Jazz im Winter

Der Berliner Autor Tobias Premper bewegt sich zwischen Genialität und Unsinn

Von Tobias GrüterichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Grüterich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren sind mehrere Bücher erschienen, die sich in ihrem Entstehungsprozess und in ihrer öffentlichen Wahrnehmung stark ähneln: Ein Autor füllt fleißig ein Notizbuch nach dem anderen und denkt zunächst gar nicht an eine Veröffentlichung. Irgendwann entscheidet er sich um und schickt den „Nachlass zu Lebzeiten“ (Robert Musil) an seinen Verleger. Dieser ist vom Manuskript hellauf begeistert, fast unverändert gibt er es in den Druck. Das Buch, möglichst lapidar betitelt, wird mindestens lobend, häufig gar frenetisch besprochen.

Die „Theorien“ von Martin Seel (2009), die „Notizhefte“ von Henning Ritter (2010), die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen von Harald Hartung, 2012 unter dem Titel „Der Tag vor dem Abend“ veröffentlicht, und schließlich Tobias Prempers Band „Das ist eigentlich alles“ (2012): vier typische Beispiele für nebenher entstandene, vielschichtige Sammelsurienbände, die von der Kritik gefeiert wurden. Heterogenität scheint ein Wert an sich zu sein – unabhängig davon, ob das jeweilige Resultat insgesamt eher philosophisch geprägt ist (Seel, Ritter) oder sich als poetisches Werk versteht (Hartung, Premper).

Premper, der jüngste dieser vier Autoren, ist zu einer großen Bandbreite fähig. Mehrere Notizen begnügen sich mit einer Zeile; eine Anekdote fast am Ende übersteigt den Umfang einer Seite. Es dominiert jedoch die knappe, meist etwa zwei bis sechs Zeilen umfassende Prosaminiatur. Gelungenes und Verschrobenes, eigenständig Gedachtes und bloß als Lesefrucht Herbeizitiertes, Genialität und grober Unfug – ein wohlwollender Kritiker wird hier genauso fündig wie ein gehässiger. „Au au au au au au au Autor“, notiert Premper und wie ein Kommentar heißt es kurz darauf: „Ich war in Höchstform, was Unsinn reden betraf. Das ging so weit, dass ich mich bald selber lächerlich fand.“

Was ist davon zu halten oder von einem lauen Blasphemieversuch wie „Gott macht sein Ding. Ich mach meins“? Demselben Autor gelingt nämlich eine abgründige Kürzestprosa, die den Vergleich mit Hemingways Sechs-Wort-Story („For sale: baby shoes, never worn.“) nicht zu scheuen braucht: „Unterhalb einer Brücke stand ein Mann und pinkelte gegen einen leeren Kinderwagen. Daneben stand eine mit Erde verschmierte Schaufel an der Mauer.“

Einige Notizen beginnen auf hohem Niveau: „Ein kleiner dunkler Mann schleppte einen viel zu großen Koffer über die Straße, und es sah so aus, als würde der Koffer nicht ihm gehören, sondern jemand anderem, und dann stand da ein Polizist an der Ampel und er trug seine Uniform so, als hätte er sie geklaut“, so weit so gut, aber diese Geschichte endet wie folgt: „und ich hatte Lust, von diesen beiden Figuren ausgehend eine Geschichte zu denken“. Schade! Eine solche Absichtserklärung mag zwar avantgardistischer sein als eine (vor)modern vollendete Erzählung, dennoch fragt sich der Leser, weshalb ihm dies mitgeteilt wird.

Während der Lektüre des Bandes, der aus 17 Notizbüchern der Jahre 2004 bis 2010 zusammengestellt wurde, staunt man, wie viele Namen einem begegnen. Ein Register wäre durchaus angebracht gewesen. Unter den Schriftstellern sind Peter Handke, Franz Kafka, Albert Camus, Fernando Pessoa und John Steinbeck häufige Bezugspunkte. Insbesondere an Handkes Journalbänden, aus denen fleißig zitiert wird, scheint sich Premper zu orientieren. Aber auch Schauspieler oder Regisseure wie Werner Herzog, François Truffaut und vor allem Jean-Luc Godard finden bei jeder denkbaren Gelegenheit Erwähnung – und sei es nur, dass ein alter Mann am Fenster eines Cafés vorbeigeht und Letztgenanntem ähnlich sieht. Alle großen Jazzmusiker sind vertreten, und auch weniger etablierte können sich freuen, nicht zu fehlen. Welchen Sinn hat es aber, den Namen Nils Wogram ohne weitere Erläuterung einfach acht Mal untereinander zu drucken? Außerdem könnte man unzählige geografische Eigennamen verschlagworten. Keine der kulturell oder intellektuell angesagten Metropolen fehlt. New York und Paris überragen selbstverständlich alles. Wenn Premper das Bedürfnis hat zu spucken, dann nicht einfach auf das heimische Gehwegpflaster des Prenzlauer Berges, sondern gleich auf die Champs-Élysées, denn „etwas Besseres fiel mir nicht ein“. Und bei einem seiner selbst gemalten Bilder ist er überzeugt, „es eines Tages im Museum of Modern Art zu sehen“.

Dieser ostentative Kosmopolitismus liegt im Trend und darf sich der Gegenliebe des Feuilletons sicher sein: in den schlechteren Fällen trotz der ironischen Brechung, in den besseren dank ihrer. Ist das Buch also ein ungewolltes Zeit- oder Zeitgeist-Dokument? Premper wäre nicht Premper, wenn er sich auf postmoderne Moden reduzieren ließe. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, schlüpft er in die Rolle des wachen Chronisten: zum Beispiel wenn er im Vorbeigehen Sprachverirrungen wie „mein subjektives Gefühl sagt mir“ aufschnappt und satirisch bedenkt. Zur großen Form läuft er auf, wenn eine Alltagsbeobachtung das analoge Zeitalter evoziert, dessen Spätphase der 1974 geborene Autor als Kind und Jugendlicher noch miterlebte: „Ein total zerstörtes Panasonic-Kofferradio lag auf dem Gehsteig und ich schaute am Haus nach oben und fragte mich, aus welchem Stock es wohl gefallen sein mochte, aus welchem Stock es sich wohl gestürzt hatte, es sah doch alles nach einem klaren Fall von Selbstmord aus.“

Zum Ende hin gewinnen die Notizen qualitativ hinzu. Als Inspirationsquelle für suggestive Metaphern erweist sich der Winter: „Ein altes Sofa steht am Straßenrand zwischen parkenden Autos. Schöner weißer Bezug aus Schnee. Ich nehme eine Handvoll und forme ein Bällchen daraus, das ich in eine Pfütze fallen lasse. Langsam saugt der Schnee das schmutzige Wasser in sich auf, bis alles Weiß verschwunden ist.“

Einer Rezension im Tagesspiegel war zu entnehmen, dass nur ein Viertel der Notizen ungedruckt blieb. Bei einem möglichen Nachfolgeband sollte eine strengere Auswahl erwogen werden. Zu hoffen bleibt, dass Autor und Verlag den Titel „Das ist eigentlich alles“ nicht wörtlich meinen.

Titelbild

Tobias Premper: Das ist eigentlich alles.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
287 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869303925

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