Keine Prinzessinnen für Philosophen

Vittorio Hösle legt eine „Kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ vor

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dreizehn konzentrierten Kapiteln stellt der in den USA lehrende Vittorio Hösle deutsche Philosophen seit Meister Eckhart und Nikolaus von Kues bis hin zu Jürgen Habermas und Hans Jonas vor. Über die Auswahl der behandelten Philosophen lässt sich selbstverständlich trefflich streiten, und dass es überhaupt problematisch ist, von deutscher Philosophie zu sprechen, weiß Hösle sicherlich besser als jeder andere und beschäftigt sich deshalb im einleitenden ersten und im abschließenden fünfzehnten Kapitel mit dieser Thematik. Kriterien für seine Auswahl sind zunächst die Qualität des Werkes ohne Ansehen der philosophischen Richtung sowie der Gebrauch der deutschen Sprache. Auch sind ihm Querverbindungen zur politischen Geschichte wichtig, womit der Verstoß gegen das erste Kriterium, also die Behandlung von einigen wenigen eher zweitrangigen Philosophen, erklärt wäre. Gegen das zweite Kriterium verstößt er bereits in seinem ersten Kapitel, denn der Kusaner hat nicht auf Deutsch publiziert.

Hösles große Stärke ist die Fähigkeit, die Argumentation eines philosophischen Werkes in wenigen Worten nachzuzeichnen, auch wenn es noch so komplex und anspruchsvoll ist. Bei Kant, den deutschen Idealisten oder auch dem von ihm vehement abgelehnten Heidegger sind ihm klar gegliederte, energisch argumentierende Kapitel gelungen, die nicht allein die Systematik eines bedeutenden philosophischen Werkes darstellen, sondern dazu auch noch das geistesgeschichtliche Umfeld abbilden. Für seine umfassende Belesenheit wie für seinen Blick für die Architektonik großer Werke kann man ihm nur Bewunderung zollen. Seine Darstellung von „Sein und Zeit“ steht in ihrer Klarheit fast konkurrenzlos da, und Ähnliches gilt für die Interpretation der Hauptwerke Hegels.

Eine andere Stärke Hösles ist seine Bereitschaft auch zur Polemik, die zum ersten Mal in seinem neunten Kapitel zum Tragen kommt, das Feuerbach und Marx gewidmet ist, zwei Autoren, die zweifellos nicht neben Heroen wie Kant oder Hegel bestehen können. Feuerbach wirft er vor, „unphilosophisch“ zu argumentieren, weil er „die metaphysischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Voraussetzungen seiner eigenen Weltanschauung nirgends expliziert“, und bei Marx stellt er fest, dass die „philosophischen Schwächen des Ansatzes unübersehbar“ sind. Aber trotz aller berechtigten Kritik an Feuerbach und Marx möchte man gerade diese Passagen nicht missen, weil es Hösle gelingt, dem vielfarbigen, widersprüchlichen und eben auch manchmal sehr anregendenden Werk von Marx gerecht zu werden. Seine temperamentvolle Darstellung scheut zwar niemals vor Kritik zurück, aber er weiß sehr wohl auch die Stärken dieses Autors zu würdigen.

Hösle steigert sich noch einmal in einem furiosen Nietzsche-Kapitel. Er kann Nietzsche nicht leiden und wirft ihm, wie schon zuvor Feuerbach und Marx, mangelhafte philosophische Technik vor. Zu diesem Manko kommen dann Kenntnisse der Philosophiegeschichte, die mit lückenhaft noch euphemistisch umschrieben sind, denn eigentlich hatte Nietzsche außer Schopenhauer keinen der Großen gelesen, was ihn selbstverständlich nicht an seinen apodiktischen, meist abwertenden Urteilen hinderte. Trotz dieser objektiven Mängel und seiner subjektiven Abneigung (und eben dies macht die Lektüre des Kapitels so spannend) findet Hösle eine ganze Reihe beachtenswerter Punkte. So wird er gerade in seiner temperamentvollen Polemik Nietzsche viel eher gerecht als dessen blinde Verehrer. Er hebt die Gedanken des Frühwerks hervor, insbesondere der Aphorismen aus „Menschlich, Allzumenschlich“, nennt den „Zarathustra“ Nietzsches „kitschigstes Buch“ und findet, dass die Spätschriften nur noch „ein Potpourri seiner markttauglich radikalisierten Lieblingsthesen“ sind. Schließlich sieht er, was in akademischen Arbeiten zu Nietzsche nicht allzu häufig geschieht, eine Kontinuität zwischen seinen radikalen Sprüchen und der nationalsozialistischen Menschenverachtung.

Ähnlich entschieden lehnt Hösle Heideggers Philosophie ab. Immer wieder wird (und wohl auch mit Recht) betont, dass man nicht „Sein und Zeit“ geschrieben zu haben brauchte, um ein Nationalsozialist zu werden. „Aber das Heimtückische des Werkes“, so Hösle, „besteht darin, daß es durch seine Umdefinition von Begriffen wie Gewissen und Schuld den traditionellen moralischen Sinn untergräbt und sehr deutlich zu verstehen gibt, Entschlossenheit, wofür auch immer, sei das einzige, worauf es ankomme.“ Anders als die meisten Historiker der neueren Philosophie greift er in diesem Zusammenhang auch den logischen Positivismus an, dessen Vertreter zwar größtenteils der politischen Linken nahestanden, die aber gleichwohl durch ihre Lehre, „die Sätze der Ethik seien nur subjektiv“, in seiner Sicht zur Schwächung der sittlichen Haltung beitrugen. Hier wie auch sonst macht Hösle deutlich, dass seine Argumentation sich dem Christentum verpflichtet fühlt.

Ein echter Mangel ist das Fehlen eines Kapitels über die (trotz Henri Bergson) einzige wirklich deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts, für deren Namen es bis heute noch keine englische Übersetzung gibt, die Lebensphilosophie. Zur Lebensphilosophie zählen so bedeutende Denker wie Georg Simmel, Hans Driesch oder Ludwig Klages, und sie hat große Autoren wie Max Scheler und Helmuth Plessner oder in Spanien José Ortega y Gasset beeinflusst. Aber bereits von Wilhelm Dilthey, den er immerhin kurz behandelt, hält Hösle nicht gar so viel. Klages wird an einer einzigen Stelle erwähnt, wenn im Zusammenhang mit ihm der Lebensphilosophie klischeehaft vorgeworfen wird, „trotz ihrer nicht unberechtigten Revolte gegen eine zu starke Rationalisierung der Gesellschaft eine romantisierende Fluchtbewegung“ zu sein. Neben der Lebensphilosophie vermisse ich auch andere Größen der ersten Jahrhunderthälfte, vor allem Ernst Cassirer und Nicolai Hartmann, und in unserer Zeit wäre es vielleicht nicht ganz unangebracht gewesen, etwas weniger ausführlich die Frankfurter Schule und statt dessen die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz darzustellen.

An wen richtet sich dieses Buch? In seiner Einleitung schreibt Hösle, dass sich sein Buch „nicht primär an ein fachphilosophisches, sondern ein allgemein bildungsbürgerliches“ Publikum wendet, aber im letzten Kapitel hat er das schon wieder vergessen, denn er gibt selbst zu, dass „das Bildungsbürgertum weggeschmolzen“ sei. Wenn das stimmt, hat er für ein Publikum geschrieben, das nicht mehr unter uns weilt. Viele „Prinzessinnen“, schreibt er etwas melancholisch und denkt dabei an Leibniz, dem es so viel besser ging als ihm, „sind als potentielle Leserinnen nicht mehr übriggeblieben“. Aber ohnehin muss man gelegentlich fürchten, dass auch ein Bildungsbürger kapituliert hätte. Es werden sich beispielsweise nicht gar so viele Leser finden, die etwas mit dem kompatibilistischen oder gar inkompatibilistischen Freiheitsbegriff anfangen können, die der Autor ohne jede Erläuterung benutzt. Ähnlich kryptisch wird jeder, der nicht über ein gewisses Fachwissen verfügt, diese Bemerkung finden: „Pointiert kann man sagen, daß begründungstheoretisch bei Kant der kategorische Imperativ ein funktionales Äquivalent des ontologischen Gottesbeweises bei Leibniz ist.“ Aber derartige Stellen sind Ausnahmen, denn in aller Regel schreibt der Autor sehr klar und verständlich.

Für Vittorio Hösles lesenswerte Geschichte der deutschen Philosophie sollten wohl weniger die ohnehin nicht mehr auffindbaren Bildungsbürger als vielmehr Studenten dankbar sein. Die meisterhaften Zusammenfassungen und meinungsfreudigen Bewertungen der wichtigsten philosophischen Werke der deutschen Literatur, die dieses Buch bietet, geben ein sehr gelungenes Studienbegleitbuch ab.

Titelbild

Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
320 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406648649

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