa‘ nur eine Person. Das Wort versichert, dass er noch da ist“. In einem der eingestreuten postumen Dialoge zwischen Vater und Sohn stimmt der „Gesterbte“ zu: „Es gibt nichts Besseres“ als Papa.
Darüber zu schreiben erweist sich allerdings als schwierig und tückisch. „Der Sohn hat keine Ahnung, wie er mit den unsichtbaren Vorgängen im Vater umgehen soll. Schließlich stellt er sie sich wie Tropfen vor, die auf Papier fallen, es allmählich aufweichen.“
Auf diese Weise gelingt Fioretos ein schillernd lebhaftes Vaterbild, Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen – auch wenn der „Gesterbte“ einwendet, dass er selbst nicht diese Steinchen, „sondern die Fugen zwischen ihnen“ gewesen sei. Der Sohn erweist ihm seine Reverenz, indem er gänzlich davon absieht, objektiv oder schlüssig sein zu wollen. Sein väterliches Lebensbild bleibt auf schillernde, und humoristische Weise widersprüchlich und unfertig. Zurück in die Zeit, bevor er Vater gewesen sei, erklärt der Sohn, und dreht noch eine Umdrehung weiter zurück, um ungeplant einer der verschlossenen Türen ein Stück weit aufzustoßen. Er entdeckt das väterliche Geheimnis. Die wiederholt gestellte Frage, warum der Vater sein Heimatdorf fluchtartig verlassen habe, erhält auf einmal eine Antwort. Genauer: eine mögliche Antwort, die selbst den „Gesterbten“ überrascht: „Es scheint, als wüsstest du mehr über mich als ich.“
Diese Wendung am Schluss verleiht der Vaterfigur eine berührende neue Facette. Der Versuch des Sohnes, den gebrechlichen Vater im Gedenken zu revitalisieren, hat den Effekt, dass dieser am Ende zwar heil, aber dennoch beschädigt erscheint. Jeder Mensch ist ein Rätsel. Warum, fragt der Sohn, „soll ein Mensch kein Labyrinth sein dürfen?“
Unter diesem Blickwinkel wird erst recht erkennbar, wie klug Aris Fioretos seinen poetischen Versuch einer Annäherung an den Vater ausgearbeitet hat. Transparent und subtil streut er Zeichen, Motive und Bilder aus, die am Ende untrüglich ihre Evidenz verraten. Die lose Textstruktur fügt sich harmonisch zu einem Ganzen, das Festigkeit besitzt und zugleich etwas schillernd Unfertiges behält. Auf diese Weise erzählt „Die halbe Sonne“ eindrücklich auch das halbe Leben des Sohnes – die andere mütterliche Hälfte wäre eine neue Geschichte.
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